Leben mit Demenz Endstation Wellness

Das Pflegeheim Sonnweid bei Zürich gilt als eine der besten Demenz-Einrichtungen weltweit. 150 Patienten leben hier in Wohngruppen, im Heim oder in der gemeinschaftlichen Intensivpflegestation. Die Devise: Lebensqualität bis zum letzten Atemzug.

Sonnweid. Der Name ist Programm. Auf der Südseite der Garten mit Wegen zum Lustwandeln und Jean-Tinguely-Springbrunnen, dahinter Wiesen und in der Ferne die schneebedeckten Glarner Alpen. Links zu Sitzgruppen arrangierte Loungesessel aus granitfarbenem Kunststoffrattan. Die Luft schmeckt wie frisch gewaschen.

Demente

Dies ist kein Schweizer Luxushotel. Dies ist ein Pflegeheim für . Für Menschen, die schon mal sabbern oder sogar Kot verschmieren. Noch mal tief einatmen. Luft anhalten.

Eintreten. Lage sondieren. Und dann: Aufatmen.

Es riecht immer noch frisch. Die Herrschaften, die hier auf den lichten Fluren ihre Bahnen ziehen, sind gut gekleidet. Die Damen tragen Schmuck und auf den Nägeln roten Lack, die Herren gebügelte Hemden und geschnürte Schuhe. "Grüezi, Frau Eckli*", "Grüezi, Herr Walter, gaht's guat?" Eine junge Frau in kobaltblauer Arbeitskleidung quert grüßend den Flur. Die Angesprochenen blicken auf. Die alte Frau lächelt versonnen. "Grüezi", antwortet der tiefgebeugte Herr Walter und wird eine Spur gerader, "ja, ja, 's gaht guat".

Sonnweid beherbergt 150 demenzkranke "Bewohner", wie sie hier die Patienten nennen. Für fast alle ist das Haus in der Kleinstadt Wetzikon letztes Zuhause; der Durchschnittsaufenthalt beträgt 2,5 Jahre. Ein Team aus 240 Angestellten kümmert sich um sie, inklusive 4 Köchen und 15 Putzfrauen. Rund 6000 Euro kostet ein Pflegeplatz im Monat - in der Schweiz ist das für jeden Bürger bezahlbar.

Das Heim hat den Ruf einer europäischen Vorzeigeeinrichtung. Das liegt nicht nur an der finanziellen Ausstattung. Sondern an der Courage, mit der sie hier immer wieder Neues ausprobieren. Im Dienste des Menschen und seiner Bedürfnisse gelten hier keine Tabus. Sex, zum Beispiel, ist hier nicht nur erlaubt: Bei Bedarf wird er sogar gefördert.

Gleichzeitig behandeln sie die ihnen Anvertrauten mit geradezu skrupulösem Respekt. Welches Gut wiegt höher: Bewegungsfreiheit oder Unversehrtheit? Darf man einem gebrechlichen Bewohner eine Sturzhose gegen Hüftbruch umbinden, auch wenn die Inkontinenz befördert? Was ist, wenn eine Dame allmorgendlich bei der Auswahl ihrer Garderobe verzweifelt, sie sich aber von keinem Stück in ihrem proppevollen Kleiderschrank trennen mag: Darf man ihr dann heimlich Sachen wegnehmen? Solche Fälle entscheiden Ethikkommissionen, kleine, unbürokratische Runden, die hier fast täglich tagen.

Michael Schmieder, 55, hat diesen Sonnweid-Spirit geprägt. Ein Mann wie einem Janosch-Buch entsprungen: Schnauzer, verschmitzte Augen, buschige Brauen. Er ist ausgebildeter Pfleger mit einem Master in Ethik, politisch sozialisiert, wie er sagt, "bei den Anarchisten".

Zur Sonnweid kam der Badener 1986 als Pflegedienstleiter. Damals war das Haus ein heruntergewirtschaftetes Heim für chronisch psychisch kranke Frauen. Um aus den Miesen zu kommen, riet Schmieder dem Besitzer, das Haus einer Klientel zu widmen, die keiner wollte. Es entstand das mutmaßlich erste reine Dementenheim in Europa.

