Städtebau Renaissance auf Schienen
Quietschgelb mit schwarzen Streifen, wie eine Art futuristische Tiger-Ente auf Schienen, zieht sie im Acht-Minuten-Takt wie ein Leuchtstreifen durch die Stadt: die neue Straßenbahn von Mülhausen. Die Tram, wie sie in Frankreich heißt, gibt der elsässischen Großstadt, die einst Wegbereiter der industriellen Revolution war und heute sichtbar mit dem Strukturwandel kämpft, neuen Stolz und Zuversicht.
"Wir wollten eine Tram, die auf sich aufmerksam macht", sagt Vize-Bürgermeister Michel Samuel-Weis, "als Sinnbild wirtschaftlicher Dynamik, ökologischer Rücksicht und städtischer Verschönerung: das Transportmittel als kulturelles Gesamtkonzept."
Für das neue Netzwerk, das fünf Gemeinden im Umkreis verbinden soll, wurden nicht nur die Straßen, Bürgersteige und Radwege grundüberholt, Bäume gepflanzt und die Schienenstrecken mit Rasen begrünt. Sondern die Stadt schrieb die Umgebung der Linien 1 und 2 sogar zur künstlerischen Gestaltung aus: Kunst an der Schiene statt Kunst am Bau. Samuel-Weis, als Sammler gut vernetzt, gewann Künstler von internationalem Renommee.
Tram und Straße werden eins
Der Franzose Daniel Buren schuf mächtige Bögen in der Form eines die Schienen überspannenden "Omega", das zugleich als Halterung für die Oberleitung dient. Zebrastreifen an den Bögen setzen sich teils auf dem Asphalt und an angrenzenden Hausfassaden fort und verweben optisch die Tram-Linie mit der Stadt.
Sein Kollege, der Deutsche Tobias Rehberger, plant sogar die weltweite Vernetzung von Tram und Stadt: Per Internet erlebt der Passant das Wetter in namensgleichen Städten in Echtzeit. An einer Haltestelle will er Licht in einem Schacht versenken, als leuchte die Sonne direkt vom australischen Shannon Rock durch den Erdball hindurch.
Der E-Musik-Komponist Pierre Henry schließlich schuf für jede Stationsansage eine eigene Erkennungsmelodie. "Die Bürger wurden an allen Vorhaben beteiligt", sagt Samuel-Weis, "sie entschieden mit über die Form der Tram-Kanzel oder gaben ihr Votum für Farben ab. Das Projekt war schon populär, bevor noch die erste Straßenbahn losfuhr."
Der Erfolg ist da. Tram fahren gilt als cool - und bequem. "Pünktlich, praktisch, sicher", lobt eine junge Mutter das Transportmittel, und vor allem: Es ist nachwuchstauglich. An den Haltestellen ist das Pflaster der Höhe der Einstiegstüren angepasst. "Kinderwagen? Kein Problem! Nicht dieser Alptraum wie an Bushaltestellen oder U-Bahn-Schächten."
Kräftiger Ausbau der Netze bis 2015
Die Renaissance der Straßenbahn ist die Antwort auf Staus und Verkehrskollaps, und das nicht nur in Mülhausen. Die Tram gehört mittlerweile in fast zwei Dutzend französischen Städten zum Markenzeichen urbaner Reformen. Nach Nantes und Grenoble, wo zuerst das einst ausgemusterte Stadtmobil wieder rollte, sind auch Bordeaux, Clermont-Ferrand, Marseille und sogar der Süden von Paris zum städtischen Schienenverkehr zurückgekehrt. Lille und Lyon prüfen den Ausbau der Netze, ebenso Caen, Brest, Nancy, Toulon ist in der Planung. Bis 2015 soll das Schienennetz landesweit um insgesamt 576 Kilometer wachsen.
In Mülhausens Nachbarstadt Straßburg wurde am 1. Mai 1960 die letzte Straßenbahn ins Depot geschickt, mit einem großen Festakt. Seit 1878 hatte die Tram dort zum städtischen Panorama gehört - damals als Einspänner auf Schienen, gezogen von einer kräftig schnaubenden Pferdestärke. 1930 verkehrte "die Elektrische" auf 234 Kilometern, bis weit ins ländliche Umland, so dass Arbeiterfamilien erstmals am Wochenende ins Grüne fahren konnten.
Nach dem Zweiten Weltkrieg war die Ära der Tram vorbei, galten die ratternden Triebwagen mit den Holzsitzen und den ungeheizten Waggons als altbacken. Wiederaufbau und Wirtschaftswunder verklärten den Privatwagen zum Statussymbol. "Das urbane Zukunfts- und Verkehrskonzept von damals lässt sich in einem einzigen Wort zusammenfassen", erklärt André von der Mark, 47, Direktor für Verkehr und urbane Großprojekte des Stadtverbandes Straßburg: "Auto".
Schnellstraßen ließen Trams verschwinden
Durch die Städte wurden Ringstraßen, Zubringer, Tunnel und Autobahnen gebaut. Statt Trams fuhren jetzt Busse und Metrobahnen. In Paris verschwanden die romantischen Seine-Quais unter mehrspurigen Schnellstraßen. Präsident Georges Pompidou höchstpersönlich ordnete den Umbau an und verkündete, 1971, "die notwendige Anpassung der Stadt an das Auto".
In Straßburg stand allmorgendlich an der Place Kléber im mittelalterlichen Herz der Stadt der Verkehr still. Bis zu 70 000 Autos blockierten sich gegenseitig. Die Stadtplaner gerieten ins Grübeln. "Zunächst gab es hochfliegende Pläne für eine automatische U-Bahn", erzählt Experte von der Mark. "Das galt 1980 als modern." Doch der Grundwasserspiegel lag zu hoch, eine tiefgebaute Metro wäre zu teuer gekommen.
