Der Triumph des Westens Zurück in die Zukunft

Der Kalte Krieg ist mit dem Untergang der Sowjetunion unwiderruflich vorbei - und zugleich in vielerlei Form präsent. Denn die wirtschaftliche und politische Erbmasse der Ära totaler Konfrontation prägt heute sowohl die USA wie Russland und China.
Von Bernd Greiner

Mission Accomplished - es liegt hinter uns: Am 28. Januar 1992 verkündete Präsident George Bush senior in seiner Rede zur Lage der Nation den Sieg des Westens im Kalten Krieg. Und unter Historikern ging die Rede vom "Ende der Geschichte" um, vom Triumph der liberalen Demokratien und vom damit auf Dauer gestifteten Frieden.

Sieben Monate zuvor war der Warschauer Pakt aufgelöst worden, die ehemaligen Vasallen der UdSSR bereiteten ihre Aufnahme in die EU oder Nato vor, Hunderttausende Soldaten wurden aus der Mitte Europas abgezogen, die nuklearen Waffenkammern sollten entrümpelt und bis zum Jahr 2003 auf ein Drittel ihres vormaliges Bestandes reduziert werden. Und vor allem hatte die Welt am 31. Dezember 1991, 20 Uhr Moskauer Zeit, eine symbolträchtige Kapitulation erlebt: Als die Fahne mit Hammer und Sichel über dem Kreml eingeholt und die weiß-blau-rote Trikolore der Russischen Föderation aufgezogen wurde, gehörte der 1922 geschlossene Unionsvertrag endgültig der Vergangenheit an. Und mit ihm der Anspruch und die Überzeugung, dass am Ende eines verdienten Sieges überall auf der Welt die roten Banner der Befreiung wehen würden.



Von der Selbstgewissheit der neunziger Jahre ist wenig geblieben. Sie hat sich in den Jahren des "Kriegs gegen den Terror" verschlissen, scheint blamiert angesichts der ständigen Reibereien zwischen den USA, Russland und China und ist einem dumpfen Gefühl der Selbsttäuschung gewichen - ablesbar an der wiederholt geäußerten Sorge vor einem neuen Kalten Krieg.

Einem bekannten Bonmot zufolge wiederholt Geschichte sich nur als Tragödie oder als Farce. Aber es gibt historische Epochen, die nachhaltige Spuren hinterlassen und in den Tiefenstrukturen des politischen wie gesellschaftlichen Lebens überdauern. Gerade darin liegt ihre Einmaligkeit: im Unwiederholbaren einerseits und im hintergründigen Weiterleben andererseits.

Der Kalte Krieg zählt zu diesen einmaligen Perioden. Er ist in vielerlei Gestalt noch immer präsent und zugleich unwiderruflich vorbei:

Wortkriege

Einzigartig ist und bleibt der Kalte Krieg wegen seiner ideologischen Kampflinien.

Nicht nur östlich des Eisernen Vorhangs glaubte man, die überlegene Weltanschauung und Gesellschaftsordnung zu besitzen, die der ganzen Welt Vorbild sein sollten. Auch der Westen definierte seit 1947 seine Politik als Auseinandersetzug um das Ganze.

Selbst in Zeiten der Entspannung machten beide Seiten nur bedingt Abstriche. "Friedliche Koexistenz" wurde nicht als Dementi des Antagonismus begriffen, sondern als Fortsetzung der weltweiten Konfrontation mit anderen Mitteln. Ob offen oder hintergründig, stets blieb die Vorstellung präsent, dass ein Mehr an Sicherheit die globale Multiplikation des eigenen Gesellschafts- und Ordnungsmodells voraussetzte. Und dass letztlich das eigene Überleben nur gewährleistet war, wenn die andere Seite bedingungslos kapitulierte. Sprich: sich den im Grundsatz anderen Way of Life des Gegenübers zu eigen machte.

Wer aber um absolut Gesetztes streitet, redet einer "totalen Politik" das Wort.

Die totale Politik macht keinen Unterschied zwischen äußerer und innerer Bedrohung und verflüssigt ehedem klar gezogene Grenzen zwischen Zivilem und Militärischem. Sie erhebt Loyalität, Gefolgschaft und Homogenität in den Rang politischer Primärziele und ist vor vor allem der inneren Mobilmachung verpflichtet. Eben darum ging es - Ost wie West - im Kalten Krieg: den weltanschaulichen Alleinvertretungsanspruch mittels einer Indienstnahme aller gesellschaftlichen Bereiche durchzusetzen. Ob Ökonomie, Wissenschaft, Technologie oder Kultur, keine Lebenswelt blieb ausgespart.