Seitdem ist Schmieder hier Chef. Er hat auch die Dreiteilung eingeführt, die heute vielerorts nachgeahmt wird. Wohngruppe, Heim, Intensivpflegestation.

In den Wohngemeinschaften wohnen die, die noch zu Hause leben würden, wenn sie Angehörige hätten: Menschen, die soziale Bindungen eingehen können. Wer das nicht mehr kann oder mag, wird im Heimbereich betreut. 70 Prozent der Sonnweidner leben hier. Zu den sieben Heimgruppen gehört eine "Tag-und-Nacht-Station", die externe Gäste bis zu drei Tage pro Woche aufnimmt. Betreuende Ehepartner reißen sich um diese Plätze zur eigenen Entlastung.

Die Schwerstdementen werden in der "Oase" gepflegt. Nachdem Schmieder die Station 1998 eingeführt hatte, schlug 2002 das Kuratorium Deutsche Altershilfe Alarm. Sieben Intensiv-Pflegefälle zusammen in einem Raum, das sei "der Vorhof zum Fegefeuer", ereiferten sich die Sittenwächter in Köln. Die Aufregung ist passé. Auch deutsche Heime setzen inzwischen auf Gemeinschaftsunterbringung in der letzten Phase.

Von Innovationsgeist zeugen sogar die Treppenhäuser. Schmieder geht voran. Lange, offene Rampen führen nach oben. Dort, wo es Stufen gibt, begrenzen im Zickzack geführte Stangen mit gelben Tüchern den Weg. "Seitdem wir die angebracht haben, ist hier niemand mehr gestürzt." Taghell ist es, "Vollspektrumlicht. Es regt die Serotoninbildung an und wirkt antidepressiv".

Links und rechts in den Gängen stehen alle zehn Meter Leckereien bereit. Obstschnitze auf Bananenblättern arrangiert, Käsestücke, Kuchen. "Viele Bewohner überleben nur dank dieses Angebots", sagt Schmieder leise und nickt einer beängstigend schmalen Frau mit riesigen Augen zu. Sie gehört zu den "Wanderern". Von einer Art Bewegungszwang getrieben, sind diese Menschen unermüdlich auf den Beinen.

Die Frau nähert sich Schmieder und tuschelt aufgeregt. Er beugt sich flüsternd zu ihr, sie antwortet, er nickt. Mit Verschwörermiene kramt sie eine Art hölzernes Ei aus ihrer Hosentasche und hält es ihm vor die Augen. Er berührt das Ei, "schön, ja". Einen Moment lang entspannen sich die steilen Falten über der Nase der Wanderin. Nickend verstaut sie wieder ihr Ei und zieht weiter.

* Alle Patientennamen wurde geändert.

Alle Türen im Haus sind unverschlossen.

Was sie wollte? Schmieder schüttelt den Kopf. "Weiß ich nicht. Ich bin auf ihr Flüstern eingegangen, ich habe ihr Anliegen, das Ei, gewürdigt. Diese Art Zuhören und Anerkennen nennt man Validation. Es beruhigt Demente." Die Sonnweid-Devise: Niemals Bewohner mit ihren Defiziten, Irrtümern oder Fehlverhalten konfrontieren. Das verängstigt sie und verwirrt sie erst recht.

Alle Türen im Haus sind unverschlossen. Die Menschen bewegen sich bis in den unauffällig eingezäunten Garten völlig frei. "Viele merken gar nicht, dass sie eingesperrt sind." Es ist selten, dass hier einer an Türen zerrt und randaliert.

Die Inneneinrichtung der Sonnweid ist modern, alles ist hell gestrichen und wirkt neu. Es gibt hier nicht die andernorts beliebte Fünfziger-Jahre-Möblierung, die an die vermeintlich heile Kindheit der in ihren Erinnerungen verlorenen Menschen anknüpfen soll. "Unsere Bewohner sind dement und nicht bescheuert", ereifert sich Schmieder. "Wir sollten sie nicht 'demenzwürdig' behandeln. Sondern menschenwürdig." Für ihn heißt das: Die inneren Welten der Bewohner anerkennen, ohne sie anzulügen. Niemals.

