Geld "Das Spielfeld ist ein Dschungel"
SPIEGEL:
Señor Valdano, in Ihrer Firma Make-A-Team beschäftigen Sie vor allem ehemalige Sportler, darunter auch den früheren spanischen Nationaltorhüter Andoni Zubizarreta. Was kann die Wirtschaft vom Fußball lernen?
Jorge Valdano: Die Idee meiner Firma ist es, Prinzipien aus dem Fußball ins Wirtschaftsleben zu übertragen. Wir zeigen den Managern großer spanischer Unternehmen, wie man motiviert und führt, wie man Konflikte löst und Talente fördert. Es ist ziemlich leicht, die Brücke zu schlagen aus der Welt des Fußballs in die Welt der Wirtschaft. Ein Unternehmen muss Geld verdienen und die selbstgesteckten Ziele erreichen, aber gleichzeitig produziert diese Welt Frustrationen und Beklemmungen und Stress, die all diese Ziele und Strategien pervertieren. Ich glaube, dass man Lösungen für all das in der Welt des Fußballs findet. Fußball ist eigentlich nur eine Metapher für das Leben.
SPIEGEL: Das klingt wie ein Klischee.
Valdano: Überhaupt nicht. Die Belegschaft einer Firma unterscheidet sich nicht von einem Spielerkader. Beide Male ist es die Menschheit im Miniaturformat. Fußball erklärt uns, wer wir sind. Er reflektiert das, was passiert auf unseren Straßen: den Kommerz und die Konkurrenz, das Hässliche und das Schöne. Und was ihn als Metapher besonders wertvoll macht: Es ist eine Welt der Übertreibungen, der Exzesse. Fußball bringt starke Bilder hervor, Bilder, die alle verstehen.
SPIEGEL: Was könnte umgekehrt der Fußball von der Wirtschaft lernen?
Valdano: Vor allem die Fähigkeit, sich selbst gut zu managen. Zum Beispiel könnte man lernen, weniger Geld auszugeben, als man einnimmt.
SPIEGEL: Als Manager von Real Madrid haben Sie für Weltstars wie Figo, Zidane, Ronaldo und Beckham mehr als 200 Millionen Euro ausgegeben.
Valdano: Das stimmt. Aber es hat funktioniert. Als wir damals im Jahr 2000 angefangen haben, hatte der Verein 40 Profis unter Vertrag, die Gehälter verschlangen 97 Prozent des Jahresbudgets. Real Madrid hatte 300 Millionen Euro Schulden. Wir haben das Clubgelände verkauft, um Schulden abzubauen, und wir haben ein neues Konzept entwickelt: das Konzept der Galácticos, der Überirdischen. Die Idee war es, jedes Jahr einen Weltstar zu holen und damit den Verein auf der ganzen Welt als Marke zu etablieren und gleichzeitig junge Spieler aus dem eigenen Nachwuchs in die Mannschaft einzubauen. Heute machen die Gehälter nur noch knapp 50 Prozent des Budgets aus, und die werden mittlerweile fast durch die Einnahmen aus dem Merchandising gedeckt. Real Madrid hat etwas geschafft, was normal sein sollte im Fußball. Der Verein hat heute 100 Millionen Euro auf der Bank und allein im vergangenen Jahr 50 Millionen Euro verdient. Und das nicht trotz der Stars, sondern nur wegen der Stars.
SPIEGEL: Trotzdem hat Real Madrid seit 2003 keinen Titel mehr geholt und vier Trainer verschlissen. Wie lange kann man ohne Erfolge jedes Jahr 50 Millionen Euro Gewinn machen?
Valdano: Moment. Bis 2003 haben wir sieben Titel geholt. Außerdem glaube ich, dass das sportliche Ergebnis oft die Wirklichkeit verschleiert. Es scheint eine Katastrophe zu sein, wenn eine Mannschaft verliert, obwohl die wirtschaftliche Situation sehr gesund ist. Ich frage Sie: Ist es nicht andersherum absurd, wenn ein Club einen Titel nach dem anderen holt, aber Millionen von Schulden anhäuft?