Blockbildung


Washington und Moskau mobilisierten auch jenseits der eigenen Landesgrenzen politisch, logistisch und machtpsychologisch unverzichtbare Ressourcen - mittels ausladender Bündnissysteme, die historisch ihresgleichen suchen.

Ohne Nato und Warschauer Pakt, ohne die Central Treaty Organization (Cento) im Nahen und Mittleren Osten sowie die Seato (Southeast Asia Treaty Organization) hätte die Geschichte einen ganz anderen Lauf genommen.

Gewiss kann von einer konfliktfreien Kooperation keine Rede sein. Moskau musste Loyalität mittels militärischer Intervention wiederholt erzwingen. Und auch Washington konnte sich seiner Gefolgschaft nicht immer gewiss sein. Angesichts der mit Großbritannien, Frankreich, Kanada oder den kleineren Nato-Partnern ausgetragenen Konflikte um den richtigen Kurs in der Deutschland, Nahost-, Indochina- oder Rüstungskontrollpolitik wundert man sich rückblickend über den langen Zusammenhalt des westlichen Kernbündnisses.

Doch der Kalte Krieg hatte die Bündnisse nicht nur auf den Weg gebracht. Er war zugleich Garant ihrer Langlebigkeit, geprägt von der Neigung der Supermächte, Spannungen als Mittel zum Zweck der Blockdisziplinierung zu nutzen, wenn nicht vorsätzlich zu schüren - vorab die allseits grassierende Angst vor einem Atomkrieg. Folglich geriet das Angebot, unter den beiderseits der Zentralfront aufgestellten Atomschirmen Schutz vor der vermeintlichen Unberechenbarkeit des Konkurrenten zu suchen, zur stärksten politischen Währung der Zeit.

Atomare Diplomatie


Auch und gerade auf diesem Terrain zeigt sich das Besondere, wenn nicht Einmalige des Kalten Krieges: die in West wie Ost praktizierte atomare Diplomatie.

Einerseits hatten Atom- und Wasserstoffbomben mitsamt den zugehörigen Trägersystemen den Krieg als Mittel der Politik entwertet: Der Sieg über den Feind war nur um den Preis der eigenen Auslöschung zu erreichen.

Andererseits wurden Nuklearwaffen als Mittel zur Ausweitung und Projektion von Macht begriffen. Beide Seiten hatten es auf eine Schärfung der stumpfen Waffen angelegt und trachteten danach, aus dem militärisch Wertlosen politischen Mehrwert zu schlagen. Folglich erklärten die USA wie die UdSSR ihren Aufstieg in eine höhere Gewichtsklasse und gingen weltweit Verpflichtungen ein, die sie sich bei konventioneller Bewaffnung schwerlich hätten leisten können. Daher rührt die propagandistische Karriere des Adjektivs "vital". Selten kam die Rede über angeblich "lebenswichtige Regionen" derart penetrant zum Zuge wie im Kalten Krieg.

Im Grunde hatten sich beide Seiten in eine Zwangslage manövriert. Sie sahen sich genötigt, ihren neuen Status kontinuierlich zu beglaubigen. Und zwar auf eine Weise, die mit dem traditionellen Streben aller Großmächte nach Glaubwürdigkeit kaum mehr etwas gemein hatte. Denn die Bedenken, als schwach und unzuverlässig wahrgenommen zu werden, wuchsen sich während des Kalten Krieges zu einer Obsession aus. Und der Kampf um die wichtigste psychologische Ressource der Macht geriet im Schatten der Nukleararsenale zu einem psychologischen Abnutzungskrieg.

Weltmacht konnte man dieser Logik zufolge nur sein, wenn die Angst vor der Bombe nicht als Verängstigung in Erscheinung trat, wenn man bereit war, allen Risiken zum Trotz Gleiches mit Gleichem zu vergelten. So wollte der amerikanische Außenminister John Foster Dulles sein in den fünfziger Jahren vielzitiertes Diktum über Staatskunst im Atomzeitalter verstanden wissen: sich im Zweifel dem Abgrund zu nähern, ohne zum Äußersten entschlossen zu sein, aber die andere Seite im Unklaren zu lassen, wo die Grenze zwischen Bluff und va banque lag. Chruschtschow hätte es nicht treffender formulieren können.