Es ist kurz vor zwölf. Aus einem Eckraum duftet es nach Speck und Rauch. Elf Bewohner der Station B 1 sitzen dort um einen gedeckten Tisch. In der Ecke steht ein schmucker Mann mit Kochmütze, weißem Kittel und Fliege und schwenkt einen Topf über einem Gasherd auf Rädern. "Stinkt gut", bemerkt eine Dame. "Knurrt der Bauch schon?", fragt der Koch. Sie strahlt ihn an. "A Geißebärtli", sagt sie, "gefällt mir." Thomas Grob zupft an seinem Ziegenbart. "Mir auch."

Jeden Tag macht Grob auf einer anderen Station Showkochen, auch in den beiden Schwerkranken-Oasen. "Der Geruch stimuliert den Appetit." Zwei Menüs kocht seine Mannschaft pro Tag, in zehn Ableitungen: mal als Fingerfood, mal grob zerkleinert oder püriert. Für drei Bewohner werden nur süße Speisen zubereitet. "Sie essen nichts anderes." Die reine Ernährungslehre hat der Koch dreingegeben. "Meine Aufgabe ist, dass sie mit Genuss und Freude essen."

Schmieder hat nicht nur den Koch in die Pflege integriert. Auch die Putzfrauen machen mit. Seitdem sie mit den Bewohnern Kuchen backen, gelten sie nicht mehr bloß als Raumpflegerinnen: "Der Zugang zu Menschen mit Demenz ist nicht abhängig vom Bildungsgrad."

Nach dem Essen gibt's im Heim Kaffee. Verstohlen deutet Schmieder auf einen glatzköpfigen 82-Jährigen, der leicht zusammengefallen im Rollstuhl sitzt. "Das ist der Herr, der sich so nach einer Frau gesehnt hat", raunt er. Inzwischen haben sie auf seine Kosten eine sogenannte Berührerin engagiert. Die grauhaarige Dame, früher Handarbeitslehrerin, kommt alle zwei Wochen und befriedigt die Bedürfnisse des alten Mannes. Die Pfleger waschen ihn zuvor; dann lassen sie die beiden allein. "Hinterher schläft er mit einem seligen Ausdruck im Gesicht."

Die Stationspflegerin zwinkert. Sie sitzt mit einem weiteren Mann im Blaukittel in der Runde am Tisch. Eine Dame schmettert alle drei Minuten dasselbe italienische Kinderlied. Signora Belli hat die Grandezza einer Clanchefin aus "Der Pate": streng nach hinten gezogene, schlohweiße Haare, hohe Wangenknochen, kerzengerade Haltung. "Kuku, kuku, kuku", singt Belli den Refrain. Die Übrigen fallen ein.

Die meisten sitzen nicht so aufrecht. Sie haben die Augen halb geschlossen oder sind zusammengesunken; zwei verschränken die Arme in spastischen Krümmungen. Eine umherirrende Bewohnerin, die nicht zur Station gehört, tritt zum dritten Mal an den Tisch und verlangt ein Glas Wasser. Plötzlich giftet eine bis dahin stumme Dame die Fremde an: "Wenn ich Sie wäre, wäre ich schon ausgelaufen." "Zum Glück sind nicht alle Menschen gleich", schießt die Durstige zurück, "jedem Tierle sein Pläsierle."

"Das ist ein schönes Sprichwort", beendet der Pfleger den Schlagabtausch. "Wer weiß noch welche? Hunde, die bellen ..." Fragend blickt er in die Runde. Plötzlich ertönt eine hohe Stimme neben ihm. Sie gehört einer Frau, die bisher ohne jede Regung vor sich hin gestiert hat. "Die beißen nicht", kreischt sie und zieht die Vokale dabei unnatürlich lang. "Lügen haben", legt der Pfleger nach, "kurze Beiiiine", tönt es laut und hoch.

