
Trauergruppen: Wenn Kinder Abschied nehmen müssen
Kinder in Trauergruppen Leben mit dem Tod
Ella und ihre Geschwister haben gesehen, wie sich ihr Papa bei Tisch fast übergeben musste. Da saß der Tumor noch unentdeckt im Hals. Nach der Chemotherapie zupften sie ihrem Vater die Haare vom Kopf, sie kuschelten sich auf seinen Schoß, als er im Rollstuhl saß. Da wog der Zwei-Meter-Mann noch 60 Kilo. Ellas Mutter sagt über diese Zeit: "Sie war auch ein Geschenk."
Der Vater hatte Krebs, erst in der Speiseröhre, später auch in den Knochen. Vor etwa einem Jahr ist er gestorben, da war Ella sechs, ihr Bruder acht und ihre Schwester zwei Jahre alt. Jährlich erleben etwa 200000 Kinder und Jugendliche in Deutschland, dass ein Elternteil an Krebs erkrankt. Sie sehen zu, wie Mutter oder Vater gegen die Krankheit kämpfen, wie sie gewinnen oder verlieren. Dann verschwindet plötzlich der Mensch, den sie lieben, der sie beschützt, ernährt, tröstet, lobt, tadelt, in den Schlaf singt.
Erwachsene verbannen den Tod gern aus ihrem Leben. Sie wollen nicht darüber reden, weil sie selbst Angst haben. Wie wollen sie Kindern dann die Angst nehmen? Wie gehen Kinder überhaupt mit Trauer um? Was hilft ihnen?
"Warum gerade unser Papa?"
Ella findet Trost darin, dass sie Kinder kennengelernt hat, deren Vater ebenfalls starb. Sie weiß jetzt, sie und ihre Geschwister sind nicht allein. Denn oft hat sie gefragt: "Warum gerade unser Papa?" Alle zwei Wochen besucht sie mit ihrem Bruder eine Trauergruppe für Kinder, angeboten von den Maltesern und dem Verein "Hamburger Zentrum für Kinder und Jugendliche in Trauer" , geleitet von zwei ausgebildeten Trauerbegleiterinnen, größtenteils finanziert durch Spenden. Zudem zahlen die Mütter in der Regel zehn Euro pro Treffen. Hier kann Ella reden, ohne Rücksicht nehmen zu müssen.

Sechs Kinder sitzen jetzt im Stuhlkreis, ihre Füße baumeln über dem Boden. Sie kichern, lachen, einige spielen mit Kuscheltieren. Vor jedem Kind erinnert Selbstgebasteltes an den Vater: Ella hat ein rotes Pappherz ausgeschnitten und mit einem Herz aus Glitzer bemalt, daneben liegen zwei Fotos von ihrem Papa, darauf steht ein Teelicht. "Können wir für die Kerze zur Ruhe kommen", bittet die Begleiterin Ramona Bruhn, die Kinder nennen sie Mona. Ella darf ihr Licht heute als Erste anzünden.
Sie sagt: "Ich möchte noch mal Papas Namen sagen. Erik." Ramona Bruhn fragt ruhig: "Magst du noch etwas zu Papa erzählen?" Ella schüttelt den Kopf. "Möchtest du erzählen, was seit unserem letzten Treffen passiert ist?" Ella erzählt von Silvester, wie ihre Mutter eine Rakete direkt aus der Hand gestartet hat. Sie klingt stolz.
Jeder Tag ein kleiner Abschied
Als sie davon erzählt, sitzt ihre Mutter im Nachbarraum, gemeinsam mit drei anderen Müttern. Sie alle haben ihre Ehemänner verloren. Ellas Mutter, 37, ist eine große, kräftige Frau mit voller, weicher Stimme, resolut, aber herzlich.
Anfangs, erzählt die Mutter, wollte Ella nicht mehr zur Trauergruppe gehen, es strengte sie zu sehr an. Die Mutter kennt das, sie hat als Kind selbst eine Trauergruppe besucht, zehn Jahre war sie alt. Ihr kleiner Bruder war damals in den Fluss gefallen, sie hat ihn gefunden. Da war er schon klinisch tot. Ihre Eltern nahmen sie mit zur Beerdigung, sprachen mit ihr über den Tod, kümmerten sich um eine Trauergruppe. Das hat ihr geholfen. Deshalb will sie ihren eigenen Kindern auch nichts verheimlichen.
Als sie und ihr Mann im Frühjahr 2012 vom Arzt kamen, sagten sie Ella und ihrem Bruder sofort, was der Vater hat. Ob er daran sterben könne, sei die erste Frage gewesen, erinnert sich die Mutter. Anfangs hofften sie noch. Dann verabschiedeten sie sich jeden Tag ein bisschen mehr von dem Leben, das sie bisher geführt hatten.
