
Karl der Große: Der mächtigste Kaiser des Mittelalters
Karl der Große Geheimnis eines Weihnachtstages
Am Weihnachtstag des Jahres 800 setzte Papst Leo III. in der Peterskirche zu Rom dem Frankenkönig Karl eine Krone aufs Haupt und machte ihn zum Kaiser. An dem Ereignis ist wissenschaftlich nicht zu rütteln. Und doch gibt der Akt Historikern bis heute Rätsel auf: Die Vorgeschichte und Hintergründe, die Bedeutung, die Folgen der Krönung - fast alles ist umstritten.
Hatte Karl selbst überhaupt Kaiser werden wollen? Und wenn ja, seit wann und warum? Trachtete er danach, das westliche Kaisertum als Institution wiederzuerrichten? Oder ging es ihm zunächst nur um eine persönliche Ehrung, nur allzu vergänglich im Angesicht der Weltgeschichte? Hatte Leo III. den Frankenkönig vielleicht gar mit der Krönung überrumpelt, den hohen Feiertag schnöde für eigene Zwecke missbraucht? Die Kaiserkrönung entzweit die Geschichtswissenschaft bis heute.
Einer, der es hätte wissen können, war Einhard. Um 770 im Maingau geboren, als Kind im Kloster Fulda erzogen, kam Einhard spätestens 796 an Karls Hof. Hier machte der kleinwüchsige, hochbegabte Jüngling rasch Karriere. Im Jahr 800 gehörte er bereits zum engeren Zirkel der Macht. Vielleicht hat er sogar an der Kaiserkrönung in Rom teilgenommen. In jedem Falle aber pflegte er bis zu Karls Tod Ende Januar 814 einen engen, ja vertrauten Umgang mit dem Herrscher. Die wichtigen politischen Entscheidungen jener Zeit hat er mitgestaltet.
Einhard hätte also wissen können, wie und warum Karl zum Kaiser geworden war. Doch was Einhard darüber Ende der 820er Jahre in seiner Karlsbiografie erzählt, bleibt so lapidar wie rätselhaft: Karls letzte Reise, notierte Einhard in elegantem Latein, "wurde auch dadurch veranlasst, dass sich Papst Leo durch die vielen Misshandlungen, die er von Seiten der Römer erlitten hatte (indem sie ihm nämlich die Augen ausrissen und die Zunge abschnitten), genötigt sah, den König um Schutz anzuflehen".
Über dessen Besuch am Tiber heißt es weiter: "Er kam also nach Rom und brauchte daselbst den ganzen Winter, um die Kirche aus der gewaltigen Zerrüttung zu reißen, in die sie verfallen war. Damals erhielt er den Titel 'Kaiser und Augustus'. Das war ihm zuerst so zuwider, dass er versicherte: Er hätte an jenem Tage, obgleich es ein hohes Fest war, die Kirche nicht betreten, wenn er zuvor um die Absicht des Papstes hätte wissen können. Den Hass der römischen Kaiser, die ihm die Annahme des Kaisertitels sehr verübelten, trug er mit großer Gelassenheit."
Mehr Worte war dem Karlsbiografen die Kaiserkrönung nicht wert. Sein Bericht ist kryptisch genug: Was könnte Einhard gemeint haben? Hatte Karl nur das Zeremoniell der Kaiserkrönung missfallen, das der Papst am Weihnachtstag des Jahres 800 gestaltet hatte? Hatte er also zwar Kaiser werden wollen, aber auf andere Weise? Vielleicht in einer Form, die den "Kaiser der Römer", der in Byzanz herrschte, nicht derart herausgefordert hätte? Oder hatte Karl noch während der Feierstunde gar nicht mit der Krone gerechnet?
