Auf dem Schulweg "Schule ist für Kinder da"
SPIEGEL: Herr Professor Largo, wie wichtig ist es für die Bildungsentwicklung, als Kind Geborgenheit, Zuwendung und feste Bindungen erlebt zu haben?
Largo: Sich geborgen fühlen und angenommen zu sein sind Grundvoraussetzungen für erfolgreiches Lernen. Aber in der Schule sind solche Emotionen oft regelrecht tabu. Das ist nicht kindgerecht. Eltern haben eigentlich ein ganz gesundes Empfinden: Ein guter Lehrer ist einer, der Kinder gern hat und mit Kindern gut umgehen kann. Das klingt banal ...
SPIEGEL: ... aber das spielt doch schon bei der Berufswahl kaum eine Rolle.
Largo: Leider wahr. Es gibt zwar auch Lehrer, die diese Grundbedingung mitbringen, aber methodisch, didaktisch im Unterricht versagen. Kinder zu mögen ist also keine Garantie für guten Unterricht. Wenn dem Lehrer diese Voraussetzung allerdings fehlt, haben die Kinder ein Problem und der Lehrer auch.
SPIEGEL: In Bayern, das sich gern als deutsches Musterland sieht, wechseln die Kinder alle zwei Jahre, oft jedes Jahr den Lehrer. Das gilt als gute Vorbereitung auf eine globalisierte Welt, in der wir flexibel sein müssen für den Arbeitsmarkt.
Largo: Das kann man so behaupten. Aber im Grunde genommen ist das eine emotionale Misshandlung, man kann auch sagen: eine Vernachlässigung der Kinder. Da wird ein Grundbedürfnis einfach missachtet. Wenn wir nachschauen, warum manche Klassen völlig aus dem Ruder laufen, ist ein häufiger Grund intensiver Lehrerwechsel. Weil die Kinder irgendwann nicht mehr bereit sind, sich zu binden, sind sie auch nicht mehr führbar. Geborgenheit und soziale Akzeptanz sind verhaltensbiologische Notwendigkeiten für ein gutes Lernklima. Vielleicht dauert es noch ein Weilchen, aber irgendwann werden auch die Vertreter einer Hochleistungspädagogik darauf kommen.
SPIEGEL: Welchen Rang räumen Sie dem Intelligenzquotienten für die geistige Entwicklung ein?
Largo: Die Lernbereitschaft ist nicht abhängig vom IQ. Eine wichtige Voraussetzung ist die Beziehung. Das hat mit Wohlfühlpädagogik nichts zu tun, das hat schon die berühmte Studie des englischen Kinderforschers Michael Rutter 1979 wissenschaftlich bewiesen.
SPIEGEL: Sie fächern die Intelligenz in sechs Kompetenzen auf. Welchen Rang nimmt hierbei die soziale Kompetenz ein?
Largo: Manche Politiker teilen die Welt ein in Bildung, wofür die Schule zuständig sei, und in Erziehung, die Ausbildung der sozialen Kompetenz in der Familie. Das geht völlig an der Realität vorbei. Erstens: Die Kleinfamilie schafft allein die Sozialisation des Kindes nicht mehr. Zweitens: Die Kinder verbringen bis zu 15.000 Stunden in der Schule. Sie werden da zwangsläufig sozialisiert. Wir können uns dann nur noch darüber unterhalten, wie.
SPIEGEL: In den Jahren nach 1968 wurde der sozialen Kompetenz mehr Aufmerksamkeit als zuvor gewidmet. Hat sich das unter dem Eindruck der Pisa-Studien und anderer Leistungstests geändert?
Largo: Das Interesse der Wirtschaft an der sozialen Kompetenz hat stark zugenommen. Konfliktfähigkeit, Verantwortung übernehmen, Teamfähigkeit, das sind Voraussetzungen, die in den Stellenanzeigen obenan stehen. Die Schule hat noch nicht kapiert, dass die Kinder diese Fähigkeiten als Erwachsene nicht mitbringen werden, wenn die Schule sie dazu nicht erzieht. So was kann man nicht in der Kleinfamilie lernen.
