Kinderbücher Zauber zu Lande und zu Wasser

Die magische Tintenwelt, das Geheimnis des Drachenrings und eine böse Schneekönigin ziehen Jungleser in den Bann.
Von Klemens Kindermann

Mit blutunterlaufenen Augen steht der Natternkopf im Kerker. Gierig richtet dieser elendböse König den Blick auf das Buch, das ihn unsterblich machen soll. "Wie lange noch?", schreit er den gefangenen Buchbinder an.

"Wie lange noch?", hätten am liebsten auch Hunderttausende Kinder geschrien, die sehnsüchtig auf den neuen Roman von Cornelia Funke gewartet haben, in dem der Natternkopf sein böses Wesen treibt. Der deutschen Schriftstellerin ist gelungen, was derzeit wohl nur noch Joanne K. Rowling fertig bringt: Ihr neues Werk "Tintenblut" ist im Reich der internationalen Kinderbücher ein echtes Ereignis.

Denn spätestens seit dem Frühjahr dieses Jahres ist klar, dass es nach Michael Endes Erfolgen - "Momo", "Die unendliche Geschichte", "Jim Knopf" - wieder deutsche Kinderbücher von Weltformat gibt. Das US-Magazin "Time" wählte die Autorin Cornelia Funke neben George W. Bush, Nelson Mandela und Bill Gates unter die 100 einflussreichsten Menschen der Welt. Nur noch zwei andere Deutsche schienen den Amerikanern ähnlich bedeutsam: Der damalige Kardinal Joseph Ratzinger und Formel-1-Rennfahrer Michael Schumacher.

Weltweit beachtet wird also, was sich die Autorin von "Herr der Diebe" nun als Fortsetzung ihres Bestsellers "Tintenherz" ausgedacht hat. Im zweiten Abenteuer der geplanten Trilogie tauchen fast alle die wunderbar phantastischen Gestalten auf, die die jungen Leser bereits fest ins Herz geschlossen haben: der Feuertänzer Staubfinger und sein Schüler, der arabische Junge Farid, der abergläubische und messerverliebte Basta und natürlich Meggie, die ebenso wie ihr Vater Mo ("Zauberzunge") die Kunst beherrscht, Figuren aus Büchern "herauszulesen". Diesmal allerdings geraten die Helden selbst in die magische Tintenwelt und haben es mit dem Herrn der silbernen Nachtburg zu tun, dem schrecklichen Natternkopf. Kein Wunder, dass sich bei einem solchen Stoff "Herr der Ringe"-Produzent Mark Ordesky bereits die Filmrechte für den ersten Teil der Tinten-Saga gesichert hat.

Funke, die seit kurzem mit ihrer Familie in Los Angeles lebt, hatte "Tintenherz" bereits reichlich mit Zitaten aus Kinderbuchklassikern bestückt. Damals fehlte noch eins aus den Harry-Potter-Bänden. In "Tintenblut" verneigt sich die vielfach als "deutsche Rowling" titulierte Autorin ausdrücklich vor der wohl erfolgreichsten Kollegin aller Zeiten.

Noch eindeutiger als Funke bekennt sich allerdings in diesem Herbst die Engländerin Angie Sage zu dem großen Vorbild Rowling. Mit "Septimus Heap. Magyk" ist ihr in den USA ein Überraschungserfolg gelungen, der sie nach dem Erscheinen im März dieses Jahres innerhalb weniger Tage in die Spitze der Bestsellerliste der "New York Times" katapultierte.

Ein kleiner Junge mit magischen Kräften, eine etwas heruntergekommene Zaubererfamilie, ein düsterer Magier, der alles beherrschen will - wenn sich das nicht nach dem berühmten Potter-Personal anhört.

Doch ist vieles auch anders: Das Zaubern etwa ist noch viel mühsamer, die Magier müssen richtig schuften und sich zu allerlei Alltagszauberarbeiten verdingen. Septimus Heap allerdings, der siebtgeborene Sohn eines siebtgeborenen Sohnes, bringt neues Leben in das öde Magierdasein. Zunächst als Knabe Nummer 412 in der Jungarmee ein unbeschriebenes Blatt, entdeckt er mit der Außergewöhnlichen Zauberin Marcia Overstrand das Geheimnis des Drachenrings und des großen ägyptischen Magiers Hotep-Ra. Das Finale an den Marram-Marschen, wo Septimus Heap sein Drachenboot gegen das dunkle Schiff "Vergeltung" manövriert, gehört zum Packendsten, was für Kinder geschrieben wurde.

Sages Buch strotzt vor Einfällen, wozu nicht nur die lilafarbenen Pythonschuhe Overstrands gehören. Heaps Abenteuer erinnert an das Feuerwerk des ersten Harry-Potter-Bandes. Wer des Treibens in Hogwarts also schon etwas müde geworden ist, findet bei Septimus Heap eine etwas nasse, aber quicklebendige Zaubererwelt - mit Zukunft. Denn die an der Westküste von Cornwall mit Blick aufs Wasser lebende Autorin hat keinen Zweifel daran gelassen: Septimus Heap wird ganz gewiss weiterzaubern.

Ohne Zauberarsenal kommt auch Kai Meyer in seinem neuen Buch "Frostfeuer" nicht aus. Der Autor, der sich mit den beiden Trilogien um Merle und die Wellenläufer ein deutsches Jungleser-Publikum im Sturm erobert hat, dreht diesmal weit ab in den Norden. Dort herrscht in Nebel und Kälte die tyrannische Schneekönigin. Als ein Eiszapfen aus ihrem Herzen entwendet wird, beginnt der Wettlauf mit dem Bösen. In einem Grandhotel von Sankt Petersburg, der Hauptstadt des Zarenreiches am Ende des 19. Jahrhunderts, kommt es zum eisgekühlten Finale.

