Spaß an Folter und Metzelei Waren die Menschen im Mittelalter Sadisten?

Moderner "Ritter" bei der WM der Mittelalterlichen Ritterkämpfe
Foto: Matthias Oesterle/ picture alliance / Matthias Oesterle/ZUMA Wire/dpaManuel Braun ist Professor für Germanistische Mediävistik an der Universität Stuttgart und hat einen Sammelband über Gewalt im Mittelalter herausgegeben.
SPIEGEL: Wenn wir heute brutale Gewalt erleben, zum Beispiel die Gräueltaten des "Islamischen Staats", dann heißt es oft: Das ist mittelalterlich. Stimmt der Vergleich, war das Zeitalter so grausam?
Braun: Vermutlich schon. Der amerikanische Wissenschaftler Steven Pinker hat gezeigt, dass die Mordrate in Europa zwischen dem 14. Jahrhundert und heute um das 10- bis 100-Fache gesunken ist: Im mittelalterlichen Oxford kamen von 100.000 Einwohnern jährlich 110 gewaltsam zu Tode. Im 20. Jahrhundert war es nur noch einer.
SPIEGEL: Warum war Brutalität so verbreitet?
Braun: Es gab noch kein Gewaltmonopol des Staates, deshalb musste man sein Recht, oder das, was man dafür hielt, selbst durchsetzen. Damals hat ein Adliger eine Erbstreitigkeit im Wortsinn ausgefochten: Er kündigte seinem Gegner die Fehde an, brachte dessen Bauern um, belagerte die Burg. Heute würde er vor Gericht gehen.
SPIEGEL: Musste man immer und überall damit rechnen, Opfer von Übergriffen zu werden?
Braun: Nein, denn es gab durchaus Regeln, wer wo und warum Gewalt ausübte. Entsprechend wurde sie, zumindest in der Theorie, kontrolliert eingesetzt. Im Haushalt beispielsweise war Gewalt der älteren Generation vorbehalten: Eltern waren dazu angehalten, ihre Kinder zu züchtigen. Und der Mann herrschte über seine Frau. Das schloss ein, dass er ihre Vergehen notfalls körperlich strafte, freilich geleitet vom Gerechtigkeitsgedanken, nicht im Zorn. Wenn er das versäumte, dann gefährdete er die göttliche Ordnung, weil die Kinder nicht gut erzogen und die Frau nicht ordentlich angeleitet waren. Deshalb durfte der Mann nicht nur Gewalt ausüben, er musste es geradezu, aber eben nicht auf willkürliche Weise.
SPIEGEL: Folgten auch Fehden bestimmten Regeln?