Da jeder Verlust für die eigene Seite als Zugewinn des anderen wahrgenommen wurde, erschöpfte sich die Antwort auf die neuen Waffen in der Wiederbelebung alten Denkens: nicht sich selbst schrecken zu lassen, sondern andere abzuschrecken.

Krisen, heiße Kriege, permanente Kriegsbereitschaft


Unwiederholbar scheint der Kalte Krieg, weil er stets mehr war als die Summe seiner Teile. Wortkriege, Blockbildung und atomare Diplomatie reagierten im Dreieck mit- und aufeinander. Vor allem aber dynamisierten sie sich wechselseitig und zeitigten deshalb unverwechselbare politische Konsequenzen.

Erstens stand knapp die Hälfte des über vier Jahrzehnte währenden Kalten Krieges im Zeichen akuter politischer wie militärischer Krisen.

Zwar wurden die meisten dieser Zusammenstöße mit größerer Umsicht und Rücksicht gehandhabt, als die Redeschlachten der Zeit vermuten lassen. Gerade in Mitteleuropa, wo jede Gewehrsalve zum Anlass eines Atomkrieges hätte werden können, übte man sich in Zurückhaltung. Nimmt man indes auch die Dritte Welt in den Blick, so zeigt sich das ausgeprägte Desinteresse Washingtons wie Moskaus an einer Beilegung von Konflikten. Mittels Krisen die andere Seite zu schwächen gehörte durchweg zum Repertoire ihrer Strategie der Spannung - "overload the enemy", bürde dem anderen untragbare Lasten auf, wie es in der Sprache der Eisenhower-Administration hieß.

Gerade von den Konfrontationen an der Peripherie, in Korea und Kuba, ging die Gefahr eines globalen Atomkrieges aus. Eine Nahaufnahme dieser Krisen legt das Fazit nahe: Wir hatten Glück im Kalten Krieg.

Zweitens geht ein Gutteil der 150 zwischen 1945 und 1990 in der Dritten Welt ausgetragenen heißen Kriege auf das Konto des Kalten Krieges.

Auch wenn vielerorts nicht ideologische Präferenzen, sondern der Wille zur Unabhängigkeit von alten Kolonialmächten oder schlicht lokale Streitereien den Ausschlag gaben, so ließen die USA und die UdSSR doch kaum eine Gelegenheit zur militärischen Parteinahme aus - sei es um der schieren Machtprojektion willen, sei es im Bestreben, die andere Seite auch im hintersten Winkel der Welt nicht zum Zug kommen zu lassen.

Dass zahlreiche Kriege, die sich andernfalls schnell erschöpft hätten, in der Folge intensiviert oder gar auf Dauer gestellt wurden, ist kaum zu bestreiten.

Drittens schließlich handelt der Kalte Krieg von einer Aufrüstung ganz besonderer Art.

Bekanntlich wurden in dieser Zeit mehr Waffen denn je sowie Waffen beispielloser Vernichtungskraft produziert. Auch kleinere Staaten hielten ungleich mehr junge Männer unter Waffen als in früheren Friedenszeiten und verpulverten Jahr um Jahr ehedem undenkbare Summen.

Die Pointe dieser Politik ist indes nicht in Statistiken zu suchen. Unerhört ist vielmehr der Umstand, dass sich zwei hochgerüstete Blöcke benahmen, als befänden sie sich trotz des Friedens auf der nördlichen Halbkugel dauerhaft im Krieg. Auf eine "permanent preparedness" - eine jederzeit abrufbare Bereitschaft zum Krieg - festgelegt, brachten sie fast ohne Vorwarnzeit einsetzbare Waffen in Stellung und sorgten für eine hintergründige Dauernervosität in den Reihen politischer und militärischer Entscheidungsträger.

Erbmassen


Wie unschwer zu erkennen, haben sich wesentliche Triebkräfte des Kalten Krieges verbraucht. Dass sich Supermächte in der Zukunft erneut wegen unvereinbarer Weltanschauungen zu Feinden erklären, scheint so gut wie ausgeschlossen. Huldigen sie doch allesamt - die USA wie auch die Aspiranten Russland, China und Indien - dem marktwirtschaftlichen Ordnungsmodell.