Sie nahmen sich die Zeit füreinander, die im Alltag sonst fehlt. Die Kinder wollten noch einmal Raclette essen, ihr typisches Weihnachtsessen, also aßen sie Raclette. Der Vater wollte noch einmal mit den Kindern einen Ausflug machen, also organisierte die Mutter einen Rollstuhl. Als ihm im Mai mehr und mehr Haare ausfielen, setzte er sich auf die Terrasse und sagte zu den Kindern: "Hier zieht mal dran." Sie trauten sich nicht. "Nein, es tut mir nicht weh. Ich mache es vor." Dann zogen die Kinder. Anfangs lachten sie noch.
Ein dreiviertel Jahr nach der Diagnose ist der Vater gestorben, die letzten Tage verbrachte er im Hospiz. Zum Abschied sangen die Kinder ein Lied: "Schutzengel mein, behüt mich fein, Tag und Nacht, früh und spät, bis meine Seele zum Himmel eingeht." Die Mutter sagt: "Es war Zeit, dass er sterben muss."
Jeder darf reden, niemand muss
In der Trauergruppe zündet jetzt der achtjährige Jonathan eine Kerze für seinen Vater an. Ramona Bruhn fragt ihn: "Möchtest du seinen Namen sagen?" Jonathan schaut auf seine Hände. "Oder willst du noch darüber nachdenken?" "Nachdenken", sagt Jonathan und erzählt von Weihnachten, von dem neuen Holzkran, der jetzt im Spielzimmer steht, das er sich mit seinem kleinen Bruder teilt. Wie sie damit Klötze aufgehoben haben, wie groß der Kran ist, was er alles kann. Jonathan klingt fröhlich.
Und er beschließt: "Jetzt möchte ich seinen Namen sagen. Christian." Ob er sich noch an Weihnachten mit Papa erinnert? Ja, einmal hat er Jonathan und seinem Bruder einen Film geschenkt. Ob es noch etwas gibt, was er erzählen möchte? Er schaut auf das Bild, das vor ihm liegt. "Die Hängematte auf dem Foto, die haben wir immer noch." Manchmal sitzen er und sein kleiner Bruder darin und spielen, dass Sturm kommt.
Jetzt hängt die Matte nicht auf der Terrasse, es ist noch zu kalt draußen. Im Wohnzimmer stehen viele Fotos von Jonathan und seinem Bruder, Bilder, die sie gemalt, Kerzen, die sie mit Wachs beklebt haben. Ein Foto von seinem Vater hängt nirgends. Er hat sich vor etwa einem Jahr umgebracht. Jonathans Mutter, eine zierliche Frau, sagt, der Tod sei auch eine Erleichterung. "Man schämt sich fast, das zu sagen."
Seit rund fünf Jahren litt ihr Mann; er zog sich zurück, ließ sich nicht helfen, ging nicht zum Arzt, wurde arbeitslos, stritt viel, mochte es nicht, wenn es seiner Frau und den Söhnen gutging. Depressiv, wahrscheinlich. "Er hatte eine Krankheit mit Traurigsein", sagt Jonathans kleiner Bruder, sechs Jahre ist er alt.
"Mama, kommt jetzt ein neuer Papa?"
Eines Morgens im vergangenen Frühjahr ging die Mutter in sein Schlafzimmer, die Kinder warteten unten, gleich wollten sie einkaufen. Da fand sie ihn, über dem Kopf eine Mülltüte. Einen Abschiedsbrief hinterließ er nicht. Stattdessen lagen Eintrittskarten für das Miniatur Wunderland auf dem Tisch. Er wollte mit seinen Söhnen am Nachmittag die Hamburger Modellbahnwelt besuchen.
Kinder weg, Kinder weg, bloß die Kinder weg, habe sie gedacht, erzählt die Mutter heute, ruhig und gefasst. Sie rannte die Treppe runter, sagte, dem Papa gehe es nicht gut, brachte ihre Söhne zu Nachbarn. "Mama, warum zitterst du so?", fragte Jonathan.
Ein paar Stunden später, Polizei, Sanitäter und Bestatter waren schon weggefahren, saß die Mutter mit einem Pastor und ihren Söhnen im Wohnzimmer. Sie habe es ihnen nicht sagen können. Deswegen sprach der Pastor von der Krankheit, die den Vater so traurig gemacht hatte, dass er nicht mehr weiterwusste. Da beugte sich Jonathans kleiner Bruder zu seiner Mutter und flüsterte: "Mama, kommt jetzt ein neuer Papa?"
