Frühe Jahre Armes, schlaues Superkind
In dem berühmten Kinderbuch "Pu der Bär" von Alan Alexander Milne sprechen Ferkel und der miesepetrige Esel I-Aah eines Tages über drei Äste, die I-Aah sorgfältig vor sich auf dem Boden drapiert hat. "Das ist ein A", erklärt I-Aah. Ferkel zeigt sich nur mäßig beeindruckt. "Weißt du, was A bedeutet, kleines Ferkel? Es heißt Lernen, es heißt Bildung - all das, was Pu und dir fehlt", wettert der Esel. Das kleine Ferkel, das seine Zeit gern mit Trödeln, Träumen und Herumschlumpeln verbringt, schaut betreten.
Der Münchner Verlagsangestellten Julia Rest geht diese Szene aus dem Kinderbuchklassiker oft durch den Kopf. Ihre Tochter Lisa ist fünf Jahre alt, und Rest, 38, plagt sich längst mit kniffligen Bildungsfragen. Ihre Freundinnen bläuten ihr ein, dass man gerade in den ersten Lebensjahren sein Kind auf keinen Fall unterfordern dürfe, sagt Rest: "In deren Augen bin ich wohl total rückständig."
Ist sie tatsächlich rückständig? Sollen Drei-, Vier-, Fünfjährige Englisch, Französisch, Lesen und Rechnen lernen, in physikalischen Experimenten etwas über die Schwerkraft begreifen, ein Musikinstrument spielen? Und sollen sie, wenn der Kindergarten nicht genug zu bieten hat, Privatkurse besuchen? Kaum etwas bereitet engagierten Eltern heute solches Kopfzerbrechen wie die Frage, ob sie ihre Kleinen genügend fördern.
Die Pisa-Ergebnisse haben Mütter und Väter ebenso alarmiert wie die Erkenntnisse von Wissenschaftlern, die sich mit der Hirnaktivität von Kleinkindern und ihrem Lernverhalten beschäftigen.
Kein Wunder, dass eine wachsende private Bildungsindustrie Kurse auf den Markt wirft, mit denen Eltern ihr Kind frühzeitig fit machen und ihm optimale Startbedingungen mitgeben können, damit es später im internationalen Wettbewerb um die besten Jobs mithalten kann. So bieten die Helen Doron Early English Learning Centres deutschlandweit Kindern zwischen 3 Monaten und 14 Jahren Englischkurse an. Im Münchner Fünf-Sterne-Kindergarten "Elly & Stoffl" sollen Kinder Englisch oder Französisch lernen und mit Sauna, Kneipp-Anwendungen und Yoga-Übungen stimuliert werden.
Bei "Science Lab", einer Organisation mit über 70 Standorten in Deutschland für Kinder von vier bis zehn, geht es um Experimente aus den Bereichen Physik, Biologie, Chemie, Geowissenschaften und Astronomie - Fortbildungen von Kindergartenpersonal und Grundschullehrern gehören ebenfalls zum Programm. Die privaten Angebote leben gut davon, dass staatliche Kitas und Schulen oft deutliche Schwächen zeigen.
Viele Eltern berufen sich auf neurobiologische Erkenntnisse, aus denen sie die saloppe Formel ableiten: je mehr Stimulation und Förderung, desto mehr Synapsen im Gehirn, desto mehr "brainpower". Anders ausgedrückt: Das Babygehirn, eine Art Knetmasse, muss modelliert werden zum rechten Zeitpunkt - wer zu spät kommt, hat es leider vergeigt fürs ganze Leben.
"Die auf Seriosität bedachten Wissenschaftler selbst drücken sich zwar vorsichtiger aus, sind aber nicht ganz unschuldig daran, dass ihre Forschungsergebnisse so interpretiert werden", kritisierte die "Frankfurter Allgemeine". In einem Artikel über "Das dressierte Kind" warnte das Blatt davor, dem Nachwuchs alles einzutrichtern, was Erwachsene für karrierefördernd halten. "Statt sie mit Erklärungen zu traktieren, die über ihre eigene Wissbegier hinausgehen, tun Erwachsene besser daran, ihnen einfach Vorbild zu sein."
