Heimat als Kampfbegriff Die Natur der Nazis

Für die Nationalsozialisten war sie ein Bollwerk gegen alles Fremde, Städtische, Andersartige. Wer heute über Heimat reden will, muss daher diese unselige Verklärung von Natur und Gemeinschaft kennen.

Seltsam, wie uns die Schule an Wandertagen das Wandern, im Deutschunterricht die Lektüre von Fontane und in Heimatkunde die Heimat verleiden konnte. Jahrzehnte dauert es, sich diese Themen neu anzueignen. Heute ist Heimat wieder ein aktueller, ein kommunikativ produktiver und ein hochpolitischer Begriff. Aber er kommt von weit her.

Wenn früher von Heimat die Rede war, kam mir das als Schüler vor wie der Bericht aus einem fast schon versunkenen Land. Heimat war die Kulisse der gleichnamigen Filme, die manchmal im Fernsehen kamen. Sie war mir dort nicht unsympathisch, ich mochte Jägerzäune, Wiesen und Kastanienbäume, den seltsamen Akzent mit dem rollenden R und diese radikale Biederkeit. Aber ich hatte keine Ahnung, wovon die Geschichten handelten oder wo sie spielten.

Aus SPIEGEL Wissen 6/2016

Heimat
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Mit dem Deutschland der Siebziger- und Achtzigerjahre hatte das nichts zu tun. Diese Kultur einer angeblich gemeinsamen Heimat war eine Überlieferung, die Erfindung aus einer anderen Zeit.

Die aber war gar nicht so lange vorbei. Einmal konnte ich diese alte Version des deutschen Heimatkults leibhaftig besichtigen: Als Redakteur unserer Schülerzeitung begleitete ich den damaligen Bundespräsidenten Karl Carstens bei einem Wandertag durch das Saarland. Dort lebte ich mit meinen Eltern, aber die stammten nicht von dort: War es also meine Heimat? Eine komplizierte Frage.

Am Tag des Besuchs unseres Staatsoberhaupts präsentierte sich das Land nicht nur als Heimat von uns Schülern, sondern auch des Bundespräsidenten und aller Deutschen. Es war, als hätte man ein Zimmer aufgeschlossen, das nur bei hohem Besuch bewohnt wird, eine Heimat, in der über Riten und Gesten kommuniziert, aber wenig gesprochen wurde.

Wanderer im Schwarzwald

Wanderer im Schwarzwald

Foto: Rolf Haid/ dpa

Dieser Bundespräsident wollte in jedem Bundesland einmal wandern gehen, das Saarland war 1982 an der Reihe. Das Saarland war damals eine verschlafene Provinz mit einer wenig bekannten, sehr komplexen regionalen Identität. Präsident Carstens wanderte durch das nördliche Saarland, dort, wo es vor allem Wälder und Täler gibt. Damals stand das Amt des Bundespräsidenten in vollem Ansehen. An jeder Ecke des Weges, jeder Gabelung und jeder Kurve wartete schon ein Verein. Alle trugen Trachten oder spielten Blasmusik. Sie repräsentierten ein Saarland, das ich nicht kannte, eine stilisierte und erfundene Version der alten Zeit: grüne Janker, Schnürhosen, derbe Schuhe. Sie strahlten den Bundespräsidenten an.

Der war ein milder älterer Herr, der wenig anzubieten hatte, außer eben seine Freude zu teilen über diesen etwas trüben Tag im Nordsaarland. In der Mittagspause gab es Eintopf. Heute würde man unweigerlich die sogenannten Spezialitäten aus der Region auftischen, in kleinen Häppchen und Portionen. Der Eintopf aber war ein Symbol aus dem vorigen Konzept von Heimat. Ich weiß nicht, ob Carstens wirklich den Satz sagte, so ein Eintopf sei ihm "lieber als ein Fünf-Gänge-Menü" - oder ob ich den Satz später gelesen und gewissermaßen in meine Erinnerung eingemeindet habe. Aber das Eintopfessen war das Symbol einer gemeinschaftlichen, sich schlicht gebenden und naturnahen Tradition, wie sie die Nationalsozialisten über so viele Jahre propagiert hatten. Es stand für soldatische Einfachheit und nationalen Opfermut. Was nicht ausschließt, dass ihm und der altersgleichen Wandergesellschaft das wirklich geschmeckt hat.

Die Freude an der naturnahen und traditionsverhafteten Heimat stammte aus der Jugend dieser Männer und Frauen, war gewissermaßen der zivile Arm der nationalsozialistischen Volkstumsideologie. Als ich hinzukam, waren aus allen längst milde Demokraten geworden, und womöglich waren sie individuell auch keine überzeugten Nazis gewesen - aber die ursprüngliche Kultur, also das, was die Zeitgenossen daran begeistert hatte, das war noch lebendig. Eine Kultur, in der die Heimat gerade nicht in ihrer Spezifizität, also einem Stadtbild oder einem Wahrzeichen, gefeiert wurde, sondern als eine ewig gültige Dimension des ursprünglichen, naturnahen und gemeinschaftlich genossenen Lebens.