SPIEGEL: Was sagen Tests wie Pisa über die Qualität von Bildung und Ausbildung aus?
Largo: Die Pisa-Studien sind methodisch erstaunlich gut gemacht und haben politisch die Einsicht erbracht, dass Kinder aus sogenannten bildungsfernen Familien im deutschsprachigen Raum deutlich benachteiligt sind. Aber: Wer meint, man müsse nun national oder in den Bundesländern, in einzelnen Schulen und für jedes Kind Standards einführen und hätte damit auch gleich die Qualität von Bildung verbessert, ist auf dem Holzweg. Dadurch wird nur der formale Wettbewerb angeheizt.
SPIEGEL: Heutzutage geraten Eltern und Kinder häufig schon in der Grundschule in Leistungsstress. Notendurchschnitte, Förderunterricht, Nachhilfe - das alles wird immer weiter nach vorn verlagert.
Largo: In Bayern brüsten sich die Minister sogar damit, dass nach der Grundschule die Noten besonders gut seien. Das ist wirklich tragisch und zeigt nur, dass viele Leute die Pisa-Resultate nicht verstehen. Die Vergleiche beziehen sich immer auf den Durchschnitt, aber Mittelwerte sagen doch überhaupt nichts über die große Streubreite der individuellen Leistungsfähigkeit aus.
"Aus jedem Kind das Maximum herausholen - durch Freude am Lernen"
SPIEGEL: Was sollen Kinder wann, wo und wie lernen?
Largo: Wir sollten uns an drei Punkten orientieren.
- Erstens: Was bringt ein Lerninhalt dem Kind für seine Entwicklung?
- Zweitens: Ist das nützlich, was da beigebracht wird?
- Drittens: Und ist es nachhaltig?
Beispiel Mathematik, die Mengenlehre. Hat die Mengenlehre einen positiven Einfluss auf die Entwicklung der Kinder? Hat sie tatsächlich die Fähigkeit, logisch zu denken, verbessert? Wo liegt der Nutzen für den Erwachsenen, die Mengenlehre gelernt zu haben? Wie viel wissen Erwachsene noch von der Mengenlehre? Wir wissen es nicht. Bei Addieren, Subtrahieren, Multiplizieren ist die Nachhaltigkeit im Alltag belegt. In der Schule werden einige Bereiche der Mathematik gelehrt, deren Nützlichkeit und Nachhaltigkeit wir nicht kennen. Ich bin überzeugt, dass man 30 bis 50 Prozent der Mathematikstunden streichen könnte. Was machen wir Sinnvolleres mit der gewonnenen Zeit? Aber so diskutieren wir nicht über diese Frage, sondern die Fachlehrer kriegen Angst um ihre Stelle. Es sind leider meistens keine kind- und entwicklungsgerechten Argumente, die das Curriculum bestimmen.
SPIEGEL: Welche Argumente wünschen Sie sich?
Largo: Schule ist für Kinder da. Wir brauchen Schulen, die sich an den Kindern orientieren, nicht an irgendwelchen Ideologien oder Interessen der Erwachsenen. Zurzeit driften wir ab auf kurzfristige Bedürfnisse der Wirtschaft, an die wir die Schulen anpassen. Ich finde das grundfalsch. Man müsste aus jedem einzelnen Kind das Maximum herausholen - durch Freude am Lernen. Das wäre auch für die Gesellschaft und die Wirtschaft das Beste.
SPIEGEL: Eltern fühlen sich zunehmend überfordert, wenn sie beurteilen sollen, ob die dreigliedrige Schule, die Ganztagsschule, das jahrgangsübergreifende Lernen, vier, sechs oder neun gemeinsame Schuljahre ihre Kinder optimal fördern und fordern. Gibt es gesicherte Erkenntnisse zur Wahl einer Schule?