Der Pfleger streichelt den Buckel seiner Nachbarin, "Frau Meyer, Sie wissen die Sprichwörter sehr gut." Noch ein Dutzend Spruchanfänge richtet er mal an die Runde, mal namentlich an Einzelne. Sprichwörter sind wie Liedgut: Sie haften am längsten im Gedächtnis.

Dann zückt der Pfleger einen Ball aus Schaumstoff. Er wirf ihn Herrn Meyer zu. Meyer rollt ihn zu Belli, Belli zur Sprichwortexpertin. Die ignoriert ihn, aber ihr Nachbar, ein Herr Winter mit Vollbart, greift zu. Sacht schiebt er ihn vor die Handknöchel der Buckeligen. Die behält ihre Pokermiene, gibt dem Ball aber einen Stups. "Was für ein Gentleman, der Herr Winter, nicht wahr, Frau Meyer?", lobt der Pfleger.

"Singen, turnen, basteln"

Einer der zwei Rollstuhlfahrer am Tisch kann den Ball nicht selbst fassen, seine Hände sind zu Fäusten verkrampft. Geduldig massiert die Pflegerin neben ihm seine Finger, löst sie, drückt sie gegen die Schaumstoffkugel. Auf einmal ergreift der Mann ohne fremde Hilfe ein Stück Fell, das auf seinem Schoß liegt.

Die Pflegerin berichtet später dem Heimleiter von dem Erfolg. "Ballspiele mobilisieren oft noch Ressourcen", sagt Schmieder und schnalzt anerkennend.

In der Sonnweid nutzen sie viele moderne Pflegemethoden: neben Aktivierungsübungen etwa kinästhetische. Dazu zählen Gewichtsverlagerungen des Patienten, durch die auch eine zarte Pflegerin einem schweren Mann beim Aufstehen helfen kann. Oder die basale Stimulation: Sie ist besonders in der Intensivpflege wichtig. Dass die Sonnweid-Patienten auch auf der Oase tagsüber stets gutgekleidet sind, dient nicht nur der Ästhetik: Durch die engsitzende Kleidung spüren sie sich besser. Und sie leben weiter im Tag-Nacht-Rhythmus, auch dies Teil der Basal-Pflege.

"Aber Therapien sind das nicht", betont Schmieder. "Wir singen, wir turnen, wir basteln wie bei der Ergotherapie. Mit den Fittesten veranstalten wir sogar Gesprächsrunden, die an Selbsthilfegruppen erinnern. Aber das heilt sie nicht. Wir müssen ihre Verwirrtheit anerkennen und nicht wegtherapieren wollen. Das schafft nur unnützen Druck."

Er grinst. "Unsere Pflege besteht in Wellness."

Für die Wellnesspflege à la Sonnweid ist Margit Sigg, 58, eine der besten Kräfte. Seit zehn Jahren arbeitet die ehemalige Krankenschwester hier. Sigg wirkt jung mit ihren glänzenden Augen, Grübchen und frech abstehendem, braunem Haar; in ihrem edelkreativen Outfit könnte sie Schmuck auf einem Kunstmarkt verkaufen. "Die Sonnweid schickt uns ständig zu Fortbildungen", sagt Sigg, "sie haben mich für den Job hier qualifiziert." Das Heim hat gerade für die hohe Zufriedenheit seiner Mitarbeiter einen Preis gewonnen. "Bei Problemen kann ich jederzeit Herrn Schmieder holen." Wenn sie mit einem Bewohner nicht fertig werde, dann könne die Autorität eines männlichen Chefs Wunder wirken - "zum Beispiel wenn ein ehemaliger Manager unbedingt ein Auto kaufen will".

In der Wohngruppe, die Sigg leitet, leben sieben Schützlinge. Über einen Korridor ist die Wohnung mit dem Heim verbunden. Die sieben kochen in einer eigenen Küche, sie bügeln ihre Wäsche selbst, stricken, schauen fern.