SPIEGEL: Sie sind vor anderthalb Jahren zurückgetreten. Warum?
Valdano: Die Umgestaltung dieses Vereins war eine Revolution, und sie hat mich verschlissen. Ich war damals der einzige Sprecher des Vereins. Ich war sehr sichtbar, zu sichtbar. Am Ende war ich müde. Und wahrscheinlich habe ich auch den Rest der Menschheit ermüdet. Ich war in meiner Karriere Profi-Fußballer, Trainer und Manager und habe es immer so gehalten, nach drei, vier Jahren eine Pause einzulegen, um wieder etwas Luft zu bekommen.
SPIEGEL: Glauben Sie weiterhin an das Konzept der Galácticos? Präsident Florentino Pérez, mit dem Sie gemeinsam angefangen haben, ist im Februar zurückgetreten, eine Ära scheint beendet.
Valdano: Natürlich muss man jetzt andere Prioritäten setzen. Zidane beispielsweise ist am Ende seiner Karriere. Die Zeit macht ja keinen Unterschied zwischen einem Überirdischen und den Normalen. Real Madrid braucht jetzt Verlässlichkeit. Das ist ein gemeinnütziger Verein, dessen Ziel es sein muss, keine Schulden zu machen und trotzdem die Fans zu befriedigen. Jetzt werden für die nächste Saison 100 Millionen in neue Spieler investiert, aber nicht in Galácticos, sondern Spieler von mittlerem Wert. Und der Verein wird noch stärker auf junge Spieler setzen. Erneuerungsprozesse beginnen im Fußball wie auch in der Wirtschaft immer zu spät. Und natürlich verzögert sich dieser Prozess, wenn die alten Spieler solche Stars sind wie Zidane oder Roberto Carlos.
SPIEGEL: Sie sind 1975 im Alter von 19 Jahren aus Argentinien nach Spanien gewechselt. Wissen Sie noch, wie viel Geld Sie damals verdient haben?
Valdano: Ich weiß nur noch, dass es zehnmal soviel war wie in Argentinien. Um es bildlich auszudrücken: Ich hätte mir damals mit einem Jahresgehalt vier Mittelklasse-Autos kaufen können. Das war nicht sehr viel, und mein Verein Deportivo Alavés spielte auch nur in der Zweiten Liga. Aber ich wollte unbedingt weg und habe die erste Gelegenheit genutzt.
SPIEGEL: Warum wollten Sie weg?
Valdano: Es war eine Flucht. Vor dem Chaos im argentinischen Fußball und dem Chaos im ganzen Land. Damals stand die Weltmeisterschaft in Argentinien vor der Tür, das war natürlich eine große Sache für die Militär-Junta. Um das Land verlassen zu können, musste ich schriftlich auf eine Teilnahme verzichten. Ich gehörte damals zum Kreis der Nationalmannschaft. Es war eine schwierige Entscheidung. Ich habe mit dem Trainer César Luis Menotti gesprochen. Er sagte: "Wenn du bleibst, wirst du sicherlich im WM-Kader sein." Und dann sagte er: "Aber wer weiß, was passiert. Vielleicht bin ich schon nächste Woche nicht mehr Trainer der Nationalmannschaft." Nichts war damals sicher in diesem Land, die Strukturen hatten sich aufgelöst.
SPIEGEL: Hatte Ihre Flucht wirtschaftliche oder politische Gründe?
Valdano: Vor allem berufliche. Ich war ein guter Spieler, sehr versiert und ziemlich geschickt, aber meinen Stil würde ich als trocken beschreiben.
SPIEGEL: Trocken?
Valdano: Als Fußballer besaß ich eher so eine deutsche Geschicklichkeit. Argentinischer Fußball ist sehr wendig, Sie kennen diesen romantischen Mythos, sehr phantasievoll, sehr kreativ, Maradona eben. Alle sagten mir damals, du wirst es weit bringen in Europa. Das war ein Lob, das mir überhaupt nicht gefiel. Ich bin Argentinier, ich wollte in meiner Heimat Erfolg haben, aber ich war eben kein Maradona. Die traurige Wahrheit ist: Ich als Zuschauer hätte mich auch eher für Maradona entschieden als für Valdano.