Der Blick musste über Bäume gehen oder eine Wiese, dann folgte eine Handbewegung: herrlich hier! Schönheit war begründet in der Unberührtheit der Natur - auch wenn es sich um Buchenbestände handelte, die noch nicht sehr lange hier standen. Heimat, das war Natur, nie die Stadt oder gar die Vorstadt. Heimat war auch nicht Arbeit, sondern Freizeit, und natürlich nicht Motorisierung und Industrialisierung, sondern die Wanderung.

Der Bundespräsident trug keinen Anzug, sondern eine Tracht, ebenso die Männer, die ihn im Wald empfingen: die Bergleute, die Chöre, jedes Element der Gesellschaft kam in einem Kostüm, das im Alltag nie angelegt wird, aber dennoch auszudrücken vermag, dass man endlich ganz unter sich und ungezwungen ist. Ursprünglich, zünftig und urig. Die Schuhe grob, die Manieren auch: keine Höflichkeitsfloskeln, keine Vorstellungsrunden, kein Handshake, der Mann im Wald grüßt winkend. Im Wald gibt es keine Hierarchien mehr, selbst der erste Mann im Staate ist hier einer von uns.

Heimat war ein Eintopf aus Natur, einer idealisierten Gemeinschaft und einem Försterhabitus, in den die moderne Gesellschaft nicht vorgedrungen war. Und es war eine Gesellschaft weißer Männer und Frauen; Türken, Iraner oder die afrikanischen Studenten, die damals eine gewisse Besonderheit in den internationalen Beziehungen der saarländischen Universität darstellten, waren im Wald nicht vorgesehen und wurden auch nicht vermisst.

Das durchwanderte Saarland hatte nichts zu tun mit der Universitätsstadt Saarbrücken, die ich heute als meine Heimat bezeichnen würde. Denn im Kult um die Heimat musste sie zunächst eines sein: schön. Und das war das Saarland nur selten. Es ist schon ironisch: Das Saarland gehört zu jenen Gebieten, die im Zweiten Weltkrieg sehr früh evakuiert wurden, Menschen wurden hin und her verschoben, die Städte wurden im Bombenkrieg stark zerstört. Das Land war in der Abstimmung von 1935 in die Heimat zurückgekehrt - "Heim ins Reich", hieß die Parole -, und das war zugleich der ideologische Motor, die Leute dazu zu bringen, Millionen Menschen in ganz Europa zu verjagen, ein Höllenfeuer auf Erden zu entfachen, dem alles zum Opfer fiel, was irgendwie als Heimat gelten konnte.

Gerade jene politische Kraft, die wie kaum eine andere im 20. Jahrhundert dafür gesorgt hat, dass Menschen ihre Heimat verlassen mussten, dass Heimatstädte zerstört wurden, hat in wesentlichen Teilen davon gelebt, Heimat zu versprechen und restaurieren zu wollen. Die Nazis betrieben einen regelrechten Heimatkult, aber er galt keineswegs nur bei den einfachen Leuten oder den Bewohnern der ländlichen Gebiete. Zur ideologischen Vorbereitung dieses Heimatbegriffs gehört die Rede des Freiburger Philosophen Martin Heidegger, in der er begründet, warum er einen Ruf nach Berlin ablehnt. Sie trägt den Titel: "Warum bleiben wir in der Provinz?"

Die Rede von 1933 ist ein ideales Muster für den Heimatbegriff der Dreißigerjahre, der ein wichtiges Element der nationalsozialistischen Ideologie war, dort, wo sie nicht militant zu Rassenhass, Krieg und Gewalt aufrief, sondern ihrer Barbarei ein menschliches Antlitz verleihen wollte: zu Hause eben. Heidegger schreibt zu Beginn von seiner Hütte im Schwarzwald, die er nicht wie ein Feriengast nutzt, sondern deren Essenz sein Werk, sein Schreiben durchdringt. Er formuliert hier seinen später so berühmten Satz: "Wenn in tiefer Winternacht ein wilder Schneesturm mit seinen Stößen um die Hütte rast und alles verhängt und verhüllt, dann ist die hohe Zeit der Philosophie." Erst in der heimatlichen Hütte kommt der Denker zu seinem eigentlichen Thema, der Kritik an der modernen Gesellschaft, ihrer Urbanität, den sozialen Gepflogenheiten, wie sie aus der Heimatperspektive scheinen:

"Man kann draußen im Handumdrehen durch Zeitungen und Zeitschriften eine ,Berühmtheit' werden. Das ist immer noch der sicherste Weg, auf dem das eigenste Wollen der Missdeutung verfällt und rasch in Vergessenheit gerät. Dagegen hat das bäuerliche Gedenken seine einfache, sichere und unnachlässliche Treue."