Largo: Fachleute können Eltern drei, vier Schulen empfehlen, aber dann müssen Eltern selbst herausfinden, was für ihr Kind das Beste ist. Man kann nicht einfach sagen, Waldorf oder Montessori, das ist die Lösung. Auch Waldorfschule ist nicht gleich Waldorfschule. Die Frage ist: Was sind da für Lehrer, was für ein pädagogisches Konzept, welche Stimmung herrscht in der Schule?
SPIEGEL: Gibt es methodische Empfehlungen?
Largo: Individualisierter Unterricht, rhythmisierter Unterricht, jahrgangsübergreifendes Lernen - das sind auch alles Schlagworte. Die Eltern müssen trotzdem hingehen und schauen, wie das in der Praxis aussieht.
SPIEGEL: Das zu beurteilen setzt auch bei Eltern eine gewisse Kompetenz voraus.
Largo: ... und die Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen. Es gibt zum Beispiel Lehrer, die machen immer noch Frontalunterricht. Und sind durchaus imstande, zu individualisieren. Und dann gibt es Lehrer, die arbeiten in Gruppen, es geht chaotisch zu, und das Ganze ist pädagogisch nicht zu empfehlen. Ich würde mich nur auf die konkrete Erfahrung verlassen.
SPIEGEL: Kinder, sagen Sie, können nur optimal ihrer Leistungsfähigkeit und ihrer Begabung entsprechend lernen, wenn sie "aus sich heraus handeln" dürfen. Was bedeutet das?
Largo: In den ersten Lebensjahren tragen wir Erwachsene wenig zur geistigen Entwicklung der Kinder bei - außer dass wir mit ihnen reden. Den Rest machen die selbst. Dann haben sie mit fünf Jahren gute Grundkompetenzen entwickelt. Nun kommen sie in die Schule, und jetzt soll selbstbestimmtes Lernen plötzlich nicht mehr gelten. Die Kinder gehen gern in die Schule, die Frage ist nur, wie lange. Man verdirbt ihnen die Lernmotivation, weil man sie nicht so lernen lässt, wie sie wollen. Wir meinen, wir wüssten es besser.
SPIEGEL: Wie ließe sich das Prinzip des Aus-sich-heraus-Handelns auf Unterrichtspläne anwenden?
Largo: Lehrpläne gibt es seit vielen Jahren. Sie sind noch nie erfüllt worden. Keine Schule, kein Lehrer kann behaupten, sie zu erfüllen. Auch das zeigen die Pisa-Studien. Wenn sie bei 15-, 16-Jährigen die Lesekompetenz prüfen, verfügen 20 Prozent der Jugendlichen über eine Lesekompetenz, die der vierten bis sechsten Klasse entspricht, weil die Unterschiede unter den Kindern so groß sind. Man muss sich eingestehen, dass die Standards immer versagen.
SPIEGEL: Ihr neues Buch, das im Frühjahr herauskommt, handelt von Schule. Was ist die wichtigste Botschaft, die Sie Eltern mitgeben können?
Largo: Es ist für Eltern ganz schwierig, sich dem allgemeinen Leistungsdruck zu entziehen und ihn nicht an die Kinder weiterzugeben. Wenn sie sich darum bemühen, ist das schon ganz viel. Das heißt auch, dass sie immer auf der Seite des Kindes stehen. Der Druck ist sehr oft kontraproduktiv: Er blockiert die Kinder. Vor allem Eltern aus der Mittel- und Oberschicht müssen sich fragen, wie viel von dem Druck ihre eigenen Erwartungen sind, Status- und Prestigeangelegenheiten, die überhaupt nichts mit dem Kind zu tun haben. Es gehört ein Stück Demut dazu, sich einzugestehen, dass ein Kind nicht den Eltern gehört, sondern nur sich selbst.
Das Interview führte Bettina Musall