SPIEGEL:
Gibt es wirklich einen Mentalitätsunterschied zwischen Argentinien und Europa?
Valdano: In der argentinischen Gesellschaft gilt die Täuschung als Kunst. Wer es durch Tricks und Schläue zu etwas bringt in seinem Leben, genießt größeren Respekt als jemand, der durch Fleiß und Ehrlichkeit soweit gekommen ist. Bei meinem ersten Verein als Profi, damals noch in Argentinien bei den Newell's Old Boys, gab es jeden Dienstag ein Lauftraining. Neben unserem Platz lag die Galopprennbahn, da mussten wir dreimal rum, das ist eine ziemlich lange Strecke. Bei meinem ersten Training bei den Old Boys geschah Folgendes: Ich lief vorneweg, ich war jung und schnell, ein athletischer Typ. Aber nach einer viertel Runde überholten mich zu meiner großen Überraschung die drei Stars des Teams - in einem Taxi. Sie hatten an der Strecke einen Freund mit seinem Auto postiert, der sie dann wieder absetzte, kurz bevor es auf die Zielgerade ging. Der Trainer hat das nicht mitbekommen. Um ein Star zu sein in Argentinien muss man nicht hart trainieren, sondern Taxi fahren.
SPIEGEL: Waren Sie ein politischer Mensch?
Valdano: Ich habe damals Jura studiert in Rosario. Es war unmöglich, an einer Uni zu sein und kein politisches Bewusstsein zu entwickeln. Das Land war eine Diktatur, ein Polizeistaat. Man lebte im Gefühl einer ständigen Bedrohung. Bei mir löst auch heute noch der Anblick einer Uniform Alarm aus. Aber ich war nicht politisch aktiv oder gar militant.
SPIEGEL: In den siebziger Jahren setzte Ihr früherer Nationaltrainer Menotti die Idee vom linken Fußball in die Welt. Auch Sie gelten als Vertreter des linken Fußballs. Sind Sie das auch heute noch, immerhin haben Sie Real Madrid zum globalisierten Fußballclub umgebaut?
Valdano: Ich glaube, diese Unterteilung in rechten und linken Fußball war ein Irrtum. Ich würde eher von einer progressiven und von einer konservativen Spielauffassung sprechen.
SPIEGEL: Was ist progressiver Fußball?
Valdano: Das wäre ein Fußball gegen die Tendenz, die da sagt: Ordnung ist wichtiger als Freiheit. Gegen einen Fußball, in dem das Kollektiv mehr Bedeutung hat als das Individuum. Gegen einen Fußball, in dem Ideen des Trainers wichtiger sind als die Ideen der Spieler und in dem Angst wichtiger ist als Mut. Tatsache aber ist auch, dass Angst verantwortlich ist für jede Revolution auf dem Fußballplatz in den vergangenen 30 Jahren.
SPIEGEL: Hatten Sie als Trainer von Real Madrid auch Angst?
Valdano: Trainer müssen Angst haben, denn sie sind immer in Gefahr. Aber: Für einen Trainer ist heute jedes Spiel nur noch eine Folge von Bedrohungen, die dazu führt, dass sie repressive Entscheidungen fällen. Fußball ist ein schönes Spiel, das die Mittelmäßigen im Namen des Pragmatismus hässlich machen.
SPIEGEL: Spielt Real Madrid einen progressiven Fußball?
Valdano: Absolut. Die Idee der Galácticos ist genau das. Im Idealfall behauptet sich da die Phantasie gegen das Vorhersehbare. Real spielt progressiven Fußball, Chelsea London nicht. Die haben einen sehr intensiven, sehr körperlichen Fußball. Ich mag viele Spieler von Chelsea, aber das Spiel der Mannschaft gefällt mir nicht. Wenn Chelsea in der Champions League auf Juventus Turin trifft, gehe ich lieber in den Garten.
SPIEGEL: Sie sind ein Paradoxon: Romantiker und Kapitalist.