Jede Partei hatte ihre Geschichte dem Frankenkönig zu erzählen
Für denselben Tag war die Königskrönung seines gleichnamigen Sohns vorgesehen. Hatte Leo diesen lange geplanten Festakt zweckentfremdet, um gleich auch Vater Karl eine Krone aufs Haupt zu setzen? War der Franke also ein Kaiser wider Willen? Vielleicht wollte Einhard, höfisch gebildet, wie er war, seinen Lesern auch nur zeigen: Der große Karl hatte gewusst, was sich gehört. Nach einer hohen Würde durfte man nicht streben, man hatte sich zu sträuben! Wollte Einhard seinen Karl also lediglich mit jener Bescheidenheit ausstatten, die sich für einen guten Christen ziemte? All dies haben Historiker vermutet, alles ist denkbar. Nur ein glücklicher Zufallsfund könnte größere Sicherheit bringen: Erst neue zeitgenössische Dokumente könnten zu klären helfen, was Einhard gemeint hat.
Nicht minder rätselhaft bleibt das, was Einhard gleich zu Beginn seines Berichts mit wenigen Worten andeutet: das Attentat auf Leo III., das im Frühjahr 799 die Vorgeschichte der Kaiserkrönung eröffnete. Einhard behauptet rundheraus, die Römer hätten Leo die Zunge abgeschnitten und die Augen herausgerissen. Tatsächlich könnten so (oder so ähnlich) die ersten Nachrichten gelautet haben, die im Mai 799 über die Alpen zu den Franken drangen: In Rom hätten hochrangige Geistliche gegen den Papst aufbegehrt und ihn verstümmelt. Doch muss Einhard, als er Jahre später seine Karlsbiografie schrieb, es längst besser gewusst haben.
Aus den spärlichen Berichten, die überliefert sind, lässt sich einigermaßen sicher das Folgende rekonstruieren: Eine Fraktion von Verwandten und Vertrauten des vorherigen Papstes Hadrian begehrte im April 799 gegen Leo III. auf. Die beiden Führer der Rebellen gehörten zur Elite der römischen Kirche: Campulus war als Sacellarius zuständig für die päpstlichen Finanzen; Paschalis, ein Neffe Hadrians, leitete als Primicerius Leos Verwaltung.
Am 25. April zog der Papst in der jährlichen Bittprozession der Laetania maior von St. Laurentius nach St. Peter. Da schlugen die Täter zu: Sie überfielen den Papst, versuchten, ihm Augen und Zunge herauszureißen - und setzten Leo im Kloster St. Stephan und Silvester gefangen. Ihr Ziel war offenbar, ihn seines hohen Amtes zu entheben. Stumm und blind hätte Leo nicht länger Papst sein können.
In jener fernen Zeit, lange vor Handy, Twitter und YouTube, gingen Wochen ins Land, bis eine Nachricht aus Rom in die Weiten des Frankenreiches zwischen Pyrenäen und Elbe gelangte. Und schneller als jeder Eilbote reiste das Gerücht: Wieder und wieder von Mund zu Ohr getragen, vergröberte und verzerrte es das Geschehen bis zur Unkenntlichkeit. Zwar brachten Leos Leute und die Rebellen bald Gesandte auf den Weg nach Norden, zu Karl; nur hatte jede Partei dem Frankenkönig ihre eigene Geschichte zu erzählen.
Wie und warum konnte der hilflose Papst seinen Gegnern entkommen?
Der Angelsachse Alkuin - ehedem ein Ratgeber Karls bei Hof, nun Abt von Saint-Martin in Tours - klagte bitter, wie wenig er erfahre. Karl aber und seiner Entourage bei Hof erging es vorerst kaum besser. Was die Boten der Rebellen dem Papst vorwarfen, klang immerhin haarsträubend: Alkuin verbrannte in Tours vorsichtshalber das Schreiben, in dem ihm sein Freund, der Erzbischof Arn von Salzburg, die Vorwürfe kolportiert hatte. Historiker bedauern die Tat bis heute. Denn so wissen sie nur Ungefähres: Man bezichtigte Leo des Meineids und des Ehebruchs.
Erst mit der Zeit wurden die Informationen präziser und verlässlicher. Spätestens im Juli 799 wusste man zumindest vor Ort, in Rom: Leo hatte bei dem Attentat weder Zunge noch Augen verloren. Der Papst war mitnichten verstümmelt und amtsunfähig. Er war so eloquent und scharfsichtig wie zuvor.