Auch Wissenschaftler betonen inzwischen, die menschliche Entwicklung sei viel komplizierter als aufgeregte Eltern glaubten. Die "Verwissenschaftlichung der Erziehung", sagt der Hamburger Pädagogikprofessor Peter Struck, verunsichere viele Eltern und habe einen "neuen Förderungszwang" hervorgebracht. Als wären Kinder Produkte, die es möglichst frühzeitig zu optimieren gälte, gemäß der Frage: Wie wird unser Anton Pisa-fit? Wie wird Antonia globalisierungstauglich?
Vom "Verschwinden der Kindheit" sprach einst der amerikanische Kulturkritiker Neil Postman; die Kindheit werde immer kürzer, konstatiert auch der Psychologe Johannes Klein-Heßling von der Berliner Bundespsychotherapeutenkammer. Die Pubertät habe sich nach vorn verlagert, und auch in den Jahren davor sei der Wandel fundamental. "Immer mehr Kinder werden immer früher auf Kurs gebracht", so Klein-Heßling, sie würden auch bei Freizeitangeboten mit Leistungserwartungen konfrontiert, "sie müssen sich selbst mehr managen als früher und vieles allein entscheiden".
Vorbei die Zeiten, in denen Herumstreuner wie Tom Sawyer und Huckleberry Finn Vorbilder waren - heutzutage stehen Kinder unter Daueraufsicht, ihr Spielen soll möglichst sinnvoll sein. "Viele Eltern verplanen die Zeit ihrer Sprösslinge komplett", sagt Struck, "und denken viel zu früh an die Karriere."
Chinesisch für Zweijährige, total verplante Kinder: Der Mythos der ersten drei Jahre
Den Kindern würde ein Stück ihrer Kindheit geraubt, weil sie zu früh kleine, clevere Erwachsene sein müssten. Der hannoversche Kinderpsychologe Wolfgang Bergmann spricht in seinem gleichnamigen Buch vom "Drama des modernen Kindes" und analysiert die Gründe für Hyperaktivität, Magersucht und Selbstverletzungen; Störungen, die Bergmann zufolge, rapide zunehmen.
In seiner Praxis erlebt er geschminkte, herausgeputzte zehnjährige Mädchen, die bereits Diäten hinter sich haben und mit ihrem Körper in Feindschaft leben, sowie unruhige, aggressive Jungen, die sich auf nichts konzentrieren können. Die deutsche Familie, konstatiert Bergmann, sei in schlechter Verfassung.
Vor allem in der Ein-Kind-Familie forderten Eltern häufig eine enge, harmonische Einheit, und das Kind müsse "das Funktionieren" der "glücklichen Familie" nach außen hin dokumentieren. Die Deutschen liebten ihre Kinder durchaus, sagt Bergmann, "nur ist es eine eingeschüchterte Liebe, eine, die keinen Blick für die Zukunft hat, sondern auf die Befolgung der Normen der Gegenwart starrt, eine, die in sich selber ohne Gelassenheit und Großzügigkeit ist und insofern ohne Vertrauen in das eigene Elternsein".
Die Erwachsenen sind ihrerseits bedürftig, unentwegt ist ihre Liebe auf der Suche nach Bestätigung. Bergmann: "Eltern wollen ständig, dass ihre Kinder ihnen beweisen, dass sie gute Eltern sind." Hinter den vielen gutgemeinten Fördermaßnahmen stehe letztlich die elterliche Angst vor dem Leistungsversagen des umsorgten Wesens.
Für viele verplante Kinder gehören Ballett, Flöten, Reiten, Tennis zum Zuwendungspaket. Zudem können die süßen Kleinen Partytänze, HipHop oder Samba lernen, in einem "KreativKidsClub" einen "Talente Parcours" durchlaufen, einen "Robbie Musikkurs" der "Yamaha Academy of Music" belegen, bei den "Tumble Tots" krabbelnd Englisch lernen, einen Mathekurs nach der japanischen Kumon-Methode besuchen, zum Taekwondo- oder Qigong-Unterricht traben. Was das alles gebracht hat, erfahren die Eltern dann durch die "human matrix Untersuchung", vollzogen vom "Institut für Potentialanalyse".