Valdano: Vielleicht. Sehen Sie, für mich ist das Spielfeld ein Dschungel. Und das, was dort passiert im Dschungel, das hat sich in den vergangenen hundert Jahren kaum verändert. Was einem Spieler durch den Kopf geht, der mit dem Ball aufs Tor zuläuft, ist das Gleiche, wie das, was Maradona oder Pelé oder Di Stéfano gedacht haben. Das, was sich geändert hat, ist das, was den Dschungel umgibt. Da hat eine Revolution stattgefunden, es ist eine Industrie entstanden. Auch im Fußball gibt es den Homo sapiens genauso wie das wilde Tier. Wir Menschen brauchen das Spiel, das Primitive ist in uns, wir sollten es ernst nehmen. Die Industrie aber ist groß und mächtig, man muss den Dschungel vor ihr schützen, vor der Zivilisation und all ihren Regeln. Diese Zivilisation darf nicht rauf auf das Spielfeld: Rasen betreten verboten.
SPIEGEL: Sie haben 2003 für 35 Millionen Euro David Beckham gekauft, einen Spieler, bei dem man den Eindruck hat, dass er diese Grenze längst überschritten hat.
Valdano: Das sehe ich nicht so. Er ist ein äußerst vitaler Spieler mit großem Potential. Außerhalb des Spielfelds benimmt er sich wie ein moderner Dandy, aber auf dem Platz ist er ein Krieger. Wir wären sehr ungerecht, wenn wir das nicht trennen würden.
SPIEGEL: Ist Beckham also der ideale Fußballer, weil er beides vereint: Spiel und Vermarktung?
Valdano: Er ist der moderne Spieler schlechthin. Und trotzdem kann das auch gefährlich sein. Beckham ist ein Beatle, ein Rolling Stone, ein Rollenmodell, eine Werbe-Ikone, ein Held des globalisierten Fußballs, ein Symbol des Kommerzes. Um ihn herum geschehen sehr viele Dinge, mit denen er jedoch ziemlich gut umgehen kann. Die Frage ist nur, ob die Mannschaft, in der Beckham spielt, das auch kann. Dann gibt es plötzlich junge Spieler, die ihn nicht mehr für seine Freistöße bewundern, sondern für seine Frisuren oder Kleidung.
SPIEGEL: Entspricht Beckham auch Ihrem Ideal eines modernen Fußballers?
Valdano: Ich habe nicht gesagt, dass mir das so gefällt. Ich bin groß geworden mit dieser romantischen Idee des Fußballs, und die werde ich auch verteidigen. Aber das geht nur, wenn diese Ideen noch irgendetwas mit der Wirklichkeit zu tun haben. Fußball ist heute Teil des internationalen Wirtschaftslebens. Wir stehen, glaube ich, erst am Anfang dieser Transformation, und natürlich provoziert alles Neue erst mal Widerstand. Bei Real Madrid war die Frage, was ein Fußballclub machen muss, um weiterhin eine führende Rolle im Weltfußball zu behalten. Wir leben im Zeitalter der Globalisierung, aber diesen Weltmarkt kann man nur vom Dschungel aus erobern, durch die Schönheit und Faszination des Spiels. Vielleicht hat Real Madrid es schneller gewagt als andere, sich diesen neuen Realitäten zu stellen und gleichzeitig einen Ausgleich zu finden zwischen Romantik und Geschäft, zwischen Dschungel und Zivilisation.
SPIEGEL: Die Verehrung, die Beckham beispielsweise in Asien erfährt, hat aber nichts mit dem zu tun, wie er Fußball spielt. Fans in China oder Japan wollen nur den blonden Ritter sehen.
Valdano: Das stimmt nicht. Guter Fußball wird überall geliebt, in den reifen Märkten Europas genauso wie in den unreifen Märkten Asiens. Vor 50 Jahren hatte Real nur eine Beziehung zu seiner Stadt, heute zur ganzen Welt. Das ist ein ziemlich komplexes Geschäft.
SPIEGEL: In dem das Fernsehen längst die Macht übernommen hat.
