Glanz und Elend nach 1800 Das Eisenbahnfieber
Ein paar Jahrzehnte nur, vielleicht acht, vielleicht zwölf, es waren Wimpernschläge in der Geschichte der Menschheit. Und doch brachten sie die "gründlichste Umwälzung, die jemals in schriftlichen Dokumenten festgehalten wurde", schreibt der große Sozialhistoriker Eric Hobsbawm.
Das epochale Geschehen ist als Industrielle Revolution in die Geschichte eingegangen. Sie fand in Hobsbawms Heimat Großbritannien statt, und sie erzeugte den ersten kapitalistischen Industriestaat. Seit Beginn des Ackerbaus, seit der Entdeckung der Metalle und seit den Siedlungen in der Jungsteinzeit, so Hobsbawms Befund, sei "keine Veränderung im Leben der Menschen ... so fundamental" gewesen.
Sie machte die Reichen noch reicher, während die Armen in der Regel arm blieben. Großbritannien, das lange schon eine bedeutende Handels- und Seemacht gewesen war, stieg auf zur Nummer eins, zur Werkstatt der Welt - mit so viel Macht wie kein anderer Staat dieser Größe zuvor oder danach. Binnen eines Jahrhunderts, zwischen 1740 und 1840, hatte sich die Zahl britischer Bürger fast verdreifacht und deren Wirtschaftsleistung mehr als vervierfacht. Die Briten produzierten damals etwa die Hälfte der weltweiten Eisen- und Baumwollerzeugnisse, fünf Siebtel der (noch recht geringen) Stahlmenge, sie förderten zwei Drittel aller Kohle. Und sie bewiesen sich immer wieder als Entdecker und Erfinder: automatisch arbeitende Webstühle, das Prinzip Fabrik, die Dampfmaschine, deren Kraft Tausende Hände ersetzte. Schließlich die Eisenbahn als Dampfmaschine auf Schienen: für viele Zeitgenossen ein Höllengerät, aber eines mit starkem Zug in die Zukunft.
Jetzt konnten in wenigen Stunden Strecken überwunden werden, für die ein Pferdegespann Tage benötigte. Eine "Verkehrsrevolution", schreibt der Geschichtswissenschaftler Hans Rosenberg, komplettierte die Industrielle Revolution. Denn der Eisenbahnbau habe als "Marktbildner" gewirkt, "indem er die Schwierigkeiten der Raumüberwindung beseitigte".
Die Ingenieurleistung Eisenbahn wurde ganz schnell zu einer Erfolgsgeschichte und zum Synonym für Ultramodernes, "ähnlich wie ,atomar' nach dem Zweiten Weltkrieg" (Hobsbawm). Und so begann die ungeheure Expansion der Wirtschaftsmacht Großbritannien - und eine Art erste Globalisierung.
Dazu gehörte der Umbau des englischen Finanzmarktes. Plötzlich spielten Aktien eine große Rolle und der Ort, an dem sie gehandelt wurden - die Börse. Der Staatskredit verbreitete sich ebenso wie private Investitionskredite, Fonds, öffentliche Anleihen, eben "neue Methoden der Kapitalbeschaffung" (Rosenberg). Ganz weit öffnete sich nun auch das Tor zur Spekulation, die bis dahin in der Wirtschaftsgeschichte nur episodisch aufgetreten war.
Das Geld- und Bankensystem wurde instabil und fragil und glich einem Mikadospiel. Eine falsche Bewegung, und alles konnte zusammenbrechen.
Genauso kam es 1857, im Jahr der ersten Weltwirtschaftskrise. Serienweise wurden zunächst amerikanische Unternehmen in den Ruin getrieben, Hunderttausende Menschen mussten darben. "Pleite", schlagzeilte eine Zeitung, "ist ein anderes Wort für Hunger." Schuld war das Symbol der neuen Zeit: die Eisenbahn.
Ein gutes Jahrhundert früher. Manchester im Nordwesten Englands ist weltweit die erste Großstadt der Industrialisierung. Hier, so berichtete es ein Reisender, "bemerken wir Hunderte fünf- bis sechsgeschossiger Fabriken, jede mit einem turmhohen Schornstein daneben, der schwarzen Kohlenrauch ausstößt". Da wurde Baumwolle gesponnen - wer heute über den Beginn der Industriellen Revolution spricht, der meint Baumwolle - nicht Kohle, nicht Eisen, nicht die Schwerindustrie. Und Manchester steht symbolisch für eine Neuausrichtung der Wirtschaft, deren Bewertung abhängig ist von der Betrachtungsweise. Wer vor allem das Leid der Arbeiter sieht, der spricht vom Manchesterkapitalismus; wer die Vorzüge meint - den Freihandel, keinen Protektionismus -, der spricht vom Manchesterliberalismus.