Mit welchen Konflikten die Globalisierung auch immer einhergehen mag, eine dem Kalten Krieg entsprechende Häufung von Krisen oder gar von Stellvertreterkriegen in den Interessensphären der Konkurrenz wird es auch aus einem zweiten Grund nicht geben: An die Stelle disziplinierter Bündnisse sind "Koalitionen der Willigen" getreten, brüchige, jederzeit kündbare Partnerschaften, die sich wie ein müdes Echo des Vergangenen ausnehmen. Folglich ist - trotz aller mit der Weiterverbreitung von Atomwaffen einhergehenden Risiken - die Lunte am atomaren "Overkill"-Potential länger als je zuvor.

Weil der Kalte Krieg aber tiefe Kerben in der Rüstungsökonomie und in den Institutionen politischer Macht hinterlassen hat, bleibt er gleichwohl auf unabsehbare Zeit präsent und wirkungsmächtig. Die Rede ist von wirtschaftlichen Allianzen und Machtstrukturen, die sich gegenüber korrigierenden Eingriffen als resistent, wenn nicht immun erweisen.

Wirtschaftliche Altlasten


Längst ist die in den frühen neunziger Jahren eingeleitete Rüstungskontrollpolitik einem neuen Wettrüsten gewichen. Zwischen 2001 und 2006 stiegen die Militärausgaben weltweit um inflationsbereinigte 30 Prozent. China ist hinter Großbritannien bereits auf den dritten Platz vorgerückt, auch Russland macht zunehmend wieder Boden gut. Fast die Hälfte aller Aufwendungen entfällt auf die USA. Diese Investitionen stehen in keinem erkennbaren Zusammenhang mit Terrorbekämpfung, sondern folgen den im Kalten Krieg planierten Pfaden: Innovation um der Überlegenheit willen, Überlegenheit zum Zwecke vermeintlicher Unverwundbarkeit.

Wer diese Entwicklung allein mit politischen Interessen und Vorgaben erklären wollte, würde Wesentliches übersehen. Denn bei den Veteranenstaaten des Kalten Krieges fordern wieder einmal Veränderungen in der wirtschaftlichen Tiefenstruktur ihren Preis, die seit den Fünfzigern als "Militarisierung der Ökonomie" oder "neue Ökonomie der Gewalt" bezeichnet werden.

Gemeint ist damit, dass nicht mehr nur der Staat die Federführung über einschlägige Investitionen hat. Vielmehr entstanden in den USA wie in der UdSSR während des Kalten Krieges soziale Milieus mit einem ausgeprägten Eigeninteresse an Rüstung.

Seit den siebziger Jahren bestimmen in den USA die von Privatunternehmen und Universitäten akquirierten Mittel die Entwicklung militärischer Hochtechnologie. Und in der UdSSR fasste seit der "Breschnew-Generation" eine Elite von Wissenschaftlern, Technikern und Bürokraten Fuß, die ihre rüstungsgeleiteten Interessen mittlerweile auch im neuen Russland zielstrebig verfolgt. Hüben wie drüben ist eine robuste Eigendynamik zu beobachten.

Abgeschottete, allein sich selbst verpflichtete Machtzentren ohne wirkungsvolle Gegenmacht geben auch der Außen- und Sicherheitspolitik die Richtung vor. Je größer der zeitliche Abstand zu den frühen Neunzigern wird, desto deutlicher schält sich die lästigste Hinterlassenschaft des Kalten Krieges heraus: Im Falle Russlands und Chinas ist der Autokratismus zementiert worden, während die USA für einen Autokratismus anfällig gemacht wurden.

Politische Altlasten, Ost


Gewiss - autokratische Herrschaft ist in Russland und China kein Kind des Kalten Krieges. Die seit der Aufklärung praktizierte Gewaltenteilung fand weder im Zarenreich noch in den Kaiserdynastien Resonanz. Vielmehr blieben die Potentaten beider Reiche einem gemeinsamen Grundsatz verpflichtet: dem Prinzip der Machtvollkommenheit und der Maxime unumschränkter Herrschaft. Niemandem zur Rechenschaft verpflichtet, standen sie über dem Recht und nahmen für sich in Anspruch, nach Gutdünken extralegal handeln zu können, wenn nicht zu müssen. Im Russischen hat dieses Staats- und Politikverständnis gar einen weltanschaulichen Leitbegriff gefunden: "Rechtsnihilismus".

Es lässt sich darüber streiten, ob diese in der Sowjetunion nach 1917 und in China seit 1949 auf die Spitze getriebene Tradition in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts auch ohne den Kalten Krieg hätte weitergeführt werden können. Womöglich wäre ohne die Dauerkonfrontation das stille Wirken wirtschaftlicher Globalisierung notwendig auf eine nachgeholte politische Modernisierung hinausgelaufen.

