Auf der intellektuellen Überholspur Wenn Kinder hochbegabt sind

Schüler am Landesgymnasium für Hochbegabte (in Schwäbisch Gmünd)
Foto: Franziska Kraufmann/ picture alliance / dpaAls ihr Sohn ein Jahr alt war, sagte der Kinderarzt zu Melanie Fischer: Ich glaube, wir haben da ein Thema. Der Junge schlief kaum, deshalb saß sie in der Sprechstunde. Die Antwort des Arztes: Er nutzt seine Wachphasen optimal für seine Entwicklung. Leo hatte mit zehn Monaten zu laufen begonnen, zwei Monate später bot ihm jemand Wasser und Apfelsaft an, und er formulierte klar: "Bitte eine Apfelsaftschorle." Als er mit zwei Jahren in einem Spielwarengeschäft stand, sagte er zu der Verkäuferin: "Ich brauche ein Buch über Zahlen und Buchstaben."
"Leo besaß sehr früh eine große Sprachfertigkeit, benutzte Begriffe, die erwachsen klangen", sagt Melanie Fischer. "Aber wenn so ein Kind das erste ist, wie soll man da wissen, ob das normal ist oder nicht?"
Im Kindergarten ging es weiter. Leo drehte auf, weil ihm langweilig war, er bekam spezielle Aufgaben, eine Zeit lang ging es gut. Dann bekam Melanie Fischer einen Anruf aus der Kita, eine Psychologin habe sich ihren Sohn angeschaut. "Ich saß dann vor der Psychologin und den Erziehern, und mir wurde mitgeteilt, was man alles beobachtet habe. Dass es mit einer normalen Schule wohl nicht klappen würde. Dass Leo einen Intelligenztest machen solle. Es war furchtbar."

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Der Test ergab, dass Leo hochbegabt ist, also in Intelligenztests deutlich besser abschneidet als die meisten Gleichaltrigen. Trotzdem wurde der Junge zum Problemfall. Immer wieder musterten ihn Lehrer, Ärzte, Psychologen. In der Schule gehörte Leo zu den sogenannten Underachievern, den Kindern, die schulisch nicht so viel leisten, wie man aufgrund ihres hohen IQ-Werts eigentlich erwarten könnte.
Dazu kamen die Sprüche anderer Eltern. "Wenn jemand zufällig erfuhr, dass unser Sohn hochbegabt ist, hieß es: Wenn so ein Verhalten hochbegabt sein soll, dann lasse ich meine Tochter auch testen." Melanie Fischer, die wegen solcher Reaktionen auch nicht mit ihrem richtigen Namen genannt werden will, verzweifelte. "Wir hatten uns das alles doch gar nicht ausgesucht!"
Hochbegabung ist ein Reizwort, dem kaum jemand neutral gegenübersteht. Viele Eltern hochbegabter Kinder erleben, dass ihnen elitäres Verhalten unterstellt wird. Angeblich halten sie sich und ihre Kinder für etwas Besseres - und wollen das mit Tests und jeder Menge Aufwand beweisen. Es ist deshalb kaum möglich, eine Familie zu finden, die offen über das Leben auf der intellektuellen Überholspur spricht. Betroffene beklagen wiederum, es gebe zu wenig Förderung für die Ausnahmeschlauen, und häufig würden sie gar nicht erst erkannt.
Viele Begabungsforscher meiden den Begriff "hochbegabt" und sprechen stattdessen lieber von Motivation oder Talenten. Der Hirnforscher Gerald Hüther behauptete 2012 sogar, jedes Kind sei hochbegabt, man müsse es nur entsprechend fördern.
Aus Sicht der Intelligenzforschung ist das Nonsens. Maximal zwei bis drei Prozent der Bevölkerung gehören Studien zufolge zu den Hochintelligenten; jenen Menschen also, die besondere kognitive Begabungen haben und in Intelligenztests auf IQ-Werte jenseits der 130 kommen, so die geläufige Definition. Die Superschlauen wurden nicht gedrillt, mussten weder schon beim Frühstück Physikformeln aufsagen noch vor dem Abendessen Kurzreferate über Surrealismus halten - sie haben einfach Glück: Bei ihnen treffen besondere Anlagen auf ein förderliches Umfeld, sodass sich ihre kognitiven Fähigkeiten bis hin zur Brillanz entfalten können.