"Hierher kommen sie ja meist in der ersten Phase ihrer Krankheit", sagt Sigg. "Da sind sie oft aggressiv. Sie machen der Umwelt Vorwürfe, um eigene Inkompetenz zu vertuschen." Den Anschuldigungen begegnet sie mit Validation: zuhören, anerkennen, würdigen.

"Frau Schuster zum Beispiel", sagt Frau Sigg und deutet auf eine 60-Jährige, die mit Hilfe eines Wörterbuchs ein französisches Buch liest. "Sie hat uns immer wieder gesagt, wie unzulänglich wir seien und wie viel besser es zu Hause war." Statt die verzweifelte Frau zu beschwichtigen, fragte Sigg sie immer wieder freundlich: "Was vermissen Sie denn, wenn sie an zu Hause denken?" Da schlug die Wut meist in Traurigkeit um. Mit den geteilten Tränen wuchs langsam das Vertrauen, mit dem Vertrauen die Zuversicht.

"Heute sagt Frau Schuster, sie habe drei Mütter. Gell?" Die Frage hat Sigg laut gestellt. "Ja, ich habe drei", sagt die Angesprochene. "Meine Mama, meine Schwiegermama und Frau Sigg."

Die Pflegerin strahlt und senkt wieder die Stimme. "Ich habe auch viel mit ihrem Ehemann geredet", erzählt sie. "Anfangs kam der mit geröteten Augen und in wüstem Aufzug. Die Ärzte hatten ihm gesagt, er dürfe seine Frau nie wieder zu sich nehmen. Sie trank damals hemmungslos." Heute fährt Frau Schuster immer dann zu ihrem Mann, wenn noch ein Verwandter zugegen ist, "das tut ihr und ihm enorm gut".

Es geht um Lebenqualität.

Angehörigenarbeit sei ein wichtiger Teil des Jobs. "Das macht jeder von uns."

Die Validationsexpertin hat einen Traum. "Ich möchte, dass unsere Bewohner verreisen können", sagt sie. "Man redet nie von Burnout im Zusammenhang mit alten Leuten. Aber ich sehe, dass manche hier stark belastet sind. Eine Auszeit in einer kleinen Gruppen wäre für sie wunderbar."

Sie greift nach einem Fotobuch. Sofort blicken die WG-Bewohner auf, "unsere Reise", ruft eine heitere 80-Jährige, "ach, war das schön, das Rodeln". Vorigen Winter hat Sigg es geschafft: Wegen Umbauarbeiten musste die ganze WG aus der Wohnung, "da bin ich mit ihnen weggefahren, in ein Haus, das sogar ein kleines Hallenbad hat." Sie zeigt Bilder der planschenden Bewohner. "Das ist Lebensqualität", sagt die Pflegerin bestimmt, "darum geht es doch."

Neugierig nähert sich der einzige Mann der WG. "Erinnern Sie sich noch an die Frau André?", fragt ihn Sigg und zeigt auf ein Bild. "Sie haben auf der Reise ein Zimmer mit ihr geteilt." Er wird verlegen. "Es war das größte Zimmer. Das war nicht so, wie Sie denken." "Gell, sie war lieb, die Frau André", sagt Sigg. Flüsternd erzählt sie, dass das WG-Paar auch mittags stets Schäferstündchen gemeinsam hielt - bei ihm, im einzigen Einzelzimmer in der Wohngruppe.

Das war vor einem Jahr. Damals malte der Alte noch Picasso-Bilder ab. Heute kann er das nicht mehr. Seine Freundin lebt jetzt im Heimbereich, "die Gemeinschaft wurde ihr zu anstrengend".

Das ist das Konzept der Sonnweid: Wenn ein Kranker überfordert ist, wird er verlegt. Das berüchtigte Verschmieren von Kot gilt als typisches Zeichen von Überforderung. "Wir hatten eine Patientin, die wurde zu uns überwiesen, weil ihr Mann sich so ekelte." In der Wohngruppe hörte die Frau auf, mit ihren Exkrementen zu spielen. "Ein Jahr später ging es wieder los. Wir verlegten sie ins Heim; sie hörte wieder auf."

