Absturz nach dem Boom Das Glücksrad wird sich weiterdrehen

Seit Jahrhunderten folgen alle Finanzkrisen dem gleichen Grundschema, und dennoch haben die Menschen bisher nichts daraus gelernt. Eine vernünftige Regulierung ist aber möglich.
Von Michael C. Burda
Börsenmakler in Chicago, 2005

Börsenmakler in Chicago, 2005

Foto: NAM Y. HUH/ AP

Der Internationale Währungsfonds hat im September 2008 das Ausmaß der Finanzkrise, gemessen an den weltweiten Verlusten aus Kreditgeschäften, auf 1,3 Billionen Dollar beziffert: $ 1.300.000.000.000. Das waren damals schon zwei Prozent der geschätzten globalen Wirtschaftsleistung. Sechs Monate später hat die US-Finanzagentur RGE Monitor eine noch weit höhere Verlustschätzung vorgelegt, die allein für US-Wertpapiere und Derivate auf 3,6 Billionen kommt. Das entspricht einem guten Viertel der jährlichen Wirtschaftsleistung der weltgrößten Volkswirtschaft.

Wären die Verluste in dieser Höhe realisiert worden, hätten sie die Gesamtkapitalisierung der US-Banken überstiegen und viele Finanzinstitute ruiniert. Deshalb mussten große Teile des Bankensektors erhebliche staatliche Hilfen in Anspruch nehmen.

Trotz des keimenden Optimismus ist die Krise noch nicht ausgestanden: Vor allem das Bankensystem in den USA ist kaum in der Lage, weitere Störungen der Weltwirtschaft auszuhalten. Weil die heutige Ökonomie so sehr auf die Funktionsfähigkeiten von Banken angewiesen ist, wuchs sich die Finanzkrise zu einer Wirtschaftskrise aus: Der Schock brachte das Kreditwesen zum Stillstand - mit drastischen Folgen für den Außenhandel, für die Anschaffung von langlebigen Gebrauchsgütern und für den Ausbau von Produktionskapazitäten. Deutschland als stolzer Exportweltmeister wurde im Auto- und Maschinenbau besonders hart getroffen. Die Weltrezession ist der gigantische Kollateralschaden der Finanzkrise.

Ungeachtet dieser düsteren Ausgangslage bin ich mir sicher, dass die Herausforderungen der globalen Finanzkrise, so unfassbar ihre Dimensionen scheinen, zu meistern sind. Jede Finanzkrise besteht letztlich, stark vereinfacht gesagt, in der Ausdehnung endloser finanzieller Ansprüche auf eine endliche, reale Wirtschaft: auf Büros und Fabriken, auf die darin beschäftigten Arbeitskräfte, auf Wohnungen und Land, aber auch auf Ideen, Technologien, Institutionen und unternehmerische Menschen. Nach der Anpassung, Beschneidung oder Vernichtung dieser Ansprüche wird die reale Wirtschaft mit ihrem Produktionspotential weiter existieren und weiter wachsen - wie sie es in den vergangenen 150 Jahren getan hat.

Um die Krise zu bewältigen, muss der Konflikt der Ansprüche schnell und transparent gelöst und das verlorene Vertrauen wieder hergestellt werden. Die Überwindung der Krise wird schon deshalb gelingen, weil die damit verbundenen Kosten, so hoch sie absolut auch sein mögen, relativ gering sind - jedenfalls im Vergleich zum ansonsten drohenden Totalverlust ökonomischer Funktionsfähigkeit. Ein solches Risiko für unser Wirtschaftssystem, das Wohlstand und Sozialstaat ermöglicht, wird niemand eingehen.

Aber auch dann, wenn wir aus der Krise herauskommen, steht die Frage im Raum, ob so etwas wieder geschehen kann und darf. Von der Finanzkrise erfasst wurden selbst Länder, die eigentlich völlig unbeteiligt waren. Ob man das alles stillschweigend hinnehmen muss - das zu fragen, ist das gute Recht der Steuerzahler, die nun die Aufräumarbeit zu finanzieren haben. Um zu verhindern, dass dergleichen wieder passiert, müssen wir die Finanzwelt mittel- und langfristig verändern. Gegen unheilvolle Krisen dieser Größenordnung, die riesige Kollateralschäden anrichten, tut Vorbeugung not.

Erstens ist festzuhalten, dass die US-Zentralbank nach dem 11. September 2001 bis Mitte 2005 die Leitzinsen zu niedrig gehalten hat. Geld war so leicht zu bekommen, dass enorm viel Liquidität nach neuen Anlagemöglichkeiten suchte. Wegen der billigen Importe aus China und anderen Ländern führte die Niedrigzinsphase nicht sofort in die Inflation, wie es sonst fast immer der Fall ist, sondern blähte die Märkte für Vermögenswerte auf.

