
Arbeiten in Norwegen: Früh kommen, früh gehen
Arbeit und Familie in Norwegen Im Land der Glückseligen
Jeden Nachmittag um fünf, wenn alle zusammen am Tisch sitzen und essen, dann wissen die Krumbachers, dass sie es richtig gemacht haben. Dass es gut war, nach Oslo zu ziehen und dafür seinen Job als Top-Jurist in einer Anwaltskanzlei und ihre Boutique für Kindermode aufzugeben. Denn nun haben sie etwas Kostbares gewonnen, das ihnen vorher fehlte: Zeit.
Die drei Kinder, ein Sohn, zwei Töchter, gingen in Bayern auf die Grundschule. Helena, die Älteste, sollte nach den Sommerferien aufs Gymnasium. "Mir fehlte einfach Zeit für meine Kinder", sagt Florian Krumbacher - und seiner Frau Lillian die Karriere. Und so fassten sie an einem lauschigen Abend auf der Terrasse ihres Hauses am Ammersee den Beschluss, ihr Leben noch einmal vollkommen umzukrempeln.
Dass sie sich für Oslo entschieden, lag nicht nur daran, dass Lillian gebürtige Norwegerin ist. Ihnen ging es vor allem um eines: "Wir wussten, dass wir dort unser Familienleben und die Arbeit in eine bessere Balance bringen können", sagt Lillian Krumbacher. Sie hatten in ihrer Heimat schon einmal zusammen gelebt, aus der Zeit kannten sie die familienfreundlichen Lebensbedingungen in dem Staat, der viel Land hat und wenig Leute.

Kulturschock: Arbeiten in fremden Welten
Fast fünf Jahre sind seit ihrer Entscheidung vergangen, und der Umzug hat sich gelohnt. Ihr Haus am Ammersee haben sie eingetauscht gegen eine gediegene Stadtwohnung in Oslo, ganz in der Nähe der deutschen Schule. Florian Krumbacher, 46, arbeitet seitdem bei einem Solarunternehmen. Lillian ist Managerin bei der größten norwegischen Bank DNB. Dort betreut die studierte Ökonomin, die an der London School of Economics ihren MBA-Abschluss machte, das Auslandsgeschäft.
Über Norwegen gibt es so einige Vorstellungen im Rest der Welt, die meisten davon sind romantische: von der Erhabenheit der Fjorde und dem ehrlichen, unbeschwerten Leben seiner Bewohner; von dem Reichtum an Öl und an Fisch; von Sicherheit, Solidarität und dem Vertrauen der Menschen untereinander.
Schamhafter Umgang mit Luxus
Vieles davon findet sich bestätigt in Statistiken und Rankings. Norwegen als Land der Glückseligen, so lesen sich diese, auch wenn sich vieles wandelt: So wie im Sommer Hunderte Kreuzfahrtschiffe die Fjorde vollqualmen, so nagen die Ölgelder am Gemeinsinn, und die Zuwanderung verändert das Idyll.

Schon Hans Magnus Enzensberger zeigte in seinen "Norwegischen Anachronismen" die Widersprüche eines Landes auf, das quasi über Nacht vom armen Bauernstaat zur superreichen Ölnation aufgestiegen war. "Die Staatsquote, gemessen am Volkseinkommen, die Säuglingssterblichkeit, die mittlere Lebenserwartung, die Zahl der Arbeitslosen, der Kindergärten und der Altersheime - das sind die Größen, an denen man in Norwegen das gute Leben misst", schrieb er 1984, durchaus bewundernd. Und meinte: "Nicht der private, sondern der vergesellschaftete Reichtum ist es, der zählt."
Genüsslich berichtet der politische Dichter vom schamhaften Umgang mit Luxus, den er bei dem protestantischen Volk beobachtet hatte: "Eher wird der wohlhabende Bürger in einer versteckten Bucht eine 200.000-Kronen-Yacht vertäuen, als dass er es riskieren würde, seine Nachbarn mit dem ostentativen Knall eines Champagnerkorkens zu belästigen." Das kann man auch heute noch finden.
Doch wenn es etwas Vorbildliches gibt, das auch wissenschaftlicher Überprüfung bislang standgehalten hat, dann ist es das größere Maß an Gleichberechtigung von Mann und Frau, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf und die relativ hohe Geburtenrate. Das eine bedingt das andere im modernen Wohlfahrtsstaat. Ein Blick in den Alltag norwegischer Familien zeigt auf, was anderswo fehlt, oder besser: verlorengegangen ist im Hochgeschwindigkeitstakt der modernen Arbeitswelt.
Schnell essen, früh nach Hause gehen

Der Arbeitstag beginnt in Norwegen früher als in Deutschland. Wenn Lillian Krumbacher um kurz nach acht ins Büro kommt, dann ist sie nicht die Erste. "Ein Kollege sitzt dann schon seit sieben Uhr am Arbeitstisch", erzählt sie. Ihre Mittagspause fällt denkbar knapp aus. Meist isst die 45-Jährige nur ein Brot am Platz. "Diese langen Mittagessen wie in Deutschland gibt es nicht", sagt die Frau mit den braunen, glatten Haaren. Stattdessen arbeiten Norweger konzentriert, ohne größere Unterhaltung an der Kaffeemaschine - und kurz.