Abbildung einer Folter, um 1500
Foto: Hulton Archive/ Getty ImagesBraun: Ja, Fehden führte man etwa nur gegen Standesgleiche: Adelige gegen Adlige oder Bauern gegen Bauern. Dabei ging es darum, seine Rechte und vor allem seine Ehre zu verteidigen, man kämpfte also für eine vermeintlich gerechte Sache. Wenn ein Bauer zu Gewalt gegen Adlige griff, dann war er ein Aufrührer und wurde bestraft.
SPIEGEL: Durften Frauen Gewalt anwenden?
Braun: Es gibt in der Literatur Beispiele dafür, im Nibelungenlied etwa Brünhild und Kriemhild. Die eine ist eine ganz starke Person, die selbstständig herrscht, die Männer zum Wettkampf auffordert und sich ihrem Mann in der Hochzeitsnacht verweigert. Sie muss von Männern gewaltsam gezähmt werden. Kriemhild dagegen fängt als höfische Prinzessin an und endet als blutige Rächerin, die das Schwert in die Hand nimmt und ihrem Gegner Hagen den Kopf abschlägt. Dafür wird sie dann aber sofort zerstückelt, von einem Mann natürlich. Gewalt, das wird hier ganz klar, steht Frauen nicht zu.
SPIEGEL: Hatten die Menschen damals eine andere Vorstellung von Grausamkeit, fanden sie körperliche Übergriffe weniger schlimm als wir?
Braun: Gewalt wurde wohl auch im Mittelalter als solche wahrgenommen, aber es fehlte häufig die starke negative Bewertung, die bei uns ja immer mitschwingt. Wenn man sich die Begriffe im Mittelhochdeutschen anschaut, sieht man, dass es Veränderungen gegeben hat, hinter denen wohl auch ein Wandel der Wahrnehmung und Bewertung steht. Beispielsweise bedeutet mittelhochdeutsch "kriec" nicht nur Krieg, sondern auch Zank oder Wettstreit. In der damaligen Vorstellung führten solche Auseinandersetzungen offenbar zu Kämpfen.
SPIEGEL: Das klingt, als sei Gewalt zu jener Zeit normaler, alltäglicher gewesen.
Braun: Sie war im alltäglichen Zusammenleben jedenfalls viel verbreiteter als heute. Kriege hatten für die Menschen des frühen Mittelalters den gleichen Stellenwert wie Naturereignisse, etwa Seuchen oder Missernten: Sie waren etwas Unvermeidliches, womit man fertig werden musste. Das wird verständlich, wenn man bedenkt, dass bei einer Fehde unter Adligen zunächst die Bauern des Gegners zum Opfer wurden: Sie wurden schikaniert, geschädigt oder sogar getötet. Für die Menschen fühlte sich das so an, als breche plötzlich ein Unwetter über sie herein. Übermäßige Gewalt wurde aber auch im Mittelalter als solche wahrgenommen: Als die Christen beim Kreuzzug 1099 über Tage hinweg die Bevölkerung Jerusalems metzelten, Frauen und Kinder eingeschlossen, galt das als klare Grenzüberschreitung.
SPIEGEL: Man könnte glauben, der Adel sei zivilisierter gewesen als das einfache Volk - ein Irrtum?
Braun: Der Adel verstand sich als Kriegerkaste und pflegte eine Kriegerkultur. Das sieht man auch an der Literatur, die der Adel in Auftrag gab und in der es eigentlich nur um Gewalt geht: In den Ritterromanen werden Zweikämpfe geschildert, die Heldenepen erzählen von Massenschlachten.
SPIEGEL: Kann man denn aus solchen Epen oder aus Chroniken auf die Wirklichkeit schließen?

Braun: Nein, auf keinen Fall. Zwar hielten die Menschen damals Epenhelden nicht einfach für erfunden, sondern eher für mögliche Wesen aus einer fernen Welt. Dennoch sind deren Geschichten Imaginationen, und solche erzählen das Außergewöhnliche, nicht das Normale. Aber wenn man verschiedene Quellen - archäologische Funde wie Skelette mit Kampfspuren, Bilder und Bauwerke und Texte verschiedener Gattungen - kombiniert, dann kann man durchaus zu Aussagen über die damalige Realität kommen.
SPIEGEL: Der englische König Edward II. amüsierte sich über die Schmerzen anderer köstlich, er zahlte einem Bediensteten sogar viel Geld, weil der vor seinen Augen mehrmals vom Pferd gefallen war. Waren die Menschen sadistischer als heute?
Braun: Das sind Einzelfälle, und natürlich sollen solche Berichte immer auch etwas über den Herrscher aussagen. Vom deutschen Kaiser Konrad gibt es eine ähnliche Geschichte: Er ließ die Füße von Gefangenen mit Honig bestreichen, ein Bär schleckte den Honig ab und der Kaiser ergötzte sich an der Angst seiner Gegner. Was man sicher sagen kann: Im Mittelalter war es möglich, Witze über Gewalt zu machen. Da heißt es im Nibelungenlied, Volker, der eigentlich Spielmann ist, musiziere jetzt mit seinem Schwert - und tötet Menschen. Heute finden wir solche Verharmlosungen geschmacklos.
SPIEGEL: Das Christentum predigt ja Gewaltlosigkeit. Wie passt das mit der Brutalität der Menschen damals zusammen?
Braun: Gewalt gegen Heiden, wie bei Kreuzzügen, unterlag anderen Maßstäben als solche gegen Christen. Aber auch innerhalb Europas konkurrierten die religiösen Werte sehr lange mit den adligen Werten. Die Adligen strebten nach Ehre und verteidigten diese, und das taten sie, indem sie kämpften. Die Kirche versuchte, das einzudämmen, indem sie Fehden am Sonntag verbot oder dafür warb, wenigstens keine Unbeteiligten, also Bauern und Geistliche, umzubringen. Aber das war ein langer Prozess - noch im 19. Jahrhundert gab es ja Duelle unter Adligen.