Auch wenn Kinder äußerlich ruhig bleiben, trifft sie ein Schock. Was bedeutet der Tod? Weg? Für immer? Bin ich schuld? Gerade Kleinkinder können das noch gar nicht begreifen, und trotzdem merken sie, dass jemand fehlt. Viele Kinder leugnen den Tod, sie versuchen unbewusst, zunächst so weiterzuleben wie bisher, um sich zu schützen. Und zu den meisten Familien gehören nun mal Vater, Mutter, Kind. Deswegen fragte Jonathans Bruder wohl nach dem neuen Papa, der die Lücke füllt. Deswegen fragte ein anderes Mädchen, von der Trauerbegleiterin Ramona Bruhn erzählt, als Erstes: "Wer bringt mich jetzt zum Ballett?" Ihre kleine Welt darf nicht zu sehr wanken, sonst fallen die Kinder hart. Was sie jetzt brauchen: ein Elternteil, dem sie vertrauen und auf das sie sich verlassen können. Sonst verlieren sie letztlich Mutter und Vater.
Deswegen will Jonathans Mutter antworten, wenn die Kinder fragen, auch wenn ihr das schwerfällt. "Wie hat Papa das gemacht?", wollte ihr Jüngster irgendwann wissen. "Hat er die Luft angehalten?" Sie habe ganz schon rumgedruckst, erinnert sich die Mutter. Sie konnte nicht antworten.
Später sprach sie mit Ramona Bruhn darüber, und die riet ihr, ehrlich zu sein. Das war sie dann auch, als ihre Kinder wieder fragten: Hatte er den Mund zu? Wie sah er aus? Woher wusste er, wie das geht? Warum stehen solche Sachen im Internet? Kann man das nicht verbieten?
Kinder trauern Schritt für Schritt
Wenn Kinder keine Antworten auf ihre Fragen bekommen, werden sie kreativ. Das Unausgesprochene macht ihnen Angst, lässt sie phantasieren, was passiert sein könnte. In ihren Gedanken malen sie sich das Sterben noch viel grausamer aus als es ist. Und wer sich um die Wahrheit windet, schadet eher, als dass er hilft: "Großvater ist eingeschlafen." Oder: "Gott nahm ihn zu sich, weil er so gut war." Viele Kinder haben danach Angst einzuschlafen oder gut zu sein. Wer weiß, ob sie dann nicht auch verschwinden?
Mit der Realität können Kinder eher leben, sie spüren ohnehin, wenn etwas nicht stimmt. Dabei versinken Kinder nicht in Trauer, so wie es Erwachsene oft tun. Sie trauern in Abständen, das schont ihre Seele. Ellas jüngere Schwester, drei Jahre ist sie jetzt alt, geht manchmal zu ihrer Mutter und sagt: "Jetzt bin ich traurig wegen Papa." Dann weint sie, weint und weint, zwei, drei Minuten lang. Dann atmet sie tief ein und sagt: "So, jetzt bin ich wieder fröhlich." Kinder, sagt Ellas Mutter, hätten es da wirklich gut.
Manche spielen in ihrer Trauer auch Schlüsselszenen nach oder versuchen, den Verstorbenen zu ersetzen. Ellas achtjähriger Bruder setzte sich wenige Wochen nach dem Tod seines Vaters an seinen Platz: "Jetzt hört aber mal auf." Oder: "Ich schmeiß euch gleich raus", sagte er zu seinen Schwestern. Und die Mutter dachte: "Vielen Dank, aber meine Töchter erziehe ich selbst." Rückblickend sagt sie: "Diesen Kampf haben wir ausgefochten. Jetzt bin ich wieder der Chef." Ihre Kinder sollen Kinder bleiben - so gut es eben geht. Den Verlust des Vaters zu verkraften, lässt sie ohnehin schon altern.
"In ewiger Liebe, Dein Papa"
In der Trauergruppe sagt Ramona Bruhn: "Jetzt haben wir schon ganz viel erzählt, jetzt machen wir etwas anderes." Die Kinder sollen ein Windlicht basteln, auf das sie Wünsche malen für das neue Jahr. Jonathans kleiner Bruder hat eine Flasche gezeichnet, er malt sie in Rot an - die Lieblingsfarbe seines Vaters. Eine Wundermedizin gegen den Tod sei das, sagt er. "Dann steht man wieder auf." Jonathan malt ein Bild von einem Sarg, aus dem ein Mann fliegt. "Ist das ein Gespenst?", fragt ein Junge. Jonathan schmunzelt und schüttelt den Kopf. "Ist das der Geist von deinem Papa?" "Ja."
Jonathan und sein Bruder nahmen an der Beerdigung teil, ihre Mutter hatte sie von Anfang an eingebunden. Sie suchten einen Sarg mit aus; weil es keinen roten gab, entschieden sie sich für einen naturfarbenen. Sie durften bei der Beerdigung als Erstes eine