Die Kernarbeitszeit der 40-Stunden-Woche endet um drei. "Konferenzen gibt es danach keine mehr", sagt sie und berichtet von ihren Kollegen in der DNB-Filiale in Hamburg. "Die sind schon daran gewöhnt, bei Anrufen in Norwegen nach drei Uhr im Hintergrund Kindergeschrei zu hören." Dass sie überhaupt jemanden an den Apparat kriegen, hat einen einfachen Grund: Kaum ein norwegischer Arbeitnehmer besitzt noch einen Festnetzanschluss, die meisten haben ein Firmen-Handy.
Die strikte Politik des No-conference-after-Three reduziert den Stress für berufstätige Frauen und Männer: Sie können nach Hause gehen zu den Kindern, ohne wichtige Entscheidungen in der Firma zu verpassen.
Auch Lillian Krumbacher ist spätestens um vier auf dem Weg nach Hause, ihr Mann folgt kurze Zeit später. Um fünf dann sitzt die Familie am Esstisch. Middag heißt die warme Mahlzeit am Spätnachmittag - Rituale, die sich am Straßenbild ihres Viertels sehr gut beobachten lassen. "Zwischen drei und vier herrscht dichter Verkehr, dann ist eine Stunde Ruhe und ab halb sechs bringen die Eltern ihre Kinder dann zum Sport oder Musikunterricht", sagt Vater Florian, seine Kinder gehen unter anderem in den Chor.
Familie, ist er überzeugt, hat hier einen ganz anderen Stellenwert, und er erklärt sich das schon allein durch das Gesetz der kritischen Masse: Es gibt kaum ein Paar ohne Kinder. Die meisten in ihrem Umfeld haben zwei oder drei, auch vier sind keine Seltenheit. Kinder sind keine Ausnahmeerscheinung, sondern eine Selbstverständlichkeit. "Vielleicht ist es eine Zwangsläufigkeit, dass niemand die Augen verdreht, wenn man mit dem kranken Kind zum Arzt geht", sagt Krumbacher.
Die familienfreundlicheren Arbeitszeiten gelten als einer der wichtigsten Gründe für die hohe Erwerbsquote der Frauen in Norwegen - und die im Vergleich zu Deutschland höhere Geburtenrate von 1,88 Kindern pro Frau.
Neun von zehn Männern nehmen Elternzeit
Hinzu kommt, dass die Betreuung der Kinder viel stärker auf den Schultern von Mutter und Vater ruht. Auch das ist eine Selbstverständlichkeit in Norwegen. Väter verbringen sechs Stunden mehr Zeit mit Haushaltsarbeit als noch vor 12 Jahren, so besagt es eine aktuelle Untersuchung. Es mag weiter im Süden verwunderlich klingen: Aber aktuell debattiert das Land über die gestiegene Belastung der Väter, die zwar deutlich für die Erziehung der Kinder und die Ordnung im Haushalt sorgen - aber in der Arbeit die gleiche Leistung bringen. Wenn beide daheim und in der Arbeit sein wollten, dann sei es immer schwieriger, dass alles zusammenpasst und die richtige Balance findet, sagt der Psychologe Frode Thuen: "Es geht darum, zwei Leben simultan zu leben."
Und das sieht so aus: Bringt der Vater die Kinder zur Schule und kommt später zur Arbeit, dann holt die Mutter die Kinder ab und umgekehrt. Das erleichtert Müttern die Entscheidung für eine Vollzeitstelle. Deren Anteil am Erwerbsleben ist nach Vergleichsstudien deutlich höher. Nur vier von zehn jungen Müttern arbeiten Teilzeit in Norwegen. In Deutschland liegt der Anteil bei 70 Prozent.
Außerdem nehmen norwegische Väter deutlich häufiger einen Teil der Elternzeit in Anspruch. Schon seit vielen Jahren dürfen Eltern nur die volle Kinderauszeit nehmen, wenn der Vater mitmacht. Seit vergangenem Jahr liegt der Anteil bei zwölf Wochen; neun von zehn Männern nehmen sie auch wahr. Der Chef der Sozialistischen Linkspartei und frühere Gleichstellungsminister, Audun Lysbakken, nahm sich vergangenes Jahr sogar auf dem Höhepunkt einer innerparteilichen Krise neun Wochen Elternzeit.
Wettrennen mit Schweden
Es ist eine Art Wettrennen, das sich Norwegen mit seinem großen Nachbarn Schweden in familien- und frauenpolitischer Disziplin liefert. Gerade wird in Schweden diskutiert, für Paare mit Kindern unter drei eine 35-Stunden-Woche einzuführen - den Arbeitsausfall beziehungsweise die zusätzlichen Lohnkosten würde den Arbeitgebern der Staat bezahlen.