Zweitens hat eine besonders lasche Regulierung des Marktes für Immobilienfinanzierung in den USA Häuser und Grundstücke zum unmittelbaren Objekt der Spekulationswelle gemacht. Die Politik der Regierungen Clinton und Bush ermutigte viele US-Bürger, die keinerlei Sicherheiten bieten konnten, sich Geld zu leihen. Anderen verhalf sie aufgrund der gestiegenen Immobilienpreise zu unverhofftem Reichtum: Die Preise kletterten laut dem Case-Shiller-Index, der die Entwicklung in den 20 wichtigsten US-Metropolenregionen wiedergibt, zwischen 1995 und 2006 um kaum glaubliche sieben Prozent pro Jahr - und zwar inflationsbereinigt. Im Gegensatz dazu hatten sie sich zuvor mehr als ein Jahrhundert lang, zwischen 1890 und 1995, kaum verändert.

Drittens haben Erneuerungen im Finanzbereich dazu geführt, dass sich die gesamte globalisierte Welt am US-Immobilienboom beteiligen konnte. Die Hypotheken, die sich vor dem Entstehen der Spekulationsblase in lokalen US-Bankbilanzen befunden hatten, wurden aus diesen herausgelöst. Man schnürte viele Einzelhypotheken zu unüberschaubaren Kreditbündeln zusammen, die unter klangvollen Begriffen wie Mortgage Backed Securities oder Collateralized Debt Obligations an Großinvestoren rund um die Erde weiterverkauft wurden. Jene Banken, die ursprünglich die Hypotheken bewilligt hatten, konnten sich auf diese Weise ihres Verlustrisikos entledigen. Es wurde in kaum noch erkennbarer Form an Dritte weitergereicht.

Spekulationsblasen und Finanzkrisen

So entstand das Problem des "moralischen Risikos" - die lokalen Banken und Makler, die die Kreditvergabe beschlossen und das Geld gegeben hatten, waren nicht mehr unmittelbar für die Qualität der Hypotheken verantwortlich. Die neuen Wertpapiere wanderten in den Besitz von Hedgefonds, Versicherungen, Kommunen, US-Rentenversicherungen und nicht zuletzt von deutschen Landesbanken. Wer sollte sich anmaßen, an diesen Transaktionen herumzumäkeln, wo doch die Emittenten der Papiere laut international renommierten Rating-Agenturen wie Standard & Poor's, Moody's und Fitch beste Bonität aufwiesen? Versicherungsverträge sorgten sogar dafür, dass diese Papiere noch "sicherer" erschienen.

Erst als die US-Hauspreisblase 2007 platzte, verloren die Papiere plötzlich an Wert. Und keiner weiß so recht, was sie jetzt noch wert sind. Oder was die Finanzinstitute wert sind, die diese giftigen Papiere in ihren Bilanzen stecken haben.

Doch eine bloße Beschreibung dessen, was geschehen ist, greift viel zu kurz, wenn man künftige Crashs dieser Art verhindern will. Jede Finanzkrise ist im Detail anders nuanciert - und folgt dabei dem immer gleichen allgemeinen Schema. Diese Schlussfolgerung zog John Kenneth Galbraith in seinem bereits 1993 veröffentlichten Buch "A Short History of Financial Euphoria". Der 2006 verstorbene Galbraith hat in dem empfehlenswerten Werk alles auf den Punkt gebracht.

Finanzblasen und die daraus resultierenden Krisen ähneln sich zwar immer: als kollektiver Verlust der Vernunft und Anhäufung von Übermut bei ansonsten vernünftigen Menschen. Und doch wird man sie immer verschieden benennen und beschreiben - und mittendrin werden die meisten nicht wahrhaben wollen, was gerade passiert.

Trotz der ständigen Neuerungen in der Finanzwelt der letzten 350 Jahre geht es grundsätzlich immer um Hebelwirkung ("leverage"), das heißt um Investitionen mit geborgtem Geld. Das Risikoniveau wird hochgedreht, weil dabei weit höhere Renditen locken. Es gibt jede Menge Investoren, die glauben, hohe Renditen seien ganz ohne Risiko zu haben. Doch Jahrhunderte von Finanzkrisen lehren, dass nichts umsonst ist - besonders hohe Renditen gibt es nur um den Preis einer besonders hohen Wahrscheinlichkeit, dass alles verlorengeht. Leider wird diese elementare Einsicht der Finanztheorie immer wieder kollektiv vergessen oder verdrängt.