Und noch ein Vorurteil ist fast immer falsch: Nur eine Minderheit der Hochbegabten fällt durch Probleme in der Schule oder anstrengendes Verhalten auf. Die meisten hochbegabten Kinder kommen fröhlich und ausgeglichen durch Kindheit, Schulzeit und überhaupt durchs Leben. Sie unterscheiden sich in ihrem Sozialverhalten im Schnitt nicht von normal begabten Kindern. Darüber ist sich die Forschung weitgehend einig.
Über ein Vierteljahrhundert lang beobachtete beispielsweise der Marburger Intelligenzforscher Detlef Rost 151 hochbegabte Kinder vom dritten Schuljahr an. Ergebnis: Das hochintelligente Kind ist in der Regel nicht der Außenseiter, der immer Schwierigkeiten macht. Es hat nicht häufiger Allergien und braucht auch nicht weniger Schlaf. Es ist nicht ängstlicher oder hochsensibel, will nicht über andere bestimmen, sucht sich nicht nur ältere Spielkameraden und will auch nicht unentwegt über Erwachsenenthemen sprechen. Und es wird auch in einer Regelschule nicht zwingend depressiv. Neun von zehn seiner Probanden, erzählt Rost, schrieben gute Noten und seien sozial gut integriert und angepasst.
Dennoch sind selbst Lehrer oft unsicher und ambivalent in ihrer Beurteilung der Hochbegabten. Sie halten solche blitzgescheiten Schüler zwar für leistungsstark - gleichzeitig aber auch für sozial isoliert, schwierig und verhaltensauffällig, fand die Psychologin Franzis Preckel, Leiterin des Lehrstuhls für Hochbegabtenforschung und -förderung an der Universität Trier, in Untersuchungen heraus. "Dies entspricht nicht den Tatsachen", sagt Preckel.

Eine Erklärung für die Vorurteile und das Unbehagen vieler Menschen gegenüber dem Thema Hochbegabung könnte in der Vergangenheit zu finden sein. Durch das Elitedenken der Nationalsozialisten, das bis zur Euthanasie Behinderter geführt hatte, war jede Frage nach geistiger Überlegenheit in den Nachkriegsjahren heikel. Das änderte sich erst in den Siebzigerjahren. Medien berichteten nun häufiger über hochbegabte Kinder, die Zahl der Bücher über das Phänomen stieg sprunghaft an; 1978 wurde die Deutsche Gesellschaft für das hochbegabte Kind (DGhK) gegründet. Gleichzeitig las man häufig Fallgeschichten über die Underachiever, zu denen etwa zwölf Prozent der Hochbegabten gehören: chronisch unterforderte Kinder, die innerlich kündigen, schlechte Noten bekommen und oft verhaltensauffällig sind.
Diese Geschichten sorgten dafür, dass Eltern zunehmend häufig in den Hochbegabtensprechstunden auftauchten, die Faulheit und Flapsigkeit ihres Kindes als Anzeichen von Hochbegabung deuteten. Detlef Rost traf in seiner begabungsdiagnostischen Beratungsstelle auf Kinder im zweiten Schuljahr, die sagten, dass es ihnen in der Schule nicht gefalle. Als Grund kamen Antworten wie: "Die anderen Kinder behindern mich in meiner kognitiven Entwicklung."
Rost hört aus solchen Kindern eher die Eltern sprechen. Er traf auf Väter, die weinten, weil sich durch den Test herausgestellt hatte, dass ihr Kind normal begabt war, Mütter, die ihren Nachwuchs schon zuvor beim Kinderarzt hatten testen lassen und das Ergebnis zu schlecht fanden. 60 Prozent der Kinder, die ihm vorgestellt würden, seien nicht hochbegabt, sagt der Experte.
Einer, bei dem die Tests eindeutig ausfielen, ist der heute 15-jährige Jakob aus Hamburg. Schon immer war er Gleichaltrigen um Jahre voraus. Als Zweijähriger glänzte er bereits mit einem außergewöhnlichen Sprachvermögen, als Kindergartenkind wollte er alle "Star Wars"-Filme im Original sehen und konnte anschließend das gesamte Skript auswendig. Er brachte sich Englisch selbst bei, später auch Französisch.
Allerdings brauchte er immer mehr Zeit als andere, um Informationen zu verarbeiten und für sich einzuordnen. Jakob entwickelte Ängste vor allem, was flog oder summte, wollte nie allein irgendwohin. "Da war dieses Wahnsinnswissen, gepaart mit dieser Wahnsinnsangst", sagt seine Mutter Lena Olfen (Name geändert), eine Sonderpädagogin. Das Höchstleisterhirn bremste sich selbst immer wieder aus. "Die Grundschulzeit war für uns die Hölle", sagt Olfen. "Warum muss ich Hausaufgaben machen, hieß es, ich kann das doch - und dann dauerte alles ermüdend lange."