Heidegger legt Wert auf die Ablehnung einer Nostalgie, wie sie etwa Feriengäste oder Skifahrer pflegen. Um die wahre Heimat zu erfahren, muss man dort bleiben. Der ganze Text ist eine Absage an seinen Umzug in die Hauptstadt Berlin. Er geht über die üblichen Vorstellungen einer ästhetischen oder touristischen Heimatverklärung hinaus, beschwört stattdessen die soziale Struktur des vertrauten, ländlichen Lebens. Er schließt mit einer Szene:

"Neulich bekam ich den zweiten Ruf an die Universität Berlin. Bei einer solchen Gelegenheit ziehe ich mich aus der Stadt auf die Hütte zurück. Ich höre, was die Berge und die Wälder und die Bauernhöfe sagen. Ich komme dabei zu meinem alten Freund, einem 75-jährigen Bauern. Er hat von dem Berliner Ruf in der Zeitung gelesen. Was wird er sagen? Er schiebt langsam den sicheren Blick seiner klaren Augen in den meinen, hält den Mund straff geschlossen, legt mir seine treu-bedächtige Hand auf die Schultern und - schüttelt kaum merklich den Kopf. Das will sagen: unerbittlich Nein!"

In der Heimat wohnen nicht nur die Tannen, auch die Leute scheinen aus dem Boden zu wachsen. Ihre Kauzigkeit ist dem raffinierten Leben in der Stadt philosophisch überlegen. Die Zeitgenossen wussten das zu lesen: In Berlin, Hauptstadt der Zwanzigerjahre, stand die "Schwatzbude" des Parlaments, mischten sich die Menschen in Cafés und Kinos, war dem Internationalismus und dem Kommunismus eine Bühne bereitet. Nicht umsonst wurden die Sozialdemokraten seit dem Kaiserreich als heimatlose Gesellen diskreditiert: Sie gehörten in Großstädte und Industriereviere, die auf Warenaustausch und Personenverkehr ausgerichtet waren.

Die Heimat aber im heideggerschen Sinn wird charakterisiert durch die Kargheit der Kommunikation und die Homogenität ihrer Bewohner, die mit der Landschaft verwachsen sind. Ein Umzug wird abgelehnt und unausgesprochen auch der Zuzug: Städter, Besucher haben in der Heimat eigentlich nichts verloren.

So ist die philosophische Aufladung des Heimatbegriffs jener Zeit auch eine Kampfansage an die Moderne, an Großstadt und soziale Mobilität. Sie verband eine implizite Ablehnung rassischer Durchmischung mit einer expliziten Naturbeschwörung. Die Stille, das gemeinsame Schweigenkönnen, wurde zu einem wichtigen Bestandteil einer Zeit, in der gemeinschaftlich Verbrechen begangen und später vertuscht werden mussten.

Heimat wurde zur Chiffre für einen Bereich, der sich vermeintlich der Geschichte entzog, in dem Unschuld und Reinheit dominierten - auch dies Begriffe, die den Zeitgenossen in einem politischen Kontext geläufig waren. Heimat war nicht die Heimat der Andersdenkenden, sondern eine vormoderne, organische und ursprüngliche Gemeinschaft - eine historische Fiktion. Es gibt keine Menschengruppe, die von Anbeginn der Zeit oder per Naturwuchs eines der Mittelgebirge oder Täler bevölkert hätte. Eine so zur Natur gedeutete Heimat ist ein Kampfbegriff.

Der Ausweg aus dieser unseligen Tradition und den aktuellen Versuchen, Heimat identitär aufzuladen, ist die Dekonstruktion des Heimatbegriffs auf seinen kommunikativen Kern: Wir lernen die Heimat als Kind kennen, ungefähr in jenen Jahren, in denen wir auch zu sprechen lernen. Die Bestandteile der engeren Heimat gehören zu den ersten Dingen, die wir erkennen und benennen können. Darum sind sie so fest in unserem Bewusstsein verankert, darum weiß nahezu jeder sozialisierte Mensch, wovon die Rede ist, wenn wir von Heimat reden.

Darum ist die Rede von der Heimat auch die Heimat der Rede: der ideale Ausgangspunkt, um zu erzählen, sich zu erinnern, zu vergleichen, zu appellieren und zu verhandeln. Die Erfahrung, dass sich die Heimat wandelt, selbst wenn wir sie nicht verlassen, dass man die Heimat verlieren und eine andere erkennen kann, dass der Blick auf unsere Heimat sich mit den Jahren verändert, diese Erkenntnisse sind allen gemeinsam, auch wenn jeder eine andere Heimat hat oder immer wieder anders darüber denkt - und redet.

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