Voraussetzung großer Finanzkrisen sind des Weiteren als vertrauenswürdig geltende Instanzen, die den Markt mit Geld versorgen und dabei ihren mühsam aufgebauten Ruf der Honorigkeit aufs Spiel setzen. Wie uns die holländische Tulpen-Blase von 1637 lehrt, müssen das nicht unbedingt Zentralbanken sein.

Besonders interessant ist auch die deutsche Getreidespekulation von 1763, die mangels "echtem" Geld (damals Gold oder Silber) mit Hilfe von privaten holländischen Finanzhäusern betrieben wurde. Diese gaben Wechsel heraus, die für die Getreidespekulation in Zahlung genommen wurden - solange Vertrauen in die Emittenten der Wechsel bestand. Das Vertrauen verschwand aber über Nacht, als die Blase so überdimensional geworden war, dass sich blitzartig Ernüchterung ausbreitete. Jetzt entpuppten sich die phantastischen Gewinnerwartungen als reine Hirngespinste - wie im Märchen "Des Kaisers neue Kleider" die prachtvollen Gewänder des in Wahrheit nackten Herrschers. Die Bankhäuser brachen zusammen.

Die Analyse von Galbraith ist überzeugend. Es wird immer wieder Finanzkrisen geben, solange es Nachfrage (uninformierte, naive und gierige Menschen) und Angebot (gewinnorientierte, innovative Finanziers) gibt.

Als Ökonom kann ich jedoch diese Gier nicht verurteilen. Ich muss sie sogar loben! Ohne das Streben nach Gewinn, das der Motor unseres Wirtschaftssystems ist, wäre der Wohlstand, den wir genießen, unmöglich. Wer weiß, wie viele große Erfindungen der letzten zwei Jahrhunderte - die Dampfmaschine, die Eisenbahn, das Auto, der Computer, das Internet - nicht adäquat finanziert worden wären, wenn es einen Kapitalmarkt nicht gegeben hätte? Risiken sind der Preis der Freiheit. Einerseits.

Andererseits können und müssen wir versuchen, Lehren aus der gegenwärtigen Krise zu ziehen. Der Überschätzung der eigenen Fähigkeiten, im Lotto oder an den Börsen überdurchschnittliche Renditen zu erzielen, sollten wir entgegenwirken. Der Entstehung von Blasen muss auf kluge Art vorgebeugt werden.

Ein passender Vergleich für die erforderlichen Maßnahmen im internationalen Finanzverkehr sind die Sicherheitsvorschriften im Straßenverkehr. Auf den Finanzautobahnen rasen die Geldströme zunehmend schneller um die Welt - wenn es kracht, gibt es immer mehr Opfer und immer größere Schäden. Als die Höchstgeschwindigkeit von Autos in der Frühphase ihrer Entwicklung noch bei 30 Kilometern lag, waren die Konsequenzen eines Unfalls überschaubar. Mit Hochleistungsfahrzeugen auf deutschen Autobahnen sieht die Sache anders aus. Fahrlässigkeit kann fürchterliche Unfälle auslösen und für andere Verkehrsteilnehmer katastrophale Folgen haben.

Wer reguliert die Schäden?

Auch wenn ich es nicht besonders gern zugebe, muss ich einräumen, dass der Markt zur Selbstregulierung wenig geeignet ist - von der Behebung der Kollateralschäden ganz zu schweigen. Bei dieser Aufgabe hat er bereits massiv versagt. Weil es aber immer wieder Finanzkrisen geben wird, müssen wir zumindest dafür sorgen, dass die dabei entstehenden Schäden auf die dafür Verantwortlichen beschränkt bleiben. Wir brauchen eine intelligente Regulierung.

Dazu gehört gewiss nicht, dass alles Neue, Innovative verboten wird. Diese typische Reaktion bringt fast immer mehr Schaden als Nutzen. Übrigens hat manches in diesem Bereich, das uns topmodern erscheint, eine sehr lange Geschichte. Dazu gehören die Finanzderivate, die nicht per se Teufelszeug sind, sondern nützliche Funktionen haben können.

Nehmen wir Warenterminkontrakte - auch das sind Derivate. Schon die alten Römer sicherten sich damit gegen Ernteausfälle ab: Sie schlossen Verträge über die Lieferung bestimmter Mengen von Getreide zu einem festgelegten Preis und an einem festgelegten, in der Zukunft liegenden Datum.