Wie aber soll man sich das vorstellen? Da ist der Papst über Tage und Wochen wehrlos den Verschwörern ausgeliefert. Sie sind offenkundig bereit, ihn mit roher Gewalt amtsunfähig zu machen. Und doch schaffen sie es nicht, ihrem Gefangenen fachgerecht die Zunge herauszuschneiden und die Augen auszustechen! Es ist das nächste große Rätsel: Schon die Zeitgenossen wussten die widersprüchlichen Informationen nicht besser zu harmonisieren als durch ein Heilungswunder.
Andere - wie Einhard - übergingen die merkwürdige Heilung lieber gleich mit Stillschweigen. Die Historiker des 21. Jahrhunderts aber wollen nicht mehr recht an Wunder glauben und ringen verzweifelt um Erklärungen. Hatte sich Leo beim Attentat geschickt verstellt? Merkten die Aufrührer zu spät, dass sie bei ihrer Bluttat gepatzt hatten? Oder war der Anschlag auf den Papst gar inszeniert, nichts als ein Schauspiel? War von vornherein geplant, Leo nur zum Schein, nicht aber wirklich zu verstümmeln? Vielleicht war das, was im Frühjahr 799 von Rom bis ins Frankenreich verbreitet wurde, aber auch schlicht ein böses Gerücht: Hatten Leos Anhänger selbst es gestreut, um Stimmung gegen die Rebellen zu machen?
Rätsel über Rätsel: Leo gelang die Flucht aus seinem Gefängnis. Wie und warum hatte der hilflose Papst seinen Gegnern entkommen können? Welche Rolle spielten dabei der Herzog Winigis von Spoleto, der Abt Wirund von Stablo, der Erzbischof Arn von Salzburg? Karl hatte die drei Männer gleich auf die ersten trüben Nachrichten hin nach Rom beordert, um die Lage zu sondieren. Die hochrangigen Emissäre sollten ihm verlässliche Informationen übermitteln.
Haben Leo und Karl damals über das Kaisertum verhandelt?
Schon ihr Erscheinen aber genügte offenbar, um die Gegner des Papstes zu verunsichern. Wahrscheinlich Anfang Juli 799 verlegten die Aufrührer ihren hohen Gefangenen aus dem Stephanskloster, im Norden der Stadt, nach St. Erasmus auf dem Monte Celio im Südosten - weiter fort also von den fränkischen Gesandten. Schon dürfte mancher Rebell am Erfolg gezweifelt haben. Einer von ihnen war ein gewisser Maurus: Er soll schließlich gemeinsam mit dem Kämmerer Albin dem Papst zur Flucht verholfen haben; so wollte es jedenfalls später ein Annalist im Frankenreich wissen.
Historiker stochern im Nebel der kargen Halbwahrheiten, die einige wenige Zeitgenossen so notierten, dass sie bis heute überliefert sind. Fest steht nur: Leo entkam seinen Feinden. Mit fränkischer Eskorte machte er sich erst auf den Weg nach Spoleto. Von dort zog er über die Alpen, zum König der Franken.
Karl weilte im Sommer 799 in Sachsen. Bereits im Juni - der König war nur prinzipiell, nicht im Detail im Bilde über das Geschehen in Rom - hatte er sich mit einem Heer auf den Weg in die notorisch rebellische Region gemacht. Nun beschloss er, den geflohenen Papst in Paderborn zu empfangen.
Der Ort war ein Symbol: Paderborn war ein fränkisches Zentrum inmitten jenes Landstrichs, den Karl und seine Männer in immer neuen Kriegszügen, mit nackter Gewalt, tödlichen Sanktionen und frommer Predigt seit den 770er Jahren dem Christentum erschlossen hatten. Im Hochsommer 799, als der Papst anreiste, dürften Karl und seine Entourage in Sachsen intensiv beraten haben. Wie sollte man auf die Vorgänge in Rom reagieren? Karl war mit Hadrian befreundet gewesen. Zwar hatte er Leo III. als Nachfolger anerkannt, doch war durchaus nicht selbstverständlich, dass er ihn jetzt gegen Hadrians Neffen unterstützen müsse. Sollte Karl also den Papst fallenlassen? Sollte er ihn stützen und schützen?