Dort treffen die geheimnisvolle Zauberin Tamsin Spellwell, deren Schuhe erstaunlicherweise so violett sind wie die Python-Schuhe Marcia Overstrands (moderne Magierinnen tragen das jetzt so?), und die tückische Schneekönigin aufeinander. Doch beide sind machtlos ohne das Mädchen Maus, das im Grandhotel eigentlich für das nächtliche Schuheputzen und das Abschrubben der Dampfbadkacheln zuständig ist. Dass sie die Tochter des Zarenattentäters ist, erfährt sie erst spät, da ist Meyer schon ganz in seinem Element: Er entwirft einen Thriller der Eiskristallklasse, der sich von einem zuckenden Schneezauber zum nächsten steigert. Dass diese umwerfende Lawine frostiger Ideenblitze kein Stein des Grandhotels auf dem anderen lässt, stört den Leser am allerwenigsten.

Doch nun zu der Frage: Was sind Pentominos? Dabei handelt es sich, wie die Erwachsenen vielleicht wissen werden, um zwölfteilige mathematische Werkzeuge zur Erforschung der Geometrie und der Zahlen. Pentominos sind aber auch das wichtigste Handwerkszeug der beiden Kinderbuch-Detektive, die die amerikanische Autorin Blue Balliett zur Lösung eines spektakulären Kunstraubs aufbietet.

Petra und Calder versuchen, dem Diebstahl eines unbezahlbaren Bildes von Johannes Vermeer auf die Spur zu kommen. Dabei spielen rätselhafte Briefe, eine vielleicht zu engagierte Lehrerin und die äußerst mysteriöse Frau eines verstorbenen Vermeer-Experten eine Rolle. Immer wieder befragen die beiden Kinder ihre Pentominos und dringen in ein verwirrendes Kunstpuzzle ein. Allmählich verschieben sich die Dimensionen des Realen. Spricht Vermeers "Briefschreiberin in Gelb" am Ende selbst zu den Spürnasen? Eine rasante Detektivstory, die den jungen Leser durch das Spielen mit Bilder- und Buchstabencodes elektrisiert. Faszinierende Illustrationen steuert Regina Kehn bei, deren Zeichnungen selbst eine Art "Da-Vinci-Code" für junge Leser enthalten.

Weniger Rätselhaftes, sondern gemalte Poesie bietet das schönste Bilderbuch dieses Herbstes: "Die Schlittenfahrt" nimmt kleine Betrachter mit auf eine wilde Reise durch das Dorf, die Stadt, übers Meer und ins Weltall. Jacky Gleich tupft erst zart und gemächlich die weiße Enge der Winterlandschaft ins Buch, um dann so recht Fahrt aufzunehmen. Während die Eltern noch unter dem Weihnachtsbaum um das Entzünden der Kerzen streiten, trägt es den kleinen Schlittenfahrer vorbei an den Leuchttürmen bis zu den funkelnden Sternen. Jan Koneffke hat sich die winterliche Version der märchenhaften Mondfahrt ausgedacht, die dank des Raum-Zeit-Kontinuums noch einmal glimpflich ausgeht. Am Ende brennen die Kerzen dann schließlich doch noch.

Das wunderbarste Einschlafbuch dieses Jahres verdanken Kinder ab vier Jahren einem großen Musiker: Wolfgang Amadeus Mozart. Von ihm stammt das winzige freche Lied "Bona nox, bist a rechter Ochs; bona notte, liebe Lotte ..." - der Kindermund singt's schon seit zwei Jahrhunderten begeistert nach. Jetzt hat die Künstlerin Jutta Bauer den Klassiker-Ohrwurm in einem Bilderbüchlein lebendig werden lassen, mit einem Mozartschen Augenzwinkern natürlich. Denn die Nacht kommt an das Fenster der kleinen Lotte tatsächlich als Ochse, statt der Hörner eine Mondsichel auf dem Kopf. Lotte zieht's aus Bett und Zimmer, und schon beginnt die wilde Jagd - der Ochse treibt das Kind durch die "gute Nacht" ("bonne nuit"). Doch plötzlich stoppt Lotte, und zum "pfui, pfui" aus dem populären Kanon wird vorgeführt, was dem Ochsen blüht: Lottes Furz streckt ihn zu Boden ("good night, good night"), und das erleichterte Mädchen läuft schnell nach Hause. Da ist es hell, da warten schon die Eltern und bringen Lotte ins Bett ("Schlaf fei g'sund und bleib recht kugelrund").

Betörend ist an diesem Lied-Büchlein die Heiterkeit, die Jutta Bauer aus dem Mozart-Stück herausgehört und in Bilder umgesetzt hat. Wie von Feenhand wird der Schrecken der Nacht in den Ochsen gebannt, und nach dem Sieg über die eigene Bangigkeit kann man erleichtert über das lächerliche Angst-Tier losprusten (wer lässt sich schon so einfach umpupsen?). Und schon ist die helle Geborgenheit da, die jedes Kind zum Einschlafen braucht. Zum heraufziehenden Mozartjahr 2006 ist "Bona nox" sicher eine Ehrengabe, die dem Komponisten gut gefallen hätte. Illustratorin Bauer hat jedenfalls dafür gesorgt, dass Mozarts kleine Fingerübung noch mehr Kinder in einen wohligen Schlaf finden lässt, mit einem Liedchen auf den Lippen.

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