Valdano: Das Fernsehen finanziert den Fußball, es produziert das Image, es globalisiert das Spiel, es verwandelt Fußballer in Stars. Das Fernsehen soll den Fußball töten? Ich glaube, es belebt ihn als Spektakel. Natürlich ist es eine Vernunftehe, aber das Spiel ist immer noch das Gleiche.
SPIEGEL: Sie als Romantiker haben sich abgefunden mit dem Fernsehen?
Valdano: Ja. So ist das auf dieser Welt. Nicht die Ideen und die Schönheit haben die Macht, sondern das Geld. In meiner Zeit als Sportdirektor bei Real habe ich immer gesagt, dass ich so etwas bin wie der Wächter im Jurassic Park. Der Dschungel existiert, aber im Grunde ist er nur noch ein Themenpark.
SPIEGEL: Was hat Sie zum Fußball gebracht?
Valdano: Für uns als Kinder gab es im Dorf nur eins: Fußball. Wir hatten keinen Computer, wir hatten keinen Fernseher. Ich habe jeden Tag Fußball gespielt, ich habe die Übertragungen im Radio gehört. Ich gehöre zu einer Generation, für die der Fußball nicht durch Bilder vermittelt wurde, sondern durch Worte. Ich will Ihnen eine kleine Geschichte erzählen: Nachdem wir das Endspiel gegen die Deutschen bei der Weltmeisterschaft 1986 in Mexiko gewonnen hatten, saßen ein paar der Spieler in der Umkleidekabine und weinten, und ich dachte: Das, was ich jetzt hier erlebt habe, das ist der Höhepunkt meines Lebens, das ist das, für das ich mein Leben lang gearbeitet habe. Und dann dachte ich, dass das jetzt wirklich ein guter Zeitpunkt wäre für ein paar Tränen. Ich habe es versucht, aber es ging nicht. Acht Jahre später, ich hatte inzwischen meine Karriere beendet, bekam ich von meinem Bruder aus Argentinien eine Kassette geschickt. Er hat mir oft Kassetten zusammengestellt. Ich steckte die Kassette in den Walkman und ging joggen. Zwischen zwei Liedern erklang plötzlich die Stimme jenes berühmten argentinischen Fußball-Kommentators, der mich durch meine Kindheit begleitet hat. Und während ich lief, hörte ich, wie er mein Tor zum 2:0 im Finale kommentiert. Ich habe mich auf eine Bank gesetzt und geweint wie ein Kind.
SPIEGEL: Ist es nicht merkwürdig, dass man im Fußball sehr viel Geld verdienen kann: Manager, Spieler, Berater, Verbände, aber die eigentlichen Unternehmer des Fußballs, die Clubs, machen nur selten Gewinn?
Valdano: Das kommt darauf an, was man unter Profit versteht. Silvio Berlusconi beispielsweise, der frühere Präsident des AC Milan, hat großen Profit gemacht. Er hat über den Fußball Italien sein Erfolgsmodell vermittelt. Er hat eine Visibilität, eine Aufmerksamkeit bekommen, die ganz außergewöhnlich war und die er anders kaum hätte bekommen können. Erst dadurch hat er seine politischen Ziele erreichen können. In fast jedem Land gibt es so eine Persönlichkeit: In Spanien war es Jesús Gil y Gil, dem Atlético Madrid gehörte und der eine eigene Partei gegründet hat. In Argentinien Mauricio Macri, Präsident der Boca Juniors, er hat gerade die Parlamentswahlen in der Provinz Buenos Aires gewonnen, irgendwann will er sogar Präsident werden. Diese Visibilität ist ein Wert an sich.
SPIEGEL: Und was verspricht sich der russische Oligarch Roman Abramowitsch von Chelsea London?
Valdano: Die Summen, die er dort investiert, erscheinen irre, aber für ihn ist das auch nicht mehr, als wenn wir uns eine Flasche Wasser kaufen. Es sieht aus, als sei Chelsea nur der Spleen eines Milliardärs. Aber vielleicht sucht er bei Chelsea eine Visibilität und Aufmerksamkeit, die es ihm erlaubt, sich besser zu verstecken.
