Seele und Herz Die Tintenfischfalle

Broken-Heart-Syndrom: Das EKG zeigt Rhythmusstörungen wie bei einem Herzinfarkt
Foto: CorbisDer tägliche Strandspaziergang an der Ostsee nahe Rostock ist Christina Delling, 78, und ihrem Mann heilig. Nur ein paar hundert Meter hinter den Dünen liegt ihr Haus mitten im Wald. Wann immer es geht, genießen die beiden Rentner den Blick aufs Meer und die frische Seeluft.
Doch an einem Tag Ende Februar ist plötzlich alles anders. Schon als Christina Delling die Dünen hochläuft, ringt sie nach Luft. Ihr Brustkorb scheint plötzlich enger zu sein, ihre Kräfte schwinden. Am Abend bringt ihr Mann sie in die Rostocker Uni-Klinik. Nach einigen Untersuchungen lautet die Diagnose: gebrochenes Herz.
Die Krankheit mit dem kitschigen Namen kann tödlich sein. Beim Broken-Heart-Syndrom schüttet der Körper eine Überdosis Adrenalin und andere Stresshormone aus, die Herzkranzgefäße verengen sich und das Blut zirkuliert nicht mehr richtig. Die Patienten bekommen kaum noch Luft, fühlen sich schwach und haben Schmerzen im Brustkorb. Symptome, wie sie für einen Herzinfarkt typisch sind.
Bei Delling tippen die Ärzte wegen ihrer starken Luftnot zunächst auf eine Lungenembolie. Doch das EKG zeigt Rhythmusstörungen wie bei einem Herzinfarkt. Ihr Herz pumpt das Blut nur noch mit 28 Prozent seiner üblichen Kraft durch den Körper. Normal sind in ihrem Alter rund 60 Prozent. Bei der Blutuntersuchung finden die Ärzte erhöhte Enzym- und Eiweißwerte, ebenfalls klassische Symptome für einen Herzinfarkt. Erst bei einer Katheter-Untersuchung am folgenden Tag stellt sich heraus, dass Christina Dellings Herzkranzgefäße nicht wie bei einem Infarkt verschlossen sind.
Erkrankt am Broken-Heart-Syndrom
Stattdessen haben sich die Gefäße durch die hohe Adrenalinausschüttung verengt. Für Christoph Nienaber, Direktor der Kardiologie an der Uni-Klinik Rostock, ist nun klar, dass die alte Dame am Broken-Heart-Syndrom erkrankt ist.
"Diese Patienten leiden unter einer schweren emotionalen Belastung", erklärt Nienaber. "Das kann etwas Positives sein, beispielsweise ein Lottogewinn. In der Regel ist es aber ein negatives Erlebnis: Ein Angehöriger ist plötzlich gestorben, sie haben miterlebt, wie jemand fast ertrunken ist, oder sie wurden überfallen."
Bei Christina Delling dauerte es eine Weile, bis sie den Ärzten erzählte, was sie bedrückt: Bis zu ihrer Pensionierung lebte die ehemalige Krankenschwester mit ihrem Mann in Bayern. Dann zogen sie an die Ostsee, in ihr Haus, das sie bislang in den Ferien genutzt hatten. Freunde und Familie beneiden sie: Dellings wohnen nun dort, wo andere Urlaub machen. Doch im Sommer ist das nicht nur erholsam: "Es sind wahnsinnig viele Menschen hier, es ist immer voll und laut", erzählt Delling.

Gebrochenes Herz: Bei Menschen mit Broken-Heart-Syndrom verformt sich die linke Herzkammer
Foto: Illustration: Birgit Lang / SPIEGEL WISSENDazu kommt ihr Nachbar, der viel Zeit an der Ostsee verbringt. Delling findet ihn rücksichtslos. "Er hat ein ganz kleines Grundstück, auf dem er einen riesigen Dalmatiner hält. Der arme Hund kommt nie raus und bellt von morgens bis abends", erzählt sie, noch heute sichtlich aufgebracht. Sobald sie das Haus verlässt, springt der Hund am Zaun hoch, sie fühlt sich bedrängt. "Früher war ich die Ruhe selbst. Mittlerweile bin ich immer angespannt und gehe am liebsten gar nicht mehr raus", sagt Delling und knetet nervös ihre Finger. "Ich fühle mich richtig eingeschränkt." Mehrfach haben sie und ihr Mann versucht, mit dem Nachbarn über den Hund zu sprechen, bislang vergebens.