Was an unmenschlich langen Arbeitstagen - 12 bis 16 Stunden am Stück waren keine Seltenheit, auch nicht für Kinder - mit Maschinenhilfe produziert wurde, musste schnellstmöglich zu den Käufern gebracht werden. Großbritannien besaß, im Gegensatz zum europäischen Festland, ein gutausgebautes Kanal- und Straßensystem. Doch Kähne und Gäule sind langsam.
Der Erste, der die wundersame Erfindung Dampfmaschine im Verkehr einsetzte, war der Ingenieur Richard Trevithick. Sein Vehikel zog, 1804, auf dem Schienenweg nahe Merthyr Tydfil bei Cardiff, immerhin eine tonnenschwere Last. Doch dauerte es noch fast eine Generation, bis die Lokomotive "aus dem experimentellen in das wirtschaftlich lebensfähige Stadium trat", notiert die englische Historikerin Phyllis Deane.
"Eine der letzten Akte des alten paternalistischen Wirtschaftstyps"
Anfang Oktober 1829 war vor den Toren Liverpools, nicht weit von Manchester entfernt, ein neuntägiger Wettbewerb ausgeschrieben. Die "Rainhill trials" fanden auf einem Abschnitt von knapp drei Kilometern statt: dem ersten Teilstück der allerersten Eisenbahnlinie Liverpool-Manchester. Die Siegermaschine hieß "Rocket", Rakete. Tatsächlich war die gemessene Geschwindigkeit von 39 Stundenkilometern in jener Zeit eine ungeheure Sensation. Und die von Robert Stephenson konstruierte Lok erreichte sie gleich mehrfach, ohne jede technische Störung. Die "Rocket" wurde später auch in Deutschland ein Verkaufsschlager. Auf der Insel löste sie jenen Boom aus, den man "railway mania" nannte, Eisenbahnwahn.
Innerhalb von 20 Jahren nur, zwischen 1830 und 1850, erschloss ein fast 10 000 Kilometer langes Schienennetz das Land. So etwas gab es sonst nirgendwo auf der Welt. Bis 1857 kamen noch einmal über 2500 Kilometer hinzu. Jeder Hafen, jede Stadt, jeder Flecken war nun in ungeahntem Tempo zu erreichen, egal, ob Kohle, Eisen, Holz oder Stoffballen geliefert wurden.
Alte Märkte wurden ausgebaut, neue rasch erschlossen. Das "Maß der Bewegungsgeschwindigkeit" habe das "Gefühl einer riesenhaften, die ganze Nation umspannenden, komplexen, genau aufeinander abgestimmten Ordnung" erzeugt, urteilt Hobsbawm. Damit habe es sich ausgewirkt "auf das Leben aller Bürger des Landes".
Die Eisenbahngesellschaften waren private Unternehmen, nicht etwa staatliche, ob sie nun "Grand Junction Railway" hießen oder "London and South Western Railway" oder "Stockton and Darlington Railway". Folgerichtig musste das investierte Geld aus privater Hand kommen. Ein riesiger Kapitalmarkt entstand.
Lange vorher schon, beim Ausbau des Kanalsystems, hatten sich etliche Sparer überreden lassen, ihr Geld in Aktien anzulegen, "ohne direktes Interesse am Ergebnis des Vorhabens" wie Historikerin Deane unterstreicht. Man könne, sagt sie, diese Tatsache als großen Schritt zum Kapitalismus betrachten. Als es dann für die Finanzierung der Eisenbahnen erheblich höherer Summen bedurfte, sei "das institutionelle Modell" bereits vorhanden gewesen - "und die Aktiengesellschaft erfüllte abermals die Funktion, die Ersparnisse der nicht aktiven Anleger loszueisen und sie produktiven Unternehmen zuzuleiten".
Auf dem Höhepunkt der Entwicklung war das Kapital dieses Wirtschaftszweiges auf 315 Millionen Pfund Sterling angewachsen - nach heutigem Wert 25,6 Milliarden Euro. Anders gerechnet: Allein die Eisenbahn machte ein Zehntel des britischen Bruttosozialprodukts aus. Was da geschah, war ohne jedes geschichtliche Vorbild. Und immer noch galt die Maxime, alles sei weiter im Fluss und der Fortschritt unbegrenzt.