SPIEGEL: Sie glauben, dass sich der russische Oligarch Michail Chodorkowski, der jetzt in einem sibirischen Lager einsitzt, auch besser einen Fußballverein hätte kaufen sollen?
Valdano: Ja. Vor ein paar Wochen haben sich die Zapatisten, eine mexikanische Guerilla-Truppe, Freiheitskämpfer oder was auch immer sie sind, an verschiedene Fußballer gewandt. Auch an Maradona und an mich. Sie wollten ein großes Benefiz-Spiel organisieren. Es ist dann nicht zustande gekommen, aber was wollten sie? Sie wollten kein Geld, sie wollten Aufmerksamkeit. Sie sind nicht mehr in den Medien, weil sie keine Menschen mehr umbringen oder entführen. Stattdessen setzen sie sich eine Maske auf, hinter der sie sich verstecken und Fußballspiele organisieren können. Berlusconi und die Zapatisten wollen das Gleiche - die Macht.
SPIEGEL: Sie hätten mitgemacht?
Valdano: Warum nicht?
SPIEGEL: Warum hat das Spiel nicht stattgefunden?
Valdano: Weil sie nicht die Leute zusammenbekommen haben.
SPIEGEL: Vielleicht waren den meisten die Zapatisten zu radikal?
Valdano: Möglicherweise. Vielleicht hat es den Zapatisten auch schon gereicht, mit diesem Plan in die Öffentlichkeit zu kommen.
SPIEGEL: Sie sind befreundet mit Maradona. Woran ist er gescheitert? Dass er ausgebrochen ist aus dem Themenpark?
Valdano: Er ist nicht ausgebrochen, man hat ihn rausgeholt. Er ist zu einer Weltberühmtheit geworden, sein Leben wurde, ohne dass er gefragt wurde, in ein Spektakel verwandelt. So berühmt zu sein wie Maradona, das ist etwas sehr Fürchterliches. Maradona hatte und hat in Argentinien eine so große Bedeutung, dass er dem nie etwas entgegensetzen konnte. Die Geschichte Argentiniens in den vergangenen 30 Jahren ist die Geschichte eines Niedergangs, der noch nicht gestoppt ist: Militärputsch, Staatsstreich, Hyperinflation, Verarmung von Millionen von Menschen aus der Mittelschicht, Staatsbankrott. Und es gibt in diesem Land nur einen Menschen, der all das kompensiert hat: Maradona. Für dieses Land ist er ein Retter, ein Sankt Martin der Neuzeit. Es ist schwierig für einen Menschen zu begreifen, dass er in diesem Land die Realität kompensieren musste, obwohl er in Wahrheit nur auf dem Fußballfeld lebte, in einem Spiel, in einer fiktionalen Welt. Das ist ein fürchterliches Missverständnis. Maradona hat eine sehr lange Reise hinter sich. Von der absoluten Armut bis zur Spitze des Ruhms, und diesen Weg ist er mehrmals gegangen.
SPIEGEL: Sprechen Sie mit ihm?
Valdano: Ab und zu. Wir telefonieren. Es gibt zwei Maradonas, den öffentlichen und den privaten, der ganz entzückend sein kann. Wir haben neulich miteinander telefoniert, er hatte ein paar Mal versucht, mich zu erwischen. Als wir uns dann endlich am Telefon hatten, sagte er: "Jorge, es ist wirklich schwer, dich zu erreichen. Wer glaubst du eigentlich, wer du bist? Maradona?"
SPIEGEL:
Wie geht es ihm?
Valdano: Er hat abgenommen, seine Talkshow ist die populärste Sendung im Land. Er ist eine exzentrische Persönlichkeit in einer exzentrischen Fußballwelt in sehr exzentrischen Zeiten. Alles ist groß bei Maradona. Sogar seine Feinde: Menem, der Papst, George W. Bush. Das ist mutig. Nie gibt er auf, niemals gibt er den Kampf verloren, selbst unter den schlechtesten Umständen.
SPIEGEL: Eine romantische Figur.