Während viele Familien ihren Kindern Kurse aller Art anbieten, tun andere zu wenig. So vertieft sich in Deutschland eine fatale Spaltung: Ein Drittel aller Kinder aus niedrigen Einkommensschichten besuchen keinen Kindergarten, weil es ihren Eltern offenbar nicht wichtig ist.
Diese Kinder erhalten weder genug sprachliches noch soziales Training und laufen Gefahr, schnell zu den Bildungsverlierern zu zählen. Ihnen gegenüber stehen übereifrige Oberschicht-Eltern, die ihren Nachwuchs mit Lernförderung aller Art traktieren.
Chinesisch mit zwei Jahren, Englisch noch vor der Grundschule: Dagegen spreche nichts, sagt Jürgen Weissenborn, Linguist an der Berliner Humboldt-Universität - wenn bestimmte Voraussetzungen erfüllt seien. Weissenborn hat sich in vielen Studien mit Sprachentwicklung befasst. 6 bis 12 Prozent der deutschen Kinder eines Jahrgangs, erklärt er, hätten Probleme, die Muttersprache zu erlernen. Logischerweise ist es nicht sinnvoll, sie mit einer Zweitsprache zu traktieren. "Wenn jedoch sichergestellt ist", erklärt Weissenborn, dass dies bei einem Kind nicht der Fall ist, "spricht nichts gegen den frühen Erwerb einer Fremdsprache".
Bei den Ehrgeizigen gerät über den Wunsch nach optimaler Förderung allzu leicht die Frage aus dem Blick, wie alltagspraktikabel das jeweilige Konzept für das Kind überhaupt ist. Fühlt es sich wohl und aufgehoben oder getriezt und gedrillt? Wie wirken sich hohe Erwartungen und entsprechende Enttäuschungen langfristig aus? Was ist, wenn Lernfortschritte zum wichtigsten Maßstab von Lob und Anerkennung werden? Und wie reagieren Kinder, wenn bei ihren fördernden und fordernden Eltern stressbedingt die Nerven blankliegen?
Genau diese Fragen halten Wissenschaftler und Pädagogen für entscheidend. Denn eine wesentliche Rolle für die Entwicklung kleiner Kinder spielten die Beziehung zwischen den Eltern und der Grad der häuslichen Harmonie. Hapert es da, kann man sich jeden Kurs sparen. Fabienne Becker-Stoll, die Leiterin des Münchner Staatsinstituts für Frühpädagogik, bringt es auf die knappe Formel: "Ein Kind lernt am besten, wenn es glücklich ist."
Einer der führenden deutschen Erforscher des Kinderhirns, der Göttinger Neurobiologe Gerald Hüther, schreibt in einem Aufsatz " Kinder brauchen Wurzeln. Zum Verhältnis von Bindung und Bildung", jedes Kind verfüge über einzigartige Potentiale zur Ausbildung eines komplexen, vielfach vernetzten und zeitlebens lernfähigen Gehirns. Aber ob und wie die Entfaltung dieser Anlagen gelingt, hänge auch von dem Gefühl der Sicherheit und Geborgenheit ab: "Beides gibt es nur in der intensiven Beziehung zu anderen Menschen."
"Menschen sind äußerst anpassungsfähig" - und Kinder keine Computer
Hüther beschreibt verlässliche emotionale Bindungen als "wohl wichtigste Voraussetzung für eine optimale Hirnentwicklung. Störungen dieser emotionalen Beziehungen stellen für Kinder, je früher sie auftreten, umso weniger zu bewältigende Belastungen dar".
Anders gesagt: Kinderhirne sind keine Computer, die mechanisch lernen, denn beim kindlichen Lernen sind Emotionen immer mit verwoben. Deshalb brauchen Babys und Kleinkinder weniger kognitives Wissen, sondern jemanden, der sie liebevoll umsorgt, sie liebevoll anschaut, liebevoll hält. Ist diese emotionale Zuwendung nicht vorhanden oder wird sie von Nervosität, Unbehagen, innerer Anspannung und Angst vor Fehlern verdeckt, fühlen sich die Kleinen schlicht unwohl. Vor allem Einzelkinder werden oft, aus übergroßer Liebe und Sorge, zum Objekt rastloser Beobachtung, zum Prestigesymbol, das vorzeigbar sein soll. Auch das erzeugt Stress.