Nicht jeder Sonnweid-Bewohner durchläuft alle Bereiche. Manche sterben in der Wohngemeinschaft, sehr viele im Heim. Und manche wechseln auch nicht erst von der WG ins Heim, sondern direkt in die Oase. Der Aufenthalt in der Schwerstdementen-Station ist endgültig. Aber als Sterbe-Hospiz versteht sich die Oase nicht.

Fünf Frauen und zwei Männer werden derzeit in der Oase I gepflegt. Der Jüngste ist kaum über 40, ein Patient mit Down-Syndrom, der jetzt im Endstadium seiner angeborenen Krankheit ist. Mit strahlender Miene thront er in seinem Rollstuhl mitten im Raum; dass ab und an einer der Mitbewohner in den rollbaren Gitterbetten stöhnt, stört ihn nicht. Gelborangefarbene Gardinen tauchen das Zimmer in ein warmes Licht. Auf den Fensterbänken stehen Orchideen, an Stellwänden hängen Schwarzweißfotos. Sie zeigen die Patienten in jungen Jahren, häufig mit ihren Kindern.

Markus Kürsteiner, ein drahtiger Mann mit Halbglatze, arbeitet hier seit zwölf Jahren. Er hebt Frau Sickinger aus dem Rollstuhl in ihr Bett. Sie ächzt laut. Es sei Zeit fürs Nachtessen, erklärt ihr der Pfleger. Jede seiner Handlungen - Beine ablegen, Rücken anlehnen, Arme platzieren - kündigt Kürsteiner laut an. "A' goaten", sagt er bei jedem Löffel, den er ihr vor die Lippen hält, und Sickinger reißt artig den Mund auf. Der fütternde Pfleger erinnert an einen fürsorglich zwitschernden Vogel.

Sickinger, eine alte Bauersfrau, ist seit zwei Jahren hier. Sie ist Kürsteiner ans Herz gewachsen. "Sie reagiert so unmittelbar." Schon minimale Augenbewegungen sind Teil seines täglichen Zwiegesprächs mit der Sprachlosen; jedes Grunzen versteht er; er weiß, warum die spastisch gekrümmte Patientin plötzlich laut "ja, ja, ja" von sich gibt.

Kürsteiner erinnert sich gut an die Fegefeuer-Kritik aus Deutschland gegen die Gemeinschaftsunterbringung. "Für geistig gesunde Kranke ist es besser, wenn sie im Einzel- oder Zweibettzimmer liegen", glaubt er. "Aber bei Menschen mit Demenz dominieren die Gefühle. Alleinsein macht ihnen große Angst; die Gegenwart anderer Menschen beruhigt sie."

Kürsteiner kennt das Schreien und Rufen von einsamen Dementen im Endstadium, der 62-Jährige hat schon vor seiner Anstellung bei der Sonnweid als Altenpfleger gearbeitet. "Wenn Patienten sich nicht entspannen, können wir sie kaum pflegen, ohne sie medikamentös ruhigzustellen. Sie entwickeln dann enorme Widerstandskräfte."

Mit Grauen erinnert sich der Pfleger an das kachelnde Geräusch in der Lunge von Menschen, die mit der Magensonde ernährt wurden. In der Sonnweid wird bis zum Schluss gefüttert, auch wenn es stundenlang dauert. Wenn die Patienten den Mund nicht mehr aufmachen, ist der Tod nah. "Sie sterben dann ganz ruhig, mit wesentlich weniger Schmerzmitteln."

Ob sie dann, ganz am Schluss, in ein Einzelzimmer kommen? "Das entscheiden die Angehörigen."

Viele, fügt der Sonnweid-Pfleger stolz hinzu, würden sich für den Tod in der Gemeinschaft der Oase entscheiden. Die anderen Bewohner dürfen dann ein Spielzeug oder einen Teddy des Gestorbenen halten. Als Abschiedsritual.

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