Ich bin fest davon überzeugt, dass in zehn Jahren viele der heute verpönten Derivate zum Finanzalltag gehören werden, denn sie dienen dazu, Risiken neu zu verteilen und abzuwälzen. Korrekt gehandhabt, können "Credit Default Swaps" - also Versicherungen gegen Kredit- und Schuldenrisiken - die Zinsbelastungen von Unternehmen und Staaten erheblich reduzieren.

Viele mögen die Exzesse der Finanzwelt abstoßend finden. Aber Fakt bleibt: Wir brauchen diesen Sektor. Ohne ihn gibt es keine reale Wirtschaft, wie wir sie kennen. Er vermittelt nicht nur zwischen dem Sparer und dem Investor, der Arbeitsplätze finanzieren will. Er stellt auch die Bankkonten zur Verfügung, die Haushalte und Unternehmen für ihre Transaktionen nutzen. Daher gibt es ein öffentliches Interesse daran, das Bankensystem gegen die größten (selbst verursachten) Störungen abzusichern.

Das gesamte Finanzsystem beruht auf Vertrauen. Jede Krise setzt dieses Vertrauen aufs Spiel. Wie kann man das verhindern? Am besten nicht durch Verbote, sondern durch die richtigen Verhaltensanreize - und durch ein ordentliches Maß an Information.

Dazu gehört hinreichende Transparenz in der Finanzindustrie. Die Rating-Agenturen haben in ihrer primären Funktion als Frühwarnsystem eklatant versagt; sie haben sich in der Qualität der verbrieften Wertpapiere schwerwiegend verschätzt. Das ist kein Grund für die Verstaatlichung von Rating-Agenturen, sondern für mehr Wettbewerb unter ihnen. Wenn Staaten ganze Banken verstaatlichen können, müsste es möglich sein, eine staatliche Rating-Agentur als Konkurrenz für die existierenden Unternehmen zu gründen.

Außerdem müssten Finanzinstitute in guten Zeiten gezwungen werden, höhere Eigenkapitalauflagen zu erfüllen. Diese sollten mit der Höhe der Bilanzsumme steigen. Nur so kann man der Tendenz entgegenwirken, dass zeitweilig im Wert gestiegene Papiere automatisch als gewachsenes Realvermögen der Banken angesehen werden - und als neues Eigenkapital, das dann als Basis für noch mehr und noch riskantere Geschäfte eingesetzt werden kann. Vor allem dürfen Banken ohne Kapitaldeckung auf diese Weise niemals so groß werden, dass sie systemische Risiken darstellen.

Zu einer vernünftigen Reform gehören vorausschauende und gut entlohnte Angestellte in staatlichen Funktionen, die das Finanzsystem aktiv überwachen. Es darf nicht mehr vorkommen, dass der Staat nicht eingreifen kann, weil seinen Beamten die Kompetenzen fehlen. Und vor allem muss es eine internationale Koordination geben, denn jedes Land, das im Alleingang Reformmaßnahmen ergriffe, handelte sich Wettbewerbsnachteile ein. Man sollte vielleicht auch überlegen, ob private Partnerschaften als Rechtsform von Finanzunternehmen zu bevorzugen sind, statt mit steuerlichen Anreizen Aktiengesellschaften mit beschränkt haftenden Managern zu fördern. Am vorsichtigsten ist man immer mit dem eigenen Geld. Und es wäre auch nicht verkehrt, die Gewährung von Krediten immer mit einer Teilhaftung der Institute - einem haftenden Residualinteresse - zu verknüpfen, um die Anreize zu stärken, dass Banker die gebotene Sorgfalt (due diligence) walten lassen.

Allerdings bezweifle ich, dass es gelingen wird, die Finanzwelt anders zu organisieren. Denn sobald wieder Normalität einkehrt, wird der Änderungsdruck entfallen. Die vorgeschlagenen Reformschritte und viele, die noch darüber hinausgehen, würden die Finanzmärkte ziemlich langweilig machen. Vor allem würden sie auf schärfsten Widerstand treffen.

Schließlich waren es Lobbyisten, die unter Präsident Bill Clinton im Jahr 1999 die Annullierung eines alten US-Gesetzes zum Schutz der Giro- und Sparkontoinhaber vor riskanten Bankgeschäften durchsetzten, das 1933 aufgrund böser Erfahrungen in der Weltwirtschaftskrise eingeführt worden war. Durch Vorschriften für die Geschäfte, die normale Banken mit den Einlagen vornehmen durften, sollte dieser "Glass-Steagall Act" die Transaktions- von den Investmentbankfunktionen trennen und Bankkunden davor bewahren, mit ihren Einlagen für die Folgen riskanter Bankenstrategien bezahlen zu müssen.

