Islam "Die Männer stehen über ihnen"
Als Hülya Yilmaz aus der Ankunftshalle des Flughafens tritt, ist ihr speiübel. Vor ihr steht ihr Ehemann. Er hat kaum noch Haare auf dem Kopf, sein Bauch wölbt sich über den Gürtel. Er lächelt sie an. An diesem Wintertag im fahlen deutschen Morgenlicht sieht er noch unattraktiver aus, als sie ihn in Erinnerung hatte.
Er ist Mitte 60, sie Anfang 20. Er ist hässlich, sie ist schön. Er wird bald mit ihr schlafen wollen. Sie wird protestieren. Aber das tut nichts zur Sache. Sie gehört ihm. Ihr Vater hat sie von der Südtürkei nach Norddeutschland verheiratet. Sie könne sich glücklich schätzen, dass eine wie sie überhaupt noch einen Mann abbekommt. Das hat er gesagt. "Wahrscheinlich sogar geglaubt", sagt sie fünf Jahre später. Es war damals ihre zweite Zwangsheirat.
Meltem Dogan war noch nie verheiratet. "Da war bisher keiner dabei, der in Frage gekommen wäre", sagt sie. Die 30-jährige Türkin aus Niedersachsen hatte immer wieder Beziehungen. Im Moment ist sie Single, geht viel aus. Flirtet. Ihre Eltern sähen es ganz gern, wenn sie heiraten würde. "Aber das entscheide immer noch ich", sagt sie und lacht.
Die beiden sitzen in Meltems Büro, einem hellen Raum mit Blick zum Hinterhof, zwei Kaffeetassen vor sich. Beide tragen Jeans und Turnschuhe, die langen schwarzen Haare offen.
Sie haben sich über eine Telefonnummer kennengelernt: 0800-0667-888.
Wer dort anruft, landet beim niedersächsischen "Krisentelefon gegen Zwangsheirat", einer sozialen Einrichtung für notleidende Frauen und Mädchen. Für diejenigen, die Schutz suchen vor rachsüchtigen Ehemännern, gewalttätigen Brüdern, Cousins und Vätern. Sie bekommen dort Beratung, wie sie sich ein neues Leben aufbauen können.
"Für so etwas fehlt einem die Vorstellungskraft"
Meltem Dogan arbeitet beim Krisentelefon, seitdem sie ihr Jurastudium beendet hat. Hülya Yilmaz hat die Notrufnummer vor vier Jahren gewählt, nachdem sie ihren Mann verlassen hatte, immer in Panik, dass einer aus der Sippe sie finden könnte. Sie haben ihr mit Mord gedroht.
Deshalb nennt sie nie ihren echten Namen. Anonymität ist eines der höchsten Gebote beim Krisentelefon. Auch die drei Mitarbeiterinnen machen ihre richtigen Namen nicht öffentlich, damit keine Spur zu den Opfern führt. Eine Adresse ist im Internet nirgends zu finden, nur die Telefonnummer.
"Hülyas Erzählungen haben mich fassungslos gemacht", sagt Meltem. "Für so etwas fehlt einem die Vorstellungskraft."
Kindheit und Jugend der beiden Musliminnen hätten tatsächlich unterschiedlicher kaum verlaufen können. Während Hülyas Lebensgeschichte selbst die schlimmsten Vorurteile über unterdrückte Frauen im Islam bestätigt, ist Meltem unbeschwert und behütet aufgewachsen. Ihre Biografie passt so gar nicht zum Stereotyp der geknechteten Muslimin. Sie hatte Freiheiten, von denen Hülya bis vor einiger Zeit noch nicht einmal zu träumen wagte.
Die Erfahrungen der beiden Türkinnen zeigen, wie schwierig es ist, pauschal die Frage nach der Rolle der Frau im Islam zu beantworten. Wie viel Schuld trägt die Religion tatsächlich daran, dass Frauen wie Hülya so übel mitgespielt wird? Dass sie im Namen des Islam zwangsverheiratet, misshandelt, sogar ermordet werden? Warum hatte es Meltem so leicht und Hülya so schwer? Die beiden Frauen haben ihre eigenen Antworten auf diese Frage gefunden.
Im Koran wird die Frau meist im Kontext der Familie gesehen
Die Hitze in der Region Diyarbakir ist im Sommer so drückend, dass kaum jemand im Haus schlafen mag. Hülyas Familie wohnt in einem einfachen, weiß getünchten Gebäude. Möbel gibt es kaum, sie sitzen und essen auf dem Teppichboden. Auf dem Dach stehen zwei riesige Bettgestelle aus Metall, ein paar Matratzen liegen auf dem Boden. Darauf schlafen Hülya und ihre neun Geschwister in den Sommernächten. Oben weht ein leichter Wind, das macht die Hitze erträglicher.
Es ist besser, wenn die Kinder ausgeschlafen sind, sonst quengeln sie auf dem Feld. Sie arbeiten dann nicht gut.