Unstrittig ist indes, dass der Kalte Krieg dem Überkommenen eine gut 40-jährige Schonfrist gewährte. Denn nichts konserviert autokratische Macht und Herrschaft verlässlicher als Krisen, Konflikte und ein auf Dauer gestellter Ausnahmezustand. Alle nach dem Ende des Kalten Krieges unternommenen Reformbemühungen liefen deshalb binnen kurzem ins Leere.

Mutete China nach dem 14. Parteitag der Kommunisten im Herbst 1992 offener denn je an, so brachte Deng Xiaoping alsbald das Wesen der "Volksregierung" in Erinnerung: Alle politische Macht bleibt in der Hand der Parteielite und wird im Zweifel von deren Führer allein ausgeübt.

Mit Zentralismus und Personalisierung ist auch das "System Putin" angemessen umschrieben. Dass Wladimir Putin die 1988 verabschiedete Verfassungsreform kassierte, indem er das unabhängige Verfassungsgericht zur Bedeutungslosigkeit degradierte, bringt Gegenwart und absehbare Zukunft des "neuen Russland" auf seinen politischen Begriff: Gewalteneinheit statt Gewaltenteilung. Der Souverän ist das Staatsoberhaupt, die vielzitierte "Wiederherstellung russischer Staatlichkeit" gründet in dem Recht der Exekutive, sich über das Recht zu stellen.

Politische Altlasten, West


Dass dergleichen auch in den USA zu einem anhaltenden Problem geworden ist, geht zweifelsfrei auf das Konto des Kalten Krieges. Mit einem Unterschied: Man spricht gemeinhin nicht von Autokratismus, sondern von "Imperialer Präsidentschaft".

"Imperial" steht für Monopolisierung der Macht und die Tatsache, dass das Amt des Präsidenten im "langen Frieden" nach 1945 mit Kompetenzen und Vorrechten wie in Kriegszeiten ausgestattet wurde. Mit dem Nationalen Sicherheitsrat und dem "White House Staff" verfügt ein Präsident über die Möglichkeit, sich gegen die "permanente Bürokratie" der Ministerien und konkurrierende Machtzentren innerhalb der Exekutive durchzusetzen. Mittels so genannter "discretionary powers", einem mittlerweile ausufernden Katalog von 500 Ermächtigungs- und Notstandsbefugnissen, kann das Weiße Haus auch jederzeit den Kongress umgehen.

So gesehen, handelt die "imperiale Präsidentschaft" von einer Einladung zum Machtmissbrauch. Man könnte auch von einer Umgründung der ältesten Demokratie der Welt sprechen: Aus dem unbedingten Muss der Gewaltenteilung ist eine Kann-Bestimmung geworden.

Während des Kalten Krieges nahmen alle Präsidenten diese Möglichkeiten zur Selbstermächtigung auf inflationäre Weise in Anspruch, vorab in der Außen- und Sicherheitspolitik. So wurde mit Ausnahme des Irak-Krieges von 1991 zwischen 1980 und 2001 kein einziger Militäreinsatz vom Kongress autorisiert. Und die Übertretung der von der Verfassung gesetzten Rechtsgrenzen bagatellisierte man entweder als nicht begründungsbedürftig oder erklärte die Rechtsüberschreitung schlicht zur rechtskonformen Norm - eine Praxis, für die Richard Nixon die prägnantesten Worte wählte: "Wenn es der Präsident tut, kann es nicht illegal sein."

Offen bleibt, ob und unter welchen Bedingungen in den USA eine Selbstkorrektur im Sinne wirksamer Gewaltenteilung greifen kann. Der Hinweis auf das seit Mitte der siebziger Jahre zur Regel gewordene Scheitern aller Reformbemühungen muss jedenfalls nicht das letzte Wort sein. Ebenso wenig ist absehbar, wie lange sich die Autokratien Russlands und Chinas behaupten. Es muss sich erst noch zeigen, ob die Effekte kapitalistischer Marktöffnung zur Erosion beitragen oder zum Anlass einer diktatorischen Selbsterneuerung genommen werden.

Deshalb kann - obwohl der Kalte Krieg als herrschendes Politikmodell ausgedient hat - ein Rückfall in Praktiken dieser Jahre auch nicht ausgeschlossen werden: eine Wiederkehr von Politikern nämlich, die in machtvollkommener Selbstüberschätzung und mit Rückgriff auf unbegrenzte militärische Machtmittel jede Mission für möglich halten.

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