Als Leo im September 799 Paderborn erreichte, hatte Karl seine Entscheidung getroffen. Er ließ den Weitgereisten ehrenvoll empfangen. Schon das signalisierte: Karl wünschte Leo auch weiterhin als Bischof von Rom zu sehen.
Die Gespräche zwischen Papst und König am Zusammenfluss von Pader und Lippe dauerten nur wenige Tage. Und doch haben sie von jeher Historiker fasziniert: Haben Leo und Karl damals über das Kaisertum verhandelt? War die Kaiserkrone der Lohn für Karls Hilfe gegen Leos Feinde? War sie der Preis, den Leo zahlen musste, um Papst zu bleiben? Keiner der Protagonisten, kein Augenzeuge, ja überhaupt kein Zeitgenosse hat uns überliefert, worüber Karl und Leo in jenen Tagen gesprochen haben.
Der Papst ließ Karl feierlich in Empfang nehmen
So fischen Historiker wieder in ihren trüben Quellen nach Plausibilität: Muss denn Leo in seiner Situation nicht ein kräftiges Interesse daran gehabt haben, Karl zum Kaiser zu machen? Und konnte nicht einzig ein Kaiser in unanfechtbarer Weise über die Rebellen Paschalis und Campulus in Rom zu Gericht sitzen? Muss man dann nicht annehmen, dass König und Papst in Paderborn in irgendeiner Form über das Kaisertum verhandelt haben?
Andererseits: Reichte die knappe Zeit, reichten die wenigen Tage in Ostwestfalen, um solide eine Entscheidung von derartiger Tragweite zu beraten? Und wenn man die Krönung verabredet hatte - warum begleitete Karl den Papst dann nicht gleich nach Rom? Stattdessen schickte Karl ihn allein in die Apostelstadt zurück. Erst im August des folgenden Jahres würde er selbst in Mainz die Heerfahrt nach Italien anordnen. Ziel: Rom.
Die Fahrt dorthin hatte bereits imperiale Züge. Karl machte in Ravenna Station, in der Spätantike zeitweilig Residenz römischer Kaiser. Und der Papst ließ Karl am zwölften Meilenstein vor der Stadt feierlich einholen - ein Empfang, wie er seit alters her für Kaiser üblich gewesen war. Auch blieb Leo und Karl Ende 800, nach der Ankunft des Königs in Rom, noch hinreichend Zeit, um über das Kaisertum und den Krönungsakt im Einzelnen zu verhandeln.
Vor der Krönung aber mussten erst die schweren Vorwürfe gegen den Koronator aus der Welt geschafft werden. Die Sache war heikel. Ein Gerichtsverfahren gegen den Papst war im Kirchenrecht nicht vorgesehen: "Der erste Sitz wird von niemandem gerichtet!" Der Satz, eine Fälschung der Zeit um 500, galt mittlerweile als gutes altes Recht. So konnte, so wollte sich Leo keinem Gericht stellen. Stattdessen leistete er am 23. Dezember des Jahres 800 einen Eid: Leo schwor, er habe das, was man ihm vorwarf, nicht getan. Das Ritual war alt, es wurde damals auch sonst häufig praktiziert. Dass nun sogar der Papst es nutzte, war ein praktikabler Ausweg: Der vorweihnachtliche Reinigungseid sicherte Leo das Amt. Zwei Tage später krönte er Karl zum Kaiser.