Von außen ist die Hochbegabung für Ungeübte nicht immer sofort zu erkennen. Die Psychologin Preckel nennt als Verdachtsmomente "eine schnelle Auffassungsgabe, Neugierde, Wissensdurst, ein sehr gutes Sprachverständnis und einen altersunüblichen Wortschatz". Anders als häufig angenommen sei frühes Lesen oder Rechnen dagegen kein sicheres Indiz für eine hohe intellektuelle Begabung.
Im Internet finden Eltern zahlreiche Checklisten, von anderen Eltern hochbegabter Kinder, Herstellern von Babyausstattung oder vom Bundesministerium für Bildung und Forschung. Meist seien diese Listen allerdings irreführend und zu vage formuliert, um herauszufinden, ob das eigene Kind wirklich hochbegabt ist, warnt Preckel.
Gewissheit darüber, ob tatsächlich eine kognitive Hochbegabung vorliegt, können nur IQ-Tests liefern. Doch in jungen Jahren sind die nur bedingt zuverlässig: "Je jünger ein Kind ist, desto weniger stabil ist die Diagnose." In der Grundschule gebe es im Einzelfall noch Schwankungen von bis zu 20 IQ-Punkten - der IQ-Wert wird immer im Vergleich zu Gleichaltrigen gemessen, das Entwicklungstempo der Kinder kann aber sehr unterschiedlich sein. Erst vom frühen Jugendalter an gilt die Intelligenz als relativ stabil.
Auch deshalb ist ein IQ-Test nur dann angeraten, wenn Eltern das Gefühl haben, dass ihr Kind leidet, sich unterfordert fühlt. Oder wenn der Familienalltag zum Kampf um Regeln und Deutungshoheit ausartet.
"Die Mütter und Väter kommen mit hohem Leidensdruck zu uns", sagt Jaana Rasmussen von der Begabtenberatung der DGhK. "Die haben ein Kind, von dem heißt es vielleicht, es sei verhaltensauffällig - weil es sich aus Langeweile Beschäftigungen sucht, die den gewohnten Ablauf stören. Oder es redet Eltern und Lehrer unter den Tisch, stellt unentwegt Fragen, hat überhaupt Probleme mit Autoritäten. Schließlich hat es oft die besseren Argumente."
Häufig kommen die Eltern auch mit Fehldiagnosen zur Beratung, die ihre Versagensängste noch schüren. Bei ihrem eigenen Sohn, sagt Rasmussen, habe es geheißen, er habe Asperger-Autismus oder ADHS. Bis irgendwann deutlich wurde, dass er nur schneller und in anderen Mustern denkt. So einem Kind einen Rahmen zu setzen sei schwierig, weiß sie aus Erfahrung. "Erst auf hohem Niveau über Nuklearproliferation zu diskutieren und dann zu sagen, jetzt gibst du mir dein Smartphone, und in einer Stunde wird geschlafen, das ist eine Herausforderung", sagt sie. "Dabei ist es so wichtig, jemandem Grenzen zu setzen, der so grenzenlos in seinem Kopf agieren kann."
Hochbegabte Kinder fordern nicht nur sich selbst, sondern auch ihr Umfeld. Gefragt sind hier insbesondere die Schulen; sie müssten die Überflieger auf Trab halten, auf ihre Interessen und Talente eingehen. Doch bisher fehle eine verpflichtende, auf Hochbegabung zugeschnittene Weiterbildung für Pädagogen, klagt die Lobbyistin Rasmussen. Allzu häufig würden Lehrer das Talent eines Kindes nicht einmal erkennen.
Aber auch entdeckte Schnelldenker dürfen nicht automatisch auf mehr Förderung hoffen. Manche Pädagogen gehen laut Preckel schlicht davon aus, dass es Hochbegabte sowieso von Natur aus leichter hätten - ungestillter Wissenshunger erscheint ihnen als Luxusproblem einer kleinen Minderheit.
Der Erziehungswissenschaftler Thomas Trautmann von der Universität Hamburg hat das Konzept der privaten Brecht-Schule Hamburg mitentwickelt. Dort bestehen Klassen je zur Hälfte aus hochbegabten und normal begabten Kindern; die Schule bietet Exzellenzkurse, Spezialprogramme für Underachiever und ermuntert Schüler zur Teilnahme an Wettbewerben.