"Man glaubt gar nicht, dass es solche Auswirkungen haben kann"
Als sie den Ärzten im Krankenhaus von ihrem Nachbarn erzählte, blieb ihr regelrecht die Stimme weg, so sehr regte sie sich auf. Vor ihrem Schwächeanfall war es zum Eklat mit dem Nachbarn gekommen. "Man glaubt zuerst gar nicht, dass so ein banaler Nachbarschaftsstreit solche Auswirkungen haben kann", erklärt Chefkardiologe Nienaber. "Doch gerade wenn ältere Menschen über Monate unter einer Stresssituation leiden, schwächt das ihre Widerstandsfähigkeit und kann verheerende Folgen haben."
In der Regal sind es Frauen, die unter dem Broken-Heart-Syndrom leiden. Nur in seltenen Fällen wird die Krankheit auch bei Männern diagnostiziert. "Die Frauen haben die Wechseljahre hinter sich und sind zwischen 50 und Ende 70, wenn sie erkranken", erklärt Nienaber. Warum es fast ausschließlich diese Gruppe trifft, ist noch unklar. "Eine Theorie lautet, dass der weibliche Körper nach den Wechseljahren besonders stark auf Stresshormone reagiert", sagt Nienaber. "Bewiesen ist das bislang nicht."
Mediziner nennen das Broken-Heart-Syndrom auch Stress-Kardiomyopathie oder Tako-Tsubo - Tintenfischfalle. Dieser Begriff stammt von japanischen Ärzten. Sie diagnostizierten die Krankheit erstmals Anfang der neunziger Jahre und fanden, dass die linke Herzkammer ihrer Patientinnen einer Tintenfischfalle ähnlich sieht: einem runden Krug mit einem kurzen Hals.
Die Sterblichkeitsrate beim gebrochenen Herzen ist gering
Wie viele Menschen jährlich erkranken, ist nicht genau bekannt. Schätzungen gehen davon aus, dass in Deutschland etwa 2,6 Prozent aller Patienten, die mit herzinfarktähnlichen Beschwerden ins Krankenhaus kommen, unter einem Broken-Heart-Syndrom leiden. "Wir haben an unserer Klinik jedes Jahr etwa sechs bis sieben solche Patienten", sagt Nienaber. Herzinfarktfälle gibt es an der Uni-Klinik Rostock etwa 800 jährlich. Im Unterschied zum Infarkt, an dem etwa die Hälfte aller Patienten stirbt, ist die Sterblichkeitsrate beim gebrochenen Herzen allerdings gering und liegt nur bei etwa 3,2 Prozent. "Diese Patienten sterben eigentlich nur dann, wenn sie unter besonders heftigen Rhythmusstörungen leiden, die in sehr seltenen Fällen zum Herzstillstand führen können", erklärt Nienaber.
Sechs Tage blieb Delling in der Klinik. Ihr Organismus erholte sich, die emotionale Belastung durch den Nachbarn war nicht mehr so nah. Die Ärzte gaben ihr Betablocker, die dafür sorgen sollen, dass sie sich nicht mehr so aufregt. Zur Blutverdünnung bekam sie vorbeugend Aspirin. Als Delling die Klinik verließ, hatte sich die Pumpfunktion ihres Herzens fast normalisiert.
Körperlich fühlt sie sich heute wieder fit. Die Medikamente nimmt sie zur Vorbeugung weiter. Doch den Nachbarn mit dem großen Hund gibt es weiterhin. "In Einzelfällen kommt es vor, dass Patienten wiederholt an einem Broken Heart erkranken", sagt Nienaber. "Wir hoffen aber, dass wir das bei Frau Delling durch die Medikamente verhindern können."
Christina Delling versucht nun, gelassener zu bleiben. Doch richtig wohl fühlt sie sich zu Hause nicht mehr, manchmal würde sie am liebsten woanders hinziehen. "Wenn ich rausgehe, spreche ich nur noch ganz leise, damit der Hund mich möglichst nicht bemerkt", erzählt sie. Delling ist froh, wenn Nachbar und Hund hin und wieder für ein paar Tage verreisen. "Dann blühe ich richtig auf und fühle mich, als würde mir ein Stein vom Herzen fallen."