Hülya weiß nicht mehr, wie alt sie war, als sie zum ersten Mal auf den Acker musste. Klein war sie, nicht älter als sechs oder sieben. Eine Schule hat sie in der Türkei nie von innen gesehen. Ihre beiden Brüder schon, wenn auch nur die Grundschule. Denn die Jungs in ihrem Dorf haben Rechte, die Mädchen nicht.
Im Koran gibt es viele Passagen, die sich auf die Rolle der Frau beziehen: Sie wird hauptsächlich im Kontext der Familie gesehen, als Mutter, Tochter oder Ehefrau.
Einige Stellen verheißen den Frauen nichts Gutes: "Die Männer stehen über ihnen", beginnt ein Vers.
Auch gibt es eine Vielzahl von frauenfeindlichen Hadithen, also überlieferten Geschichten aus dem Leben des Propheten, die als moralische Richtschnur für Muslime gelten. "Ich hinterlasse dem Manne keinen schädlicheren Unruhestifter als die Frauen", lautet etwa ein Hadith. Eine Vorlage für jeden Mann, der sich überlegen fühlen möchte.
"Einfach gewohnt, recht zu haben und bedient zu werden"
Es existieren jedoch auch Überlieferungen, die den Mann ermahnen, seine Frau gut zu behandeln: "Der ist der beste unter euch, der zu seinen Frauen am besten ist."
Hülya glaubt, dass die Männer in ihrer Familie weder die einen noch die anderen Passagen wirklich kennen. "Sie sind es einfach gewohnt, dass sie immer recht haben, und dass sie bedient werden", sagt sie. "So ist die Tradition bei uns auf dem Land. Und das wird von Generation zu Generation so weitergegeben." Was in den religiösen Schriften stehe, sei nebensächlich. "Die Männer in meiner Familie haben sich auch nie darum geschert, dass Muslime keinen Alkohol trinken sollen."
Auch Meltem macht vor allem die rückständige, feudale Lebensweise für das verantwortlich, was den Frauen widerfährt, die bei ihr anrufen. "Das Problem sind die patriarchalischen Strukturen", sagt sie. "Vorlagen hierfür gibt es nicht nur im Koran, sondern genauso auch in der Bibel." So gilt die Frau im Alten Testament als "Besitz des Mannes", und selbst im Neuen Testament ist noch die Rede davon, dass die Frau nur "ein Abglanz" des Mannes sei.
Die Mitarbeiterinnen des Krisentelefons arbeiten deshalb nach einem "feministischen Ansatz", wie sie sagen. Es gehe nicht um Religionsfragen, sondern darum, Frauen in ihrem Kampf gegen diese patriarchalischen Strukturen zu unterstützen. Auch zwangsverheiratete Russisch-Orthodoxe und irakische Christinnen haben die Notrufnummer schon gewählt. "Die haben ähnliche Geschichten zu erzählen wie die Musliminnen", sagt die Türkin.
"Wie bei den Christen, die zweimal im Jahr in die Kirche gehen"
Meltem wächst gemeinsam mit ihrem jüngeren Bruder in einem Vorort von Hannover in einer kleinen Eigentumswohnung auf. Vor ihrem Haus gibt es einen Garten mit Schaukel. Sie hat ihr eigenes Kinderzimmer - vollgepackt mit Spielsachen und Büchern. Während Hülya auf dem Feld Mais erntet, spielt Meltem Memory.
Als sie ins Teenageralter kommt, sind ihre Eltern manchmal "ein bisschen übervorsorglich". Ihr Vater holt sie von jeder Party persönlich ab. "Das war nervig, aber ich konnte es auch verstehen", sagt Meltem. "Die haben sich halt Sorgen gemacht."
Dogans sind Muslime, aber nicht sehr religiös. "Bei uns ist das wahrscheinlich so wie bei den Christen, die zweimal im Jahr in die Kirche gehen", sagt Meltem. "An Weihnachten und an Ostern." Solche Traditionen gebe es auch im Islam, das gemeinsame Fastenbrechen etwa.
Der Vater ist Ende der Sechziger nach Deutschland gekommen. In den ersten Jahren arbeitet er als Übersetzer für Griechisch, Türkisch und Deutsch. Eine Zeitlang besitzt er ein Reisebüro, später wird er Maschinenschlosser. Seine Frau lernt er im Urlaub in der türkischen Küstenstadt Izmir kennen. Bald darauf folgt die Hochzeit. "Aus Liebe", wie Meltem sagt. Und so will sie es auch einmal halten.
Verprügelt sie, weil sie Schande über die Familie gebracht haben
Als Hülya in Südostanatolien 16 Jahre alt wird, entscheidet ihr Vater, wen sie heiraten soll. Die Wahl fällt auf einen ihrer Cousins. Er ist in Hülyas Alter. "Hätte schlimmer kommen können", findet sie. Die Hochzeit bietet ihr wenigsten die Chance, ihrem cholerischen Vater zu entkommen. Ein Imam verheiratet die Jugendlichen. Hülya zieht ins Nachbardorf zu der neuen Großfamilie.
