Lesezeichen Missbrauchtes Privileg

Wie deutsche Buchverlage und der Buchhandel die Preisbindung selbst untergraben und das Vertrauen der Politik zerstören.
Von Gerhard Beckmann

Der Festredner tat, was bei Jubiläumsveranstaltungen eher ungewohnt ist: Er redete Klartext. Anlass war das 100-jährige Bestehen der Ganske-Verlagsgruppe - zu ihr gehören unter anderem die Traditionshäuser Hoffmann und Campe, Gräfe und Unzer sowie Anteile am Deutschen Taschenbuch Verlag (dtv). Eine noble Feier im Hamburger Rathaus war am 16. Mai dieses Jahres der Rahmen, in dem Bundestagspräsident Norbert Lammert das drohende Ende der Buchpreisbindung ankündigte.

Dabei ist sie seit exakt 120 Jahren das Fundament der deutschen Buchkultur, seit fünf Jahren sogar in Form eines Gesetzes. Ihr geschichtlicher Ursprung verdankte sich einer Art genossenschaftlicher Selbsthilfe: Sie wurde 1887 als Notwehrmaßnahme gegen das "Eindringen liberalistisch-kapitalistischer Strukturen" (so der Buchhandelshistoriker Reinhard Wittmann) eingeführt, die zur Pleite zahlloser Buchhandlungen führte. Branchenfremde Großramscher und Billiganbieter von Novitäten hatten damals den Buchmarkt zerstört.

Die Buchpreisbindung bedeutet: Jeder Titel kostet überall im Land gleich viel; ein Wettbewerb um Kunden über den Preis ist ausgeschlossen. So sollen kleine Buchhändler vor einer Übermacht der großen geschützt werden. Diese Regelung hat bewirkt, dass die Bundesrepublik im Unterschied zu anderen Ländern bis heute über ein beispielhaft dichtes Netz von "geistigen Tankstellen der Nation" verfügt - so hat Altkanzler Helmut Schmidt die Buchhandlungen einmal genannt. Der feste Ladenpreis für Bücher stellt in der heutigen Wirtschaftsordnung allerdings eine Ausnahme dar.

Er ist also ein Privileg. Und dieses Privileg wird laut Lammert nun nicht durch die Politik gefährdet. Denn der Gesetzgeber sei durchaus willens, die Rahmenbedingungen zu garantieren, "unter denen Kunst und Kultur stattfinden, unter denen ihre Entfaltung überhaupt möglich ist". Die Gefahr sei vielmehr entstanden durch den "virtuosen Umgang von Verlagen und Buchhändlern mit diesem Privileg". Diese hätten das Ziel - den Erhalt kultureller Vielfalt zum Nutzen des geistigen Lebens der Bevölkerung - selbst untergraben, indem sie das Privileg zur Verdrängung von Konkurrenz für kommerzielle Vorteile missbrauchten.

Hintergrund dieser Warnung ist der Umstand, dass ein neuerlicher Brüsseler Frontalangriff gegen das Sonderrecht der Buchpreisbindung zu erwarten ist. Im Januar 2005 deutete EU-Kommissar Günter Verheugen bereits an, es könne nur bis 2010, bis zum Ende der Amtszeit der jetzigen EU-Kommission als gesichert gelten. Aufgrund des selbstzerstörerischen Handelns der Branche könnten Parlament und Regierung sich dann aber außerstande sehen, die Buchpreisbindung noch einmal zu verteidigen, so wie es Ende der siebziger Jahre unter Bundeskanzler Helmut Schmidt und später unter Gerhard Schröder geschehen ist. Damit stünde nicht nur die Existenz vieler unabhängiger Verlage und Sortimente auf dem Spiel. Auch die Mehrzahl der Schriftsteller würde empfindlich getroffen - vor allem aber Buchkäufer und -leser.

Wie sehr die Branche das Vertrauen der Politik verspielt hat, zeigte sich dieses Frühjahr im südlichen Nachbarland Schweiz. Es galt immer als unabdingbar, dass die Buchpreisbindung im ganzen deutschen Sprachgebiet "lückenlos" gewahrt bleibt. Österreich verabschiedete darum mit Rücksicht auf die EU im Jahr 2000 ein entsprechendes Gesetz. In der deutschsprachigen Schweiz, die nicht zur EU gehört, blieb die Buchpreisbindung jedoch - offiziell geduldet - ein Selbstverwaltungsinstrument der Branche: bis sie im Jahr 2005 von der helvetischen Wettbewerbskommission für unzulässig erklärt und im Mai 2007 aufgehoben wurde - nach vergeblichen Einspruchsverfahren seitens des Schweizer Buchhändler- und Verleger-Verbandes. Dessen Antrag auf eine "superprovisorische Ausnahmeentscheidung" - für die Zeit bis zur parlamentarischen Abstimmung über ein entsprechendes Gesetz, mit der man für 2010 rechnet - wurde von der Regierung in Bern abgelehnt. Begründung: Die Argumentation der Branchenverbände, die Buchpreisbindung wirke Konzentrationsprozessen entgegen und sichere Kulturvielfalt, sei nicht überzeugend. Die Buchpreisbindung sei nicht notwendig "für die Erzielung der kulturpolitischen Leistung".