Was genau an jenem Weihnachtstag des Jahres 800 in der Peterskirche geschah, können Historiker nur in groben Zügen aus wenigen zeitnahen Berichten rekonstruieren. Die Geistlichen an Karls Hof notierten in einem offiziösen Jahresbericht, den sie im Reich zu verbreiten gedachten: "Als der König sich am heiligen Weihnachtstag gerade vom Gebet vor dem Grab des seligen Apostels Petrus zur Messe erhob, setzte ihm Papst Leo eine Krone aufs Haupt. Und das ganze Römervolk rief dazu: 'Dem erhabenen Karl, dem von Gott gekrönten und friedenbringenden Kaiser der Römer Leben und Sieg'! Und nach den lobenden Zurufen wurde er vom Papst nach der Sitte der alten Kaiser mit einem Kniefall geehrt und fortan, unter Weglassung des Titels 'Patricius', 'Kaiser' und 'Augustus' genannt." An Karls Hof legte man Wert auf die Kontinuität zu den alten Kaisern und den Kniefall des Papstes. Über die politischen Hintergründe des Geschehens verloren die Annalisten kein Wort.
Karl wünschte Leo weiterhin als Bischof von Rom zu sehen
Anderes wusste der Erzbischof Richbod von Trier zu erzählen: Eine Synode unter Leitung Leos habe die Kaiserkrönung beschlossen. In Byzanz nämlich habe seinerzeit nur eine Frau regiert, Karl aber habe alle Residenzen der alten Kaiser in der Italia, der Gallia und der Germania besessen. Den Bitten der Geistlichen und des "gesamten christlichen Volkes" habe sich König Karl nicht verweigern wollen.
Wieder anderes berichtete jener römische Geistliche, der im Buch der Päpste nach Leos Tod 816 dessen Biografie eintrug. Er schrieb den Römern einen kräftigen Anteil am Geschehen zu: Leo habe Karl eine überaus kostbare Krone aufs Haupt gesetzt; darauf hätten einmütig alle römischen Gläubigen dreimal gerufen: "Karl, dem allermildesten, von Gott gekrönten Augustus, dem großen und friedenbringenden Kaiser, Leben und Sieg!" So sei Karl "von allen" zum "Kaiser der Römer" gemacht worden.
Von einem Fußfall des Papstes berichtete der Geistliche bezeichnenderweise nichts. Verschwieg der Römer den Akt wider besseres Wissen? Oder hatte, umgekehrt, sein fränkischer Kollege am Karlshof den Kniefall erfunden, um seinen Lesern die Hierarchie zwischen Papst und Kaiser vor Augen zu stellen?
Und dann ist da noch die berüchtigte "Kölner Notiz". Sie steht in einem Buch, das einst dem Erzbischof Hildebald von Köln gehört hatte. Heute liegt der Codex in der Erzbischöflichen Diözesan- und Dombibliothek in Köln, Signatur: Cod. 83 (II). Hildebald war ein wichtiger und wohlinformierter Mann: Als Erzkapellan stand er den Geistlichen an Karls Hof vor. Eine kurze historisch-chronologische Notiz im Kölner Codex 83 (II) endet mit der berühmten Datumsangabe: "... bis zu diesem 31. Jahr der Herrschaft des Königs Karl, diesem Jahr, ... in dem Gesandte aus Griechenland kamen, damit sie ihm das ,imperium' übertrügen".
So knapp die Formulierung ist, so aufregend ist sie für Mediävisten. Denn die Datierung führt in das Jahr 798, also in die Zeit vor der Kaiserkrönung; und sie wurde wohl auch damals schon in Hildebalds Buch eingetragen. Mancher Historiker ist deshalb geneigt, hier den wahren politischen Hintergrund des Krönungsaktes zu sehen: Gesandte der byzantinischen Kaiserin Irene hätten Karl schon 798 das "imperium" angetragen, das "Kaisertum". Nicht ein von Rebellen bedrängter Papst, sondern eine Kaiserin am Bosporus mit zweifelhafter Legitimität stünde dann hinter der Wiederbelebung des Kaisertums im Westen.
Doch ist auch diese kleine Notiz alles andere als eindeutig. Zwar ist die Datierung des Eintrags sicher; das lateinische Wort "imperium" aber kann vieles heißen. Es bedeutet "Kaisertum", aber auch "Macht" oder "Befehlsgewalt", "Befehl" oder "Anordnung" - oder ganz konkret: "militärisches Kommando". So belegt die "Kölner Notiz" keineswegs zweifelsfrei, dass Irene und Karl über das Kaisertum verhandelt haben.