Von nun an muss sie nahezu allein den Haushalt schmeißen. Zwischen vier und fünf Uhr morgens steht sie auf, facht den Ofen an, macht sauber und kocht Schwarztee. "Du bist da nichts anderes als eine Arbeitsmaschine", sagt sie. "Und wenn du keine Schläge abbekommst, dann hast du es gut erwischt."
Hülya beklagt sich nicht. Auch nicht, als sich ihr Mann nach zwei Jahren in eine andere verliebt und auch diese Frau heiraten möchte. Das geht problemlos, weil die Hochzeit zwischen ihm und Hülya nicht amtlich ist. Der türkische Staat hat nie davon erfahren.
Hülya sagt "kein Problem". Sie gibt ihr Okay, dass die andere Frau einziehen darf. Vielleicht, so hofft sie, bekomme sie dann Hilfe im Haushalt. Die Konkurrentin aber weigert sich, in einer polygamen Ehe zu leben.
Hülya wird zurückgegeben. Ihr Ehemann liefert sie bei ihrem Vater ab. Gründe hat er genug: Sie habe ihm auch nach zwei Jahren noch keinen Sohn geschenkt. Und sie habe schlecht gearbeitet. Hülyas Vater ist rasend. Verprügelt sie, weil sie Schande über die Familie gebracht habe.
In der Türkei sind Religion und Staat strikt getrennt
In der Türkei sind nach offiziellen Angaben 99 Prozent der Bevölkerung muslimischen Glaubens. Religion und Staat sind jedoch strikt getrennt. Keine Muslimin mit Kopftuch darf eine Behörde, Schule oder Universität betreten. Polygamie und auch reine Imamehen sind in der Türkei offiziell verboten. Es gelten weltliche Gesetzbücher, die Scharia spielt keine Rolle.
In den Großstädten gibt es viele selbstbewusste Musliminnen, die emanzipiert ihr Leben gestalten. Frauen in gehobenen Positionen sind in vielen Unternehmen eine Selbstverständlichkeit. 1993 wurde Tansu Çiller Regierungschefin, lange vor Angela Merkel.
In den ländlichen Regionen im Südosten gibt es jedoch nach wie vor Familien, die sich wie die Yilmaz' den Regeln des Staates und der modernen Gesellschaft widersetzen. Schätzungen zufolge ist jede zehnte Ehe arrangiert. "Manche Frauen halten das für völlig normal", sagt Meltem.
Sie vermutet, dass es nicht wenige Türken gibt, die sich das islamische Recht zurückwünschen. "Nicht, weil sie besonders religiös sind", sagt die Juristin, "sondern weil sie glauben, dass sie dann noch mehr Macht über ihre Frauen haben."
Hülya weiß nicht, was passieren würde, wenn ihre Familie sie fände. Sie ist mittlerweile von ihrem mehr als 40 Jahre älteren Ehemann geschieden. Hilfe hat sie vom Krisentelefon bekommen, die ihr einen Anwalt besorgten.
Muslimin und frei
In den Augen ihrer Eltern hat sie gleich zweimal die Familienehre verletzt. Für ihren ersten Mann war sie nicht gut genug. Und dem zweiten ist sie davongelaufen. Dabei hatte er Geld für sie bezahlt. Hülya weiß das, weil sie ein Gespräch der Männer belauscht hatte, als es um ihren Verkauf nach Deutschland ging. "Ein paar hundert Euro waren es", sagt sie. Viel mehr sei sie nicht mehr wert gewesen.
Während ihrer Flucht in Deutschland hat sie einmal zu Hause angerufen. Ihr Bruder war dran. Er sagte, er werde sie finden, und das sei ihr Ende.
Wahrscheinlich aber würde er sie nach fünf Jahren gar nicht mehr wiedererkennen. Hülya ist nicht mehr die, die sie einmal war. Sie ist selbstbewusster geworden. Ihr Gang ist aufrechter, und sie spricht nicht mehr so leise wie früher. Sie trägt kein Kopftuch mehr und keinen weiten Mantel. Hülya liebt enge Jeans und bunte Oberteile.
Sie hat jetzt eine eigene Wohnung, und sie hat lesen und schreiben gelernt. Auch ihr Deutsch ist mittlerweile so gut, dass sie sich zurechtfinden kann. Sie macht einen Integrationskurs, will einen Schulabschluss versuchen und eine Ausbildung. Ihr Traum wäre ein Jurastudium, um wie Meltem anderen Frauen zu helfen, etwa wenn sie sich scheiden lassen wollen, sagt sie.
Hülya hat sich trotz all ihrer Erlebnisse nicht von ihrer Religion abgewandt. Diese sei Teil von ihr und lasse sich nicht so einfach abstreifen wie ihr Kopftuch. Hülya ist nach wie vor Muslimin. Und sie ist frei.