Mit dem harschen Bescheid zielte die Schweizer Regierung auf folgenden Sachverhalt: In der deutschsprachigen Schweiz sind 80 Prozent aller verkauften Bücher Importe aus der Bundesrepublik. Deren Ladenpreise waren - in Absprache mit den Importeuren, also ihren helvetischen Auslieferern - von deutschen Verlagen auf Basis des deutschen Preisniveaus festgesetzt worden. Dass sie dann in der Schweiz in der Vergangenheit aber teils bis zu 20 Prozent teurer verkauft wurden, lag angeblich allein an den (tatsächlich) höheren Kosten von Schweizer Buchhandlungen. In Wahrheit flossen jedoch oft etwa 50 Prozent der Preisdifferenz in die Kassen (nicht aller) deutscher Verlage: über eine verschleierte, fragwürdige Handhabung der deutschen Mehrwertbesteuerung.

Bundestagspräsident Lammert war empört, dass unmittelbar nach der Entscheidung der Schweizer Regierung gegen die Buchpreisbindung ausgerechnet "in deutscher Hand befindliche" Großunternehmen für gängige Titel prompt "drastische Preissenkungen" ankündigten, statt sich bis zum endgültigen Beschluss des Parlaments an die bisherigen Leitlinien der Schweizer Buchpreisbindung zu halten: der Augsburger Weltbild-Konzern und, als Branchenprimus, der Vollsortimentsfilialist Orell Füssli (zu 49 Prozent im Eigentum der Münchner Buchhändlerfamilie Hugendubel).

Für die deutsche Bundesregierung wird es nun noch schwerer, die hiesige Buchpreisbindung zu verteidigen. Es wäre dennoch im Interesse aller. Denn Großbuchhändler und -filialisten, die meinen, die kleinere Konkurrenz endgültig verdrängen und dann noch bessere Geschäfte machen zu können, sind kurzsichtig. Sie werden sich, wie schon in den USA und in Großbritannien, einer neuen, mächtigen Konkurrenz gegenüber sehen: den Supermarkt- und Discounterketten, die mit Billigstpreisen einen Riesenanteil des Absatzes mit Bestsellern an sich reißen.

Groß- und Konzernverlage, die bei einem Fall der Buchpreisbindung höhere Umsätze mit gängigen kommerziellen Titeln erwarten, sollten ebenfalls durch die Entwicklungen in Großbritannien und den USA gewarnt sein. Dort fordern Supermarkt- und Discounterketten, die Massenliteratur teils zur Hälfte des empfohlenen Verlagspreises anbieten, mittlerweile Einkaufsrabatte von 60 bis 80 Prozent. Bestseller, die früher die Profitsubstanz bildeten, werden so für Verlage zum Verlustgeschäft.

Die ärgste Desillusionierung stünde dem lesenden Publikum bevor. Denn nur ein winziges Segment von Massenliteratur würde billiger, das Gros der Bücher spürbar teurer. Auch das zeigt sich in den USA und in Großbritannien. Die traditionelle Kernleserschaft - alle, die aus den Notwendigkeiten beruflicher, fachlicher, schulischer, wissenschaftlicher Bildung und Weiterbildung oder aus persönlichen Interessen regelmäßig lesen und lesen müssen - würden tiefer ins Portemonnaie zu greifen oder ihre Lektüre unfreiwillig einzuschränken haben.

Im Unterschied zu allen anderen Kulturbereichen, die in der Bundesrepublik finanziell zu etwa 90 Prozent von Institutionen der öffentlichen Hand getragen werden, ist der Buchsektor im Wesentlichen privatwirtschaftlich organisiert. Deshalb unterliegen seine Unternehmen in hohem Maße den Gesetzen des Marktes. Jahrzehntelang hat der Börsenverein des Deutschen Buchhandels es geschafft, die besonderen Bedingungen von Buchkultur und -markt zur Geltung zu bringen und einen zerstörerischen Wildwuchs des Markts zu verhindern. Er hat das weltweit einmalige Kunststück fertiggebracht, miteinander rivalisierende Unternehmenssparten - Verlage, Sortimente, Versand-, Reise- und Bahnhofsbuchhandlungen, Verlagsauslieferungen und Barsortimente - unter seinem Dach zu vereinen. Die enorme Konzentrationsbewegung des letzten Jahrzehnts aber hat zunehmende Interessenskonflikte zwischen den Sparten sowie zwischen Großunternehmen und dem alten Mittelstand verursacht. Angesichts dieser Zuspitzung kann der Börsenverein die von der Politik erwartete Solidarität unter seinen Mitgliedern immer weniger garantieren - genau das ist der Kernvorwurf der Hamburger Rede des Bundestagspräsidenten.

Die Buchpreisbindung hat zwar die Konzentration im Vergleich zu anderen Ländern verlangsamt, aber nicht zu verhindern vermocht. Dennoch bleibt sie wertvoll, die Ermahnung der Branche zu erhöhter Solidarität durch den Bundestagspräsidenten ist nur zu berechtigt. Die Politik ihrerseits wäre gut beraten, im Sinne ihrer gesellschafts-, kultur- und wirtschaftspolitischen Verpflichtungen trotz allem weiter an der Buchpreisbindung festzuhalten.


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