Sachkenner als "ewige Kassandras"

Lobbyisten steckten auch hinter einer anderen fatalen Entscheidung: Das war der Beschluss der US-Behörde für die Aufsicht über den Wertpapierhandel, die fünf größten Investmentbanken ( Goldman Sachs, Merrill Lynch, Lehman Brothers, Bear Stearns, Morgan Stanley) aus den Vorschriften über die Kapitalhinterlegung zu entlassen, die das Risiko begrenzten. Ihr Verhältnis von Fremdkapital zu Eigenkapital ist demzufolge von 12:1 auf 30:1 bis 40:1 angestiegen.

Einige Jahre später fielen diese einst großmächtigen Investmentbanken, weil sie sich gewaltig verhoben hatten, den "normalen" (von der Einlagensicherung geschützten) Banken in den Schoß - und den Steuerzahlern zu Last.

Überhaupt sind Finanzblasen dadurch gekennzeichnet, dass Leichtsinn und Herdentrieb an die Stelle von Sorgfalt und Diskussionskultur rücken. Die Menschheit scheint dabei einem Kollektivrausch zu verfallen: Das Denken wird gleichgeschaltet, aus Angst vor Blamagen und Demütigungen wagt niemand mehr, etwas gegen den Mainstream zu sagen.

Alles was man über Lehman Brothers und ihre riskanten Geschäfte hätte wissen wollen, stand schon immer in deren Jahresberichten - im Anhang zwar, aber deutlich lesbar. Offensichtlich haben auch Analysten und Wirtschaftsjournalisten versagt, die diese Informationen hätten publizieren müssen - oder die Investoren waren selbst zu faul, sich damit auseinanderzusetzen.

Es wird heutzutage gern gegen die Ökonomen polemisiert, die vor der Krise nicht gewarnt hätten. So einfach ist es nicht. Unter anderen haben Robert Shiller, Nouriel Roubini, Raghuram Rajan und der Deutsche Max Otte frühzeitig auf die Gefahren hingewiesen.

Wahr ist aber, dass diese Sachkenner als "ewige Kassandras" verpönt, wenn nicht einfach ignoriert wurden. Genauso erging es übrigens dem gebürtigen Hamburger Bankier Paul Warburg, der als eingebürgerter Amerikaner zum geistigen Vater der US-Zentralbank wurde: Als er Anfang 1929 vor der Aktienspekulation auf Pump warnte, schlug ihm vernichtende Kritik mit antisemitischer Tendenz entgegen. Auch die prophetischen Warnungen des US-Börsenchefs Alan Greenspan vor "irrationalem Überschwang" an den Börsen quittierte man 1996 mit Hohn und Spott. Und die Clinton-Regierung mobbte die Anwältin Brooksley Born, die an der Spitze der US-Aufsichtsbehörde Commodity Futures Trading Commission stand, aus dem Amt. Sie wurde dafür abgestraft, dass sie 1998 vor dem unüberwachten und unregulierten Handel mit Finanzderivaten gewarnt hatte.

Nicht nur die Ökonomen schwiegen. Wo waren die Wirtschaftsjournalisten, als Herr Ackermann Renditen von 25 Prozent auf das Eigenkapital seiner Deutschen Bank ankündigte? Jeder Volkswirtschaftsstudent weiß aus der Einführung in die Finanztheorie, dass dieses Versprechen auf Dauer mit ganz erheblichen Risiken verbunden ist.

Das Fatale aber ist, dass Vorstände den Wünschen ihrer Aktionäre nachgeben müssen. Und wenn US-amerikanische Banken eine Kapitalrendite von 25 Prozent erwirtschaften, will das natürlich auch die Deutsche Bank - sonst verliert sie ihre Wettbewerbsfähigkeit auf dem internationalen Kapitalmarkt und Herr Ackermann vielleicht auch seinen Job. "Solange die Musik gespielt wird, musst du weitertanzen": So drückte es der gescheiterte Citi-Banker Charles Prince aus.

Ich fürchte, dass sich das Glücksrad weiter drehen wird und muss. Diese Krise ist nicht die letzte Heimsuchung ihrer Art. Die nächste lauert schon um die Ecke. Wir können bestenfalls versuchen, den Kollateralschaden intelligent zu begrenzen und die Kosten so eng wie möglich mit den Verursachern zu verbinden. Und deshalb müssen wir die richtigen Konsequenzen aus den Fehlern ziehen.

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