Valdano: Ach, wissen Sie, schon als Maradona noch spielte, bestimmte das Fernsehen die Anstoßzeiten. Andererseits: Maradona war Kunst, ein Künstler, der nicht erklären konnte, was er da tat. Als wir vor dem Endspiel gegen die Deutschen 1986 in der Kabine saßen, herrschte Totenstille, klar, es war das größte Ereignis unseres Lebens, das da draußen auf uns wartete. Plötzlich begann Maradona laut nach seiner Mutter zu rufen. Tota, so heißt sie, Tota, komm und hilf mir, ich habe Angst, du musst mich beschützen. Die Botschaft an uns war: Wenn ihr Angst habt, keine Sorge, sogar ich habe Angst. Er war das Genie des Weltfußballs, und der einzige Ort, an dem er glücklich war, war das Spielfeld, der Dschungel. Ohne Ball ist er ein Mensch, der nicht in der Lage ist, auf der Höhe seiner Erinnerungen zu leben.
SPIEGEL: Ist Maradonas Aufstieg aus der Armut ein linker Traum oder ein kapitalistischer?
Valdano: Es war eine Ausnahme, und genau das ist die Falle des Kapitalismus. Donald Trump ist in den USA auch so ein Vorbild für 50 Millionen Arme, die es nie schaffen werden und nie im Fernsehen zu sehen sind. Fußball ist eine Fiktion, die die Gesellschaft zum Leben benötigt, so wie die Literatur oder das Kino. Das Schwierige ist nur: Fußball ist eine Fiktion, die wirkliche Spiele gewinnen muss.
SPIEGEL: Wer wird Weltmeister?
Valdano: Brasilien. Oder Deutschland.
SPIEGEL: Deutschland?
Valdano: Die Deutschen werden ins Endspiel kommen. Sie sind immer am gefährlichsten, wenn man als Zuschauer beginnt zu gähnen, dann werden sie bald ein Tor schießen.
SPIEGEL: Vor 20 Jahren im Endspiel wären Sie beinahe auch ein Opfer der Deutschen geworden. Sie führten 2:0, und dann glichen die Deutschen aus.
Valdano: Es gibt so Momente, die man im Kopf behält, weil sie sich auf Tausende von Minuten ausdehnen oder sich auf Sekunden reduzieren. Das Gehirn arbeitet dann wie bei einem Unfall. Die Geschwindigkeit des Erlebens verändert sich. Wir führten 2:0, und plötzlich gab es so eine Pause in diesem Spiel, und ich begann, mir das alles anzuschauen, das Spiel, das Stadion, die Zuschauer, als wäre ich kein Spieler, der mit all seinen Emotionen auf dem Platz steht, sondern ein Betrachter von ganz weit weg. Es war ein großes, beeindruckendes Spiel, ein großer Tag, sogar das Licht schien mir anders zu sein, und auf den Fotos von damals kann man das, glaube ich, sehen. Ich betrachtete mir also dieses Spiel und, vielleicht um es mir selbst noch mal zu vergegenwärtigen, sagte ich zu mir: Ja, du bist Weltmeister. Und plötzlich hatten die Deutschen die zwei Tore aufgeholt.
SPIEGEL: Sie wurden geweckt aus Ihrem großen Traum.
Valdano: Nach dem 2:2 standen wir im Mittelkreis: Maradona, Burruchaga und ich. Und ich sagte mit lauter Stimme: "Eben waren wir schon Weltmeister, und jetzt müssen wir noch mal von vorn anfangen." Maradona schwieg, nur Burruchaga, der sonst nie ein Wort sagte, begann zu sprechen. "Mir geht es gut", sagte er, als ob er gerade in einer Bar steht und ein Bier trinkt. "Wir fühlen uns doch gut, oder?" Und dann sagte er: "Kein Problem, das gewinnen wir schon." Ein paar Minuten später schoss er das Siegtor. Das war, als ob er eine Eingebung hatte, sehr seltsam. Und das ist keine Fiktion, so war es wirklich.
Das Gespräch führten die SPIEGEL-Redakteure Lothar Gorris und Thomas Hüetlin.