1989 bewirbt sich die Sozialistin Catherine Trautmann mit dem Slogan "Ich realisiere die Tramway" um das Straßburger Bürgermeisteramt - und gewinnt. Fünf Jahre später wird die erste Linie eingeweiht. Es ist der Beginn der Erfolgsstory der neuen Straßenbahn, die so geräuscharm durch die Altstadt gleitet, dass oft erst die Warnglocke Passanten von den Schienen scheucht. Aus den zugigen Holzwaggons von einst sind elegante Züge mit gläserner Kanzel und buntem Innenleben geworden, mit Schalensitzen, Bänken, Panoramascheiben.
Hoffnung für vergessene Stadtviertel
Die Besinnung auf den schienengebundenen Nahverkehr ist ein Paradigmenwechsel der kommunalen Verkehrspolitik. Für Politiker, Architekten und Städteplaner geht es dabei um die "Öffnung der Enklaven": die Anbindung abgekapselter, oft heruntergekommener Viertel und die Schaffung eines Umfeldes, das der französische Stadtplaner David Mangin als "ville passante" beschreibt. Mangin schwebt ein städtisches Ensemble vor, "in dem die Menschen nicht mehr nur vom Auto abhängig sind, um die alltäglichen Dienstleistungen in Anspruch zu nehmen".
Die Straßenbahn als soziales Verbindungsglied? In manchen Städten hat die Tram den Status des bloßen Transportmittels bereits überwunden. In Mülhausen oder Montpellier wurden räumliche wie gesellschaftliche Randgebiete an das Zentrum angeschlossen. In Straßburg haben plötzlich Menschen aus den sogenannten schwierigen Vierteln den Zugang zum Zentrum - zum Bummeln, Arbeiten, zu Kinobesuchen. Und in Bordeaux gelang ein veritabler Brückenschlag auf das andere Ufer der Garonne, zum lange vernachlässigten Ortsteil La Bastide. "Die Bewohner fühlen sich endlich nicht mehr isoliert", jubelt die Sozialistin Michèle Delaunay, die den Arbeiterwahlkreis in der Pariser Nationalversammlung vertritt. "Die Tramway hat Bordeaux einen gewaltigen Imagegewinn beschert."
Von dem profitiert auch Bürgermeister Alain Juppé, der als innovativer Reformer bei den Kommunalwahlen im März in Amt und Würden bestätigt wurde. Der Konservative nutzte die Zeit der Schienenverlegung und ließ die gesamte Innenstadt generalüberholen: Die Verkehrsführung wurde neu strukturiert, städtisches Mobiliar ausgetauscht, Fußgängerzonen geschaffen, Fassaden renoviert. Der Verfall war gestoppt; die Bevölkerungszahl wächst, die Immobilienpreise im Zentrum steigen - der Tram sei Dank.
Schiene zieht Geschäfte an
Die Straßenbahn in der Doppelfunktion von städtischem Nahverkehrs- und urbanem Heilmittel: eine Erfahrung, die auch Nantes, Nancy, Nizza und Straßburg gemacht haben. "Wir konnten die städtische Landschaft überarbeiten und die Prioritäten neu ordnen", sagt von der Mark. "Davon profitierten Fußgänger, Fahrrad- und sogar Autofahrer."
Die Begeisterung für den Plan hielt sich anfangs freilich in Grenzen, das Chaos während der mehrjährigen Planungs- und Bauphase geriet beinahe zum kollektiven Trauma. "Die Straßburger wollten die Tram, aber nicht in ihrer Straße, die Händler fürchteten, dass Tausende Geschäfte schließen würden. Es kam zu Prozessen. Mal ging es um höhere Verkehrsdichte, mal um den befürchteten Lärm", erinnert sich der joviale Elsässer an aufgeregte Bürgerversammlungen und Protestkundgebungen. Von der Mark, der im Rathaus "Monsieur Tram" heißt, blieb beharrlich. "Kaum war die Straßenbahn in Betrieb genommen, hatten sich die Bedenken in Luft aufgelöst."
Davon profitiert auch die Wirtschaft. Das Zentrum Straßburgs, einst bedroht von Abwanderung des Handels und der Geschäfte, hat dank der Anbindung eine wahre Gründerzeit erlebt. Im Umfeld der Schienenwege sind heute Boutiquen wie Hermès, Cartier oder Gucci vertreten. Die Straßenbahn hat die Luxusmarken in die Stadt geholt.
Alle fünf Linien sind mittlerweile ausgelastet -auch dank einer klugen Preispolitik. Wer sein Auto auf einem Park-and-Ride-Platz parkt, erwirbt zum Einheitspreis von 2,70 Euro zugleich Park- und Fahrschein. Pro Auto werden bis zu vier Mitfahrer für das Umsteigen auf das öffentliche Vehikel mit Gratisfahrscheinen belohnt. Von der Mark: "Die Tram ist wie ein innerstädtisches Laufband."
Die eigentliche Innovation steht freilich noch bevor - die Eingliederung der Straßenbahn ins Regionalverkehrsnetz. In Mülhausen etwa soll die Tram, so die planerische Vision, bis zum 25 Kilometer entfernten Flughafen EuroAirport fahren. Dazu muss die Straßenbahn auf die Eisenbahnschienen umsteigen. Einen Namen hat das Fliewatüüt zwischen Straßenbahn und Regionalzug schon: "Tram-train".