Doch nicht jeder strahlte Zuversicht aus. Es gab genug Skeptiker, die bezweifelten, dass sie "in der besten aller möglichen Welten lebten", wie es der USamerikanische Wirtschaftshistoriker David Landes formuliert.
Waren vor allem Angehörige der Mittel- und Oberschicht vom Fortschritt fast berauscht, so trauerten viele Briten auch den alten Zeiten nach. Sie beklagten die schlechte Luft und die Hässlichkeit der neuen Fabrikstädte, bedauerten den wachsenden politischen Einfluss einer Clique von Neureichen und verurteilten die "Armut eines entwurzelten Proletariats" (Landes).
Denn die Industrielle Revolution hatte auch eine neue soziale Klasse geschaffen: die Fabrikarbeiter. So glänzend der wirtschaftliche Aufstieg sich für einige wenige gestaltete, so radikal änderten sich für den Durchschnittsmenschen die Umstände seines täglichen Lebens. Er war nicht mehr Herr seiner selbst. Den "bloßen Lohnstatus in den Fabriken zu akzeptieren", so betont der Autor Christopher Hill, "bedeutete die Aufgabe des Geburtsrechts eines Menschen, den Verlust der Unabhängigkeit, Sicherheit, Freiheit".
Ein Riesenreservoir an billigen Arbeitskräften war vorhanden. Besonders nach dem Ende der napoleonischen Herrschaft drängten zu Beginn der Friedenszeit Zehntausende ehemaliger Soldaten auf den Arbeitsmarkt. Dieses Überangebot drückte die Löhne und förderte die beispiellose Expansion der britischen Wirtschaft. Zwischen 1820 und 1850 stiegen die Unternehmergewinne ständig.
Noch zu Ende des 18. Jahrhunderts hatten die Friedensrichter in der Region Speenhamland angeordnet, dass der Lohn eines Arbeiters in fairem Verhältnis zum Brotpreis und zur Zahl der durchzufütternden Kinder zu stehen habe. Hier war also eine Art Mindestlohn festgelegt. Etliche Kommunen übernahmen diese Regelung, die Deane als "eine der letzten Akte des alten paternalistischen Wirtschaftstyps" charakterisiert.
"Doch nie war es weit zum nächsten Wirtschaftskrach."
Das hielt nicht lange. Per Gesetz senkte der Staat 1834 den Anspruch auf eine Unterstützung nach dem Armenrecht. Notleidende wurden in die gefängnisartigen Arbeitshäuser abgeschoben. Und die Position der Arbeiter war noch zu schwach, um dagegen anzukämpfen. Viele verdingten sich als Handwerker oder nur Gelegenheitsarbeiter, etwa beim Eisenbahnbau. In den Fabriken schufteten größtenteils Frauen, Jugendliche und Kinder - also Bevölkerungsteile, die nicht unbedingt für Streit oder Streik gerüstet waren. Männliche Arbeitskräfte stellten nur ein knappes Viertel der Beschäftigten, eine auf den ersten Blick verblüffend geringe Quote. Denn mit der Einführung des mechanischen Webstuhls wurden viele Weber entlassen.
Hinzu kam eine Bevölkerungsexplosion, die immer neue Arbeitskräfte auf den Markt schleuderte. Zeitweise lag die Wachstumsrate bei 17 Prozent pro Jahrzehnt. Jeder lechzte nach Beschäftigung, denn Arbeitslosigkeit hieß nacktes Elend. Als eine große Hungersnot Mitte des 19. Jahrhunderts Heerscharen von Iren auf die Nachbarinsel England trieb, verschärfte sich die dortige Lage noch einmal dramatisch. Was die Chefs verlangten, wurde akzeptiert, "wie niedrig der Lohn und wie lang der Arbeitstag auch sein sollte" (Deane).
Im Rhythmus der Maschinen arbeitete das Personal Tag und Nacht. Liefen die Geschäfte gut, so peitschten die Unternehmer ihre Leute noch gnadenloser an. Liefen sie schlechter, dann hieß es: raus oder Kurzarbeit zu Hungerlöhnen. Auf der Straße standen genug Menschen bereit, noch länger für noch weniger Geld zu schuften - die "industrielle Reservearmee", wie Karl Marx sie nannte.