Für Jakob Berg, 36, sind das Entwicklungen in genau die richtige Richtung. Bei beiden Kindern nahm sich der Sprecher des Norwegischen Filminstituts mehrere Monate Auszeit, seine Frau Helene Samuelsen arbeitete da bereits wieder in ihrem Beruf als Gymnasiallehrerin. "Ich habe die Zeit mit den Kindern genossen", sagt der Mann mit den wilden rotbraunen Locken, "noch heute profitiere ich von der viel engeren Bindung zu ihnen."
Das Paar aus Kampen, einem dorfähnlichen Stadtteil am Hang über dem Hauptbahnhof von Oslo, weiß um die Vorteile, die eine solche Gleichverteilung der Elternzeit für ein gleichberechtigtes Zusammenleben von Mann und Frau bringt. "Es verschwindet ein wichtiges Argument, mit dem junge Frauen stets bei der Einstellung gegenüber Männern benachteiligt werden", erklärt Helene, "dass sie Kinder bekommen und für den Betrieb einige Zeit ausfallen." In Norwegen müssten Arbeitgeber auch bei männlichen Bewerbern damit rechnen, sie für eine Zeitlang zu ersetzen.
Der Produktivität der norwegischen Arbeitnehmer tut das keinen Abbruch. Das lässt sich bei den Bergs jeden Abend ab halb neun auch ohne wissenschaftliche Studien feststellen: Dann sitzen sie an dem alten Holztisch, auf dem schon der Urgroßvater Möbelstücke hergestellt hat. Beide haben die Laptops aufgeklappt. "Dann arbeiten wir E-Mails ab und bereiten den nächsten Arbeitstag vor", sagt Jakob Berg. Zwei Stunden sitzen sie gut und gern stumm beisammen. "Aus den Mails, die wir zurückbekommen, können wir schließen, dass die anderen das Gleiche tun", berichtet seine Frau.
Jeden Freitag raus aus der Stadt
Am Freitagnachmittag hingegen erlaubt sich Berg ab und zu das Vergnügen, auf Facebook die Frage zu posten, wer denn noch am Schreibtisch sitzt. "Die meisten Antworten erhalte ich von unterwegs", erzählt er. Ein ganzes Land ist um diese Zeit dann nämlich auf den Weg ins Grüne. Auch bei den Bergs ist das nicht anders.
Ihr Ziel: Die Hütte draußen in den Schären im Oslofjord - oder, im Winter, die Hütte in den Bergen. Ihr Jüngster ist gerade mal vier, und steht schon auf Langlaufskiern. Als er noch zu klein war, zogen die Eltern ihn auf einem Pulk hinter sich her durch die tiefverschneite Landschaft. "Wenn wir am Wochenende eine Wohnungsdecke über dem Kopf haben, dann werden wir ganz nervös", sagt Helene.
Mehr als die Hälfte aller Norweger nutzt eine Hütte. Die Bergs haben eine, und auch die Krumbachers reihen sich jeden möglichen Freitag um spätestens drei Uhr in die riesige Autoschlange raus aus der Stadt ein. "Das hat nichts mit Luxus zu tun", sagen sie. Die meisten Hütten sind eher schlicht eingerichtet. Fließend Wasser und eine Toilette im Haus zählen nicht zum Standard. Doch darauf kommt es nicht an. Entscheidend sei die Ruhe, die Erholung. Lillian Krumbacher sieht zwischen dem guten Leben und der Karriere keinen Widerspruch. Im Gegenteil. Sie sagt: "Man kann doch in der Arbeit nur gut funktionieren, wenn es privat gut läuft."
Der hohe Stellenwert des Familienlebens ist in Norwegens Volksseele verankert, so wie der Sinn für die Natur. So glaubt der Sozialanthropologe Thomas Hylland Eriksen von der Universität in Oslo: "Das gute Leben wird in Norwegen weniger über die Karriere definiert." Dies mag Ausdruck einer noch immer sehr auf Gleichheit bedachten Gesellschaft sein.
Eriksen sieht die Wurzeln aber auch im norwegischen Nationalgefühl, das sich seit dem 19. Jahrhundert sehr stark in einer Verehrung für die Natur ausprägt. "Man zeigt seine moralische Integrität, wenn man sich damit entspannt, zum Skifahren in die Berge zu fahren, zu wandern, zu angeln", erklärt der Anthropologe. Aus dieser Nähe zur Natur speist sich ein großer Teil der Lebensqualität. "Norwegen ist keine Kulturnation, sondern eine Naturnation", formulierte es der wohl bekannteste Gegenwartsmaler des Landes, Odd Nerdrum. Ein Politiker jedenfalls, der sein öffentliches Image nicht an der kollektiv zelebrierten Naturliebe ausrichtet, wird es nicht weit bringen. Jens Stoltenberg etwa, der Premier, demonstriert seine Bürgernähe vor allem damit, dass er sich am Wochenende auf Langlaufbrettern unters Volk mischt.