
Historische Unterwelt: Die fesselnde Archäologie des Petrusgrabes
Petersdom Spuren im Mauerwinkel
Tote wollte natürlich keiner in der Stadt haben. Draußen vor den Stadttoren mussten sie liegen, in der Stadt vor der Stadt - der Totenstadt. Auch hier gab es Straßen und Häuser. Prachtbauten mit Gärten darum für die Reichen, mehrgeschossige Grabhäuser für große Familien, enge Gassen und billige Hütten für die Armen.
Wer zu Zeiten des Kaisers Nero der unteren Mittel- oder oberen Unterschicht angehörte - ein freigelassener Sklave mit etwas Privatvermögen etwa oder ein Handwerker, ein Friseur, ein Ölverkäufer -, der konnte sich beispielsweise in der Via Cornelia einen Liegeplatz für die Ewigkeit erwerben. Das Sträßchen führte an der Nordmauer des Neronischen Circus vorbei durch den Ager Vaticanus, der weiten spärlich bebauten Fläche auf der rechten Tiberseite.
Einen Grabplatz bekam hier selbstverständlich nur, wer eines ehrenwerten Todes gestorben war. Hingerichtete Verbrecher landeten direkt im Tiber, auf der städtischen Müllkippe oder im Magen der streunenden Hunde. Es sei denn, man hatte gute Freunde, die gegen ein entsprechendes Schmiergeld den Leichnam freikauften.
Solch ein Trupp guter Freunde huschte angeblich in einer Nacht des Jahres 64 oder 67 mit einem schweren Bündel vom nahen Circus über die Via Cornelia. Darin befand sich der Überlieferung zufolge die Leiche von Simon Petrus, gestorben am Kreuz im Circus des Kaisers als Anführer der Jünger eines gewissen Jesus von Nazareth. Zwar gibt es auch Forscher, die bezweifeln, dass Petrus überhaupt jemals in Rom war und folglich auch dort nicht gestorben und begraben sein kann - doch die heute gängige Variante der Geschichte beginnt in jener Nacht auf der Via Cornelia.
Pius XII. beschloss den Umbau der Grotten - um Platz zu schaffen
In jener Nacht hätte niemand ahnen können, dass über dem unscheinbaren Grab des Petrus an der unprätentiösen Via Cornelia Jahrhunderte später eines der größten Sakralbauwerke der Welt stehen würde. Und dass der Ager Vaticanus nicht mehr vor den Toren der Stadt liegen, sondern das zweite Zentrum der Metropole bilden könnte. Aber fast zwei Jahrtausende sind eine lange Zeit, in der vieles geschehen und vieles vergessen werden kann. So auch die Via Cornelia und die genauen Ereignisse jener Nacht.
Im Jahr 1939 jedenfalls drängten sich in den Grotten unter dem Boden des Petersdoms die Skelette von Päpsten und Königen vergangener Tage. Als nun Papst Pius XI. das Zeitliche segnete, beschloss sein Nachfolger Pius XII. endlich den schon lange notwendigen Umbau der Grotten, um weiteren Platz zu schaffen. Man hatte eine ungefähre Ahnung davon, was man beim Aushub finden würde: Sarkophage vergangener Zeiten. Doch schon bald merkten die Arbeiter, dass sie es hier nicht mit wahllos in der Erde platzierten Einzelgräbern zu tun hatten - sondern mit einer römischen Totenstraße, an der sich dicht an dicht die Mausoleen drängten.
Pius XII. ließ sofort die Arbeiten stoppen und änderte seinen Plan. Der Umbau der Grotten konnte warten. Nicht aber die Neugier auf das, was seit all den Jahrhunderten unter dem Herzen des Kirchenstaates geschlummert hatte.
Unter Ausschluss der Öffentlichkeit wurden die Mausoleen freigeschaufelt
Der Papst gab den beiden Archäologen Antonio Ferrua und Engelbert Kirschbaum den Auftrag, dem Petersdom auf den Untergrund zu gehen. Damit nicht wissenschaftliche Neugier mit religiösen Interessen in Konflikt gerate, setzte er den beiden Forschern Monsignore Ludwig Kaas vor, den "Sekretär der Hl. Kongregation des Ehrwürdigen Gebäudes Sankt Peter".
Während über der Erde ein Weltkrieg wütete und endete, schaufelten unter St. Peter die Arbeiter unter Ausschluss der Öffentlichkeit die Mausoleen der alten Via Cornelia frei. Pius XII. stieg oft in die Tiefe hinab, um sich von Kaas höchstpersönlich den Fortschritt der Ausgrabungen zeigen zu lassen. Langsam nahmen die unterirdischen Mauern Gestalt an. Und bald wurde klar: Kaiser Konstantin hatte seinen Dom um das Jahr 324 nicht einfach hingestellt - er hatte die Landschaft für seine Basilika drastisch verändert.
Während hügelauf den Grabbauten die Dächer fehlten, als wäre eine gigantische Sense über sie hinweggefegt, waren die Grabbauten hügelabwärts mit dem Schutt der oberen Gebäude aufgefüllt, um das Bodenniveau zu erhöhen. Konstantin hatte den Hang modifiziert, die Schräge begradigen lassen. Und das, obwohl ein Stück weiter hügelauf eine ebene Fläche als Baugrund zur Verfügung gestanden hätte.