Das Establishment in Großbritannien hielt sich die weniger erfreulichen Realitäten nach Kräften vom Leib. Aber manchmal kam es nicht umhin, sich mit den Schattenseiten seiner Lieblingsunternehmen, den Eisenbahnen, zu befassen. Als 1836/37 feststand, dass viel mehr Linien projektiert worden waren als wirtschaftlich vernünftig, bekam der Boom eine tiefe Delle. Enttäuschte Spekulanten verkauften ihre Aktien oder versuchten, ihre Einlagen rasch zu versilbern.
Ein Jahrzehnt später, 1847, wiederholte sich die Geschichte, und diesmal schienen die Dimensionen noch viel dramatischer. Mittlerweile arbeiteten über 300 000 Menschen beim Bau oder Betrieb der Eisenbahnen. Was dabei erwirtschaftet wurde, entsprach dem deklarierten Gegenwert aller britischen Exportwaren.
Jetzt gerieten die Spekulanten in Panik und zogen vor allem Gold ab. Was folgte, war ein wundersames Auf und Ab von "Depression, Aufschwung und Hochspannung" (Rosenberg) - oder, wie es der Kapitalismuskritiker Friedrich Engels ausdrückte: ein "industrieller, kommerzieller, kreditlicher und spekulativer Steeplechase, um endlich nach den halsbrechendsten Sprüngen wieder anzulangen - im Graben des Krachs".
Genauso kam es. Im Mittelpunkt des "Steeplechase", zu Deutsch Hindernisrennens: die Eisenbahn. Briten, die daheim reichlich Geld mit ihr verdienten, hatten mindestens 80 Millionen Pfund angelegt in amerikanischen Fonds- und Aktienunternehmen, auch die Banken jenseits des Atlantiks verfielen alsbald dem "Eisenbahnfieber".
Vor allem die New Yorker Filiale der "Ohio Life Insurance and Trust Company", die bis dahin im Ruf der Seriosität, ja besonderer Vertrauenswürdigkeit gestanden hatte, tat sich hervor.
Deren Chef Edward C. Ludlow galt als begnadeter Akquisiteur. Lange hatte er einen guten Job gemacht, keine Bank verfügte über mehr Spareinlagen. Aber kein Manager zockte so rücksichtslos wie Ludlow mit Eisenbahnaktien. Er verzockte sich bis zum Crash: Binnen Tagen geriet das amerikanische Bankensystem an den Abgrund. "Beautiful", jubelte Marx voller Revolutionshoffnung - und Freund Engels antwortete gleichermaßen entzückt: "Die Rückwirkung auf England scheint eröffnet."
Tatsächlich verbreitete sich die Krise in rasantem Tempo, Telegrafie machte es möglich. Geldhäuser brachen zusammen, in London, Liverpool und Glasgow. Allein zwischen September und November 1857 verschwanden 85 Firmen von der Bildfläche, die Höhe ihrer Verbindlichkeiten lag bei 42 Millionen Pfund, umgerechnet etwa 3,4 Milliarden Euro. Großbritannien als Hauptfinanzier des Welthandels wankte kurzzeitig.
Doch eine kluge Politik der Bank of England und die Tatsache, dass zur Konjunkturbelebung das Geld der Bürger "aus seinen Schlupfwinkeln" (Rosenberg) schnell wieder hervorkam, beförderte einen raschen Wiederaufstieg.
Die Eisenbahn wurde zum Exportschlager, vor allem in den britischen Kolonien. Und es entstand, auch dank der Eisenbahngewinnler, eine neue Gesellschaftsschicht: die Rentiers, definiert als "Personen von Rang und Besitz", aber ohne erkennbare Beschäftigung. Es handelte sich um glückliche Nutznießer und Erben des Booms. Ihre Zahl wird auf 170.000 beziffert. Die meisten von ihnen waren Frauen, viele davon unverheiratet. Sie wohnten gern im vornehmen Londoner Stadtteil Kensington, kurten in Seebädern, urlaubten in den Schweizer Bergen oder in den Hügeln der italienischen Toskana. Das "Zeitalter der Eisenbahn", urteilt Eric Hobsbawm mit gehöriger Ironie, hätte auch die "wirtschaftliche Basis für den viktorianischen Ästheten" geschaffen.
Doch nie war es weit zum nächsten Wirtschaftskrach.