Die kryptische Bemerkung Einhards, das merkwürdig verpatzte Attentat auf Leo, die schwer erklärliche Flucht des Papstes, das Spitzengespräch von Paderborn, dessen Inhalt nicht überliefert ist, die verspätete Reise Karls nach Rom, endlich die widersprüchlichen Berichte über den Krönungsakt und die uneindeutige "Kölner Notiz": Aus diesem trüben Gemisch müssen Historiker eine einigermaßen plausible Geschichte formen.
Aber schlimmer noch: Im 21. Jahrhundert interessieren an einer solchen Geschichte vor allem die Ziele, Motive, Absichten der Akteure, auch die Hintergründe und Ursachen des Geschehens. Gerade diese Fragen aber blendeten die Zeitgenossen Karls aus, auf deren Aussagen die Historiker zurückgeworfen sind. Weder der Frankenkönig selbst noch einer seiner Vertrauten hat uns überliefert, ob Karl überhaupt Kaiser werden wollte - und wenn ja, warum eigentlich. Weder Leo III. selbst noch einer seiner römischen Geistlichen hat uns überliefert, warum der Papst Karl zum Kaiser gekrönt hat.
Was bleibt, sind Annäherungen. Jeder Historiker fügt erst die rätselhaften, auch widersprüchlichen Splitter von Informationen über das Geschehen der Jahre 799/800 nach bestem Wissen und Gewissen zusammen. Dann füllt er jene Lücken, die in der Überlieferung klaffen, dergestalt aus, dass er eine plausible, ja möglichst interessante Geschichte zu erzählen vermag.
Jedes Ergebnis bleibt zwangsläufig These - an Thesen aber hat es keinen Mangel. Der Paderborner Mediävist Jörg Jarnut beispielsweise hat vermutet, Karl habe das Attentat auf Leo geplant, zumindest aber billigend in Kauf genommen. Auf diese Weise habe Karl den Papst in eine Position der Schwäche manövrieren wollen, die es ihm selbst erlaubte, die Kaiserkrone zu erhalten.
Karl könnte geschickt in sein Kaisertum hineingestolpert sein
Jarnuts Frankfurter Kollege Johannes Fried hat auf die "Kölner Notiz" verwiesen und die Ansicht vertreten, Karl habe schon seit 798 mit Irene über das "imperium", das "Kaisertum", verhandelt. Weil er die Machtfülle eines Kaisers innegehabt habe, sei es für Karl wichtig gewesen, auch den Titel "Kaiser" zu erhalten. Denn die gottgewollte Ordnung habe gefordert, dass eine Sache und ihr Name übereinstimmten. Karl habe diese Ordnung wiederherstellen wollen, weil er das Jüngste Gericht nahe glaubte.
Wieder anders hat es der Oxforder Mediävist Henry Mayr-Harting gesehen: Karl habe nach jahrzehntelangen, opferreichen Kämpfen in Sachsen im Kaisertum eine Möglichkeit erblickt, die störrischen Sachsen endlich in seine Herrschaft zu integrieren. Einem König der Franken hätten die Sachsen sich nicht unterwerfen wollen. Weit leichter aber hätten sie einen Kaiser, der viele Völker regierte, als ihren Herrn akzeptieren können. Sie hätten dann gleichsam auf Augenhöhe mit den Franken gestanden.
Die Überlieferung erlaubt aber auch eine viel nüchternere Sicht: Karls Kaisertum könnte ebenso gut Resultat gewesen sein einer unvorhersehbaren Folge unerwarteter Ereignisse, Gerüchte, soliden Halbwissens und unintendierter Nebenwirkungen von Entscheidungen, die auf derart schlechter Informationsbasis hatten getroffen werden müssen. Der späte Bericht des Höflings Einhard wäre dann zwar pointiert. Aber der kleinwüchsige Franke aus dem Maingau hätte doch etwas Wesentliches getroffen: Karl war vielleicht kein Kaiser wider Willen; aber er könnte ohne Plan recht geschickt in sein Kaisertum hineingestolpert sein.