Gummi für das Empire Geschichte eines Schmuggels

Rohstoffe: Warum ein Engländer Kautschuksamen aus Brasilien schmuggelte.
Von Thorsten Oltmer
Aufnahme circa 1913: Sir Henry Wickham vor einem Gummibaum

Aufnahme circa 1913: Sir Henry Wickham vor einem Gummibaum

Foto: Hulton Archive/Getty Images

Anfang August 1866 verlässt Henry Wickham London, er entgeht der großen Choleraepidemie der Hauptstadt. Das Ziel des 20-Jährigen aus Hampstead ist kein gesünderer Ort: Er fährt an die berüchtigte sumpfige Küste Nicaraguas, um exotische Vögel zu jagen. Die Bälge und wertvollen Schwanzfedern schickt er heim zu seiner Mutter, einer Hutmacherin. Wickham erlebt Tod und Gewalt, nach einem Jahr reist er zurück. Bald zieht es ihn wieder nach Lateinamerika, er versucht sich als Pflanzer und Kautschuksammler. Das Leben ist hart, ständig droht der Ruin.

In London interessiert man sich unterdessen verstärkt für den Kautschuk aus den Tiefen des Amazonas-Urwalds, der in großen Ballen nach Europa verschifft wird.

Der Bedarf ist enorm, besonders seit der US-Chemiker Charles Goodyear 1839 die Vulkanisation entdeckt hat, die beständigen Gummi ermöglicht. Dampfmaschinen sind auf Gummidichtungen angewiesen, Schläuche werden aus dem haltbaren und flexiblen Material gefertigt, ebenso die Ummantelung der Unterseekabel. Die Preise explodieren. Die Briten wollen deshalb von Lieferungen aus Südamerika unabhängig werden und eigene Nachschubquellen aufbauen.

Top-Qualität aus Brasilien

Eine zentrale Rolle spielen dabei die Royal Botanical Gardens. Ihr Direktor William Hooker verändert sie grundlegend: Aus den Lustgärten im Vorort Kew wird ein Instrument zur Durchsetzung imperialer Wirtschaftsinteressen. Investoren und Pflanzer holen sich hier den Rat von Hookers Fachleuten, die ihnen erklären, welche nützlichen Gewächse wo angebaut werden können. In riesigen Treibhäusern sprießen Tausende Arten, man verschickt Sämlinge in alle Teile des Empire.

Aus SPIEGEL GESCHICHTE 1/2016

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Naturgummi lässt sich zwar aus dem Saft vieler Pflanzen weltweit gewinnen, aber die beste Qualität, der "Pará fine", kommt aus Brasilien. Das Land hält das Monopol und verteidigt es eifersüchtig, schließlich hängt der Wohlstand der Gummibarone davon ab. Bei den Seringuieros, den Latexsaftzapfern, die im Urwald ihr Leben riskieren, kommt vom Reichtum nichts an.

Bald sind sich die Briten sicher, die Quelle des Pará fine identifiziert zu haben. Es ist Hevea brasiliensis, der brasilianische Gummibaum. Und rasch fällt die Entscheidung: In einem Akt staatlich sanktionierter Biopiraterie sollen Samen nach England geschmuggelt werden. Mehrere Expeditionen machen sich auf den Weg - erfolglos. Die Samen sind empfindlich, werden ranzig und faulen. Schließlich erinnert man sich an Wickham. Der hatte ein Buch über seine Abenteuer geschrieben, darin enthalten sind Skizzen von Blättern und Samen der Hevea. Das wird Wickhams Chance, er ist der "man on the spot", wie ihn sein Biograf Joe Jackson charakterisiert, der richtige Mann am richtigen Ort.

Innerhalb weniger Monate sammelt er 70.000 Samen und bringt sie an Bord des Dampfschiffs "SS Amazonas". Er deklariert sie als "exotische und empfindliche Pflanzenmuster für den botanischen Garten". Von Manaus aus begleitet Wickham die verderbliche Fracht - sorgfältig in Bananenblätter und Flechtkörbe verpackt - via Liverpool nach Kew Gardens. Dort kann ein kleiner Teil der Samen zum Keimen gebracht werden, und bald schon wachsen erste Bäume in Plantagen auf Ceylon und in Malaya. 1910 gibt es dort bereits 56 Millionen Bäume, ein Riesengeschäft, Wickham hat lediglich 700 Pfund erhalten. Das brasilianische Monopol kollabiert.

Der erfolgreiche Schmuggler Wickham wird in Großbritannien erst 1920, acht Jahre vor seinem Tod, für den Einsatz geadelt. In Brasilen ist Sir Henry lange tief verhasst - er hat das Land nie wieder betreten.

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