Keine besonders üppige Grube - für einen Apostelfürsten
Für diesen irrwitzigen Aufwand konnte es nur einen Grund geben: Es lag etwas in diesem Gräberfeld, das Konstantin die Ausrichtung und Lage der Basilika diktierte. Etwas, um das er seine Kathedrale konzipieren ließ wie ein Planetensystem um den Zentralstern. Mit dem Fortgang der Grabungsarbeiten wurde es immer gewisser: Die Via Cornelia verlief unter dem Altar.
Unter der Auflage äußerster Vorsicht erlaubte der Papst schließlich den Archäologen, sich in den Boden direkt unter dem Altar vorzuarbeiten. Doch als sie Schaufel um Schaufel abtrugen, schien das Ergebnis zunächst ernüchternd. Ein kleiner gepflasterter Hof lag dort, sieben Meter lang und vier Meter breit. Kein luxuriöses Grabgebäude, ja nicht einmal ein einfacher Grabstein mit dem Namen "Petrus". Stattdessen eine rote Ziegelmauer mit einer vorgebauten Zierfassade und zwei leeren Nischen darin. Daneben eine kleinere Mauer mit einer weiteren Nische, über und über bekritzelt mit Graffiti.
Erst unter dem Boden des Hofes, dort, wo die Fassade stand, stießen die Archäologen auf eine kleine Grube: 72 Zentimeter im Durchmesser - nicht besonders üppig für einen Apostelfürsten. Und auch sie schien leer. Ganz leer? Nein, am hinteren Ende, unter der roten Mauer, lag ein kleines Häufchen Knochen. Ein Teil eines Brustbeins, ein halbes Schulterblatt. Doch wenn es Petrus war, dann hatte er Gesellschaft: Die Knochen erwiesen sich im Labor als bunter Mix. Sie gehörten einem kräftigen Mann, einem schmächtigen Mann und einer Frau. Außerdem einem jungen Hahn, einem Schwein und einem Pferd.
Paul VI. erklärte die Knochen für diejenigen des heiligen Petrus
Menschen sind demnach fehlbar. Sowohl Geistliche als auch Wissenschaftler. Das wurde deutlich, als die Inschriftenkundlerin Margherita Guarducci - eine alte Familienfreundin des späteren Papstes Paul VI. - im Petersdom weilte, um die Kritzeleien auf der Mauer zu untersuchen. Eher zufällig unterhielt sie sich mit dem alten Vorarbeiter der Ausgrabungen, Giovanni Segoni. "Sag mal, Giovanni", fragte sie ihn und zeigte auf die Nische in der Wand, "weißt du noch, was ihr damals da drin gefunden habt?" "Ja, ich habe sie selbst ausgeleert", erwiderte er. "Ich kann es Ihnen zeigen."
Segoni holte eine verstaubte Kiste aus einem Regal. Sie stand noch genau dort, wo er sie 1942 hingestellt hatte - im Auftrag von Monsignore Kaas. Der hatte nämlich, weil er den Archäologen nicht traute, heimlich die Nische von Segoni räumen lassen, bevor die Ausgräber sie untersuchen konnten. So waren diese Knochen nie im Grabungsbericht aufgetaucht.
Guarducci überkam sofort eine Ahnung. Und diesmal passte wundersamerweise alles zusammen. Die Knochen gehörten - bis auf das komplett erhaltene Skelett einer Maus - einem kräftigen Mann zwischen 60 und 70. An ihnen klebten noch die Reste eines purpurfarbenen Stoffes mit eingewirkten Goldfäden. Purpur und Gold - die Farben der Könige. Und dazu passte schließlich auch genau, dass Guarducci die Graffiti auf der Mauer nach und nach als Monogramme, Abkürzungen und geheime Symbole für Petrus und andere Personen aus dem Umfeld Jesu deuten konnte.
Wissenschaftler distanzierten sich von der Meinung des Papstes
Die meisten Menschen sehen, was sie sehen möchten. Guarducci sah Petrus klar vor sich. Zwar teilte in der Welt der Wissenschaft kaum jemand ihre Meinung - dafür aber der Papst. Am 26. Juni 1968 erklärte Paul VI. die Knochen aus dem Mauerwinkel für diejenigen des heiligen Petrus. Am Folgetag wurden die sterblichen Überreste des Mannes - und der Maus, mit der er auch die Jahrhunderte zuvor sein Grab geteilt hatte - wieder in der Nische jener Wand bestattet, die einst in einem Hof an der Via Cornelia stand.
Ist das Grab des heiligen Petrus nun gefunden worden oder nicht? Darauf hatte Pius XII. bereits in seiner Weihnachtsbotschaft des Jahres 1950 erwidert: "Auf diese Frage lautet die Antwort nach dem Abschluss der Arbeiten und Studien ganz klar: ja. Eine zweite untergeordnete Frage betrifft die Reliquien des Heiligen. Sind auch sie wiederentdeckt worden? Am Rande des Grabes wurden Reste menschlicher Gebeine gefunden. Es ist jedoch nicht mit Sicherheit zu erweisen, dass sie zu den sterblichen Überresten des Apostels gehören, was jedoch ohne Bedeutung für die geschichtliche Wirklichkeit des Grabes ist." Ganz so wirklich, wie Pius XII. das Grab gern hätte, war es allerdings nicht. Ausgräber Kirschbaum distanzierte sich später deutlich von der felsenfesten Meinung des Papstes. "Materielle Teile" des Grabes, so der Archäologe, seien nicht vorhanden gewesen. Aber immerhin sei der kleine Hof mit der Schmuckfassade jener Ort gewesen, von dem die Christen des 2. Jahrhunderts glaubten, es sei das Grab.