Förderung für Hochbegabte am Kinder-College in Neuwied (Rheinland-Pfalz)
Foto: Thomas Frey/ picture alliance / dpaTrautmann sagt, er verstehe zwar Lehrer, die jammerten, dass sie neben Inklusion, interkultureller Pädagogik und Extrastunden für Legastheniker keine Kapazität mehr hätten, auch noch einen ohnehin fitten Schüler zu fördern. Doch er kritisiert: "Es ist immer noch viel zu oft so: Da sitzen schlaue Kinder, die einen Porschemotor in sich haben und dann im Schulunterricht mit gummibereiften Handwagenrädern fahren sollen."
Reine Hochbegabtenschulen halten Experten wie Trautmann trotzdem nicht für die optimale Lösung. Es reiche nicht, ein Brett an eine Schule zu nageln, auf dem "Elite" stehe, findet er. Unbedingt müssten auch die Angebote da sein, um der Heterogenität innerhalb dieser Gruppe gerecht zu werden. Denn die kann größer sein als bei normalen Schülern.
"Hochbegabtenschulen sind gut für einige, aber nicht für alle", sagt Expertin Preckel. "In manchen Fällen, wenn ein Kind anderen intellektuell um Jahre voraus ist, dann ist das an einer normalen Schule nicht mehr machbar, dann blühen solche Kinder in einer Hochbegabtenschule richtig auf. Welche Förderung die richtige ist, ist immer eine individuell zu treffende Entscheidung."
Leo Fischer, der lange als Problemkind galt, ist jetzt 14; er wechselte kürzlich aus einer Begabtenklasse auf ein ganz normales Gymnasium - seither geht es ihm gut, auch wenn die Lernprobleme geblieben sind.
Jakob, der Hochbegabte, der manchmal länger braucht, um Informationen einzuordnen, besucht hingegen jetzt eine Reformschule, in der jedes Kind selbst festlegt, in welchem Tempo es lernen will. Er konnte schon in der achten Klasse die Physikleistungskurse der Oberstufe besuchen, seit drei Jahren nimmt er an einer AG des Teilchenbeschleuniger-Forschungszentrums Desy teil. Er verliert sich nach wie vor in den Dingen, über die er nachdenkt. In diesem Jahr wird er dennoch eine Klasse überspringen, vielleicht nebenbei noch ein Juniorstudium anfangen.
Der Junge saugt Wissen in einem Tempo in sich hinein, von dem seine Mutter sagt, dass alle schulischen Förderprogramme da am Ende nicht Schritt halten können. Er selbst sieht sich als jemand, der auf einem anderen Planeten lebt. Nach der Schule will er an eine Universität oder ein Forschungszentrum, wo er mit Menschen zusammen sein wird, die ebenfalls in dieser anderen Welt leben.
Studien und Erfahrungen der Wissenschaft sprechen dafür, dass man sich um seine Zukunft nicht allzu viele Sorgen machen muss. "Als Erwachsene sind Hochbegabte besonders glückliche, gesunde und zufriedene Menschen, die beruflich erfolgreich sind und meist in stabilen Partnerschaften leben", sagt der Bildungsforscher Olaf Köller vom Kieler Leibniz-Institut für die Pädagogik der Naturwissenschaften und Mathematik.
Es sind übrigens nicht nur Jungen, die hochbegabt sind, sie fallen nur häufiger auf. Zwar finden sich bei den extremen Ausprägungen von Intelligenz - am oberen wie am unteren Ende - ein paar Jungen mehr. Die Begabung von Mädchen jedoch, vor allem von solchen aus Migrantenfamilien, werde nach wie vor seltener erkannt und gefördert, sagt Jaana Rasmussen von der DGhK, wo zu 80 Prozent Eltern von Jungen aus der dritten oder vierten Klasse anrufen.
Als Leo Fischers jüngere Schwester mit drei Jahren anfing, Schilder vorzulesen, und kurz darauf schreiben konnte, ohne dass es ihr jemand beigebracht hatte, wusste ihre Mutter, was sie längst geahnt hatte - dass auch ihr Zweitgeborenes intelligenter war als der Durchschnitt. "So ein Kind ist wie eine Blackbox, auf einmal können die was, und du weißt nicht, warum."
Klara Fischer ist jetzt zehn, lernt auf eigenen Wunsch Japanisch, liebt Wettbewerbe und Hausaufgaben, verschlingt die Englischbücher höherer Klassen und wird von ihren Freundinnen Hermine genannt, wie die schlaue Freundin von Harry Potter.
Ihre Mutter hat sie nicht testen lassen. "Ich will, dass man meine Kinder so annimmt, wie sie sind. Sie sollen nicht ihr ganzes Leben mit einer Zahl auf der Stirn rumrennen."