"Das fängt schon bei der Geburt an, das Kind muss einfach super werden", hat der Schweizer Kinderarzt Remo Largo festgestellt. Largo, Verfasser der Bestseller "Babyjahre" und "Kinderjahre", kritisiert die wachsende Förderwut, die mehrere Eigenheiten des kindlichen Lernverhaltens missachte, nämlich "die genuine Neugier, die entwicklungsspezifischen Bedürfnisse und die Selbstbestimmung des Kindes".
Auch stehen Eltern und Kinder heute dauernd auf dem Prüfstand. "Was, deiner krabbelt schon?" oder "Oh, eurer läuft immer noch nicht?" - solche Bemerkungen mitfühlender Freunde werfen Eltern heute viel schneller aus der Bahn als noch vor 20 Jahren: Die eigenen Gefühle geraten aus der Balance, schwanken permanent zwischen Sorge, schlechtem Gewissen, Hilflosigkeit und Erschöpfung. So suchen Mütter oft schon kurz nach der Geburt verzweifelt Rat in der Hamburger Einrichtung "Dreiklang", die im gutbürgerlichen Stadtteil Volksdorf "Beratung und Therapie rund um Schwangerschaft, Geburt und Kindheit" anbietet.
"Dreiklang"-Therapeutin Sabine Kirsch kennt sie gut, diese Mütter, die verunsichert und überfordert kommen, getrieben von unrealistischen Glückserwartungen. "Die haben alle Bücher über Erziehung und Hirnforschung gelesen, wollen ganz viel für ihr Kind und stehen unter ungeheurer Anspannung", sagt Kirsch.
Diese Frauen sind voller Pläne für ihren Nachwuchs, fragen sich dauernd, was sie ihm noch anbieten könnten, das Kind, so Kirsch, sei davon überfordert, verweigere sich diesem Übereifer "und kann seine Eltern so eigentlich nur enttäuschen".
Auch die Münchner Therapeutin Gabriela von Windau sieht den Förderehrgeiz vieler Eltern mit Sorge. Eigentlich behandelt sie in ihrer psychotherapeutischen Praxis Erwachsene, doch immer häufiger bringen entnervte Mütter ihre kleinen Kinder "wie zur Reparatur", so Windau - weil diese sich angeblich nicht entspannen könnten. Der Terminplan der Kleinen, von dem die Therapeutin dann erfährt, ist bemerkenswert: Singgruppe, Schwimmkurs, Klavierstunde, Golf.
Oft, kritisiert Windau, "heißt die Frage nicht: Was will das Kind?, sondern: Was will ich, dass das Kind soll?" Meist hilft schon eine schlichte Frage: "Welchen Termin Ihres Kindes könnten Sie wegfallen lassen?" In fast allen Fällen reagieren die Kinder auf eine Reduzierung ihrer Aktivitäten mit großer Erleichterung.
Eltern sollten sich doch bitte entspannen, was die frühe Entwicklung ihres Nachwuchses angeht, schreibt der amerikanische Forscher John T. Bruer in seinem Buch "Der Mythos der ersten drei Jahre": Man solle nicht vergessen, dass "Menschen äußerst anpassungsfähig sind und dass unsere Kinder über eine bemerkenswerte Widerstandskraft verfügen". Was das Kind brauche, sei das, was Instinkt und gesunder Menschenverstand einem sagen: liebevolle, sprachliche Zuwendung, Spielen, Singen, Vorlesen, Körperkontakt.
Der Neurowissenschaftler Steven Petersen von der Washington University in St. Louis sagt es noch drastischer: "Es müssen schon äußerst elende Bedingungen sein, um die Entwicklung ernsthaft zu stören. Ziehen Sie Ihr Kind nicht in einem Schrank auf, lassen Sie es nicht verhungern, und schlagen Sie es nicht mit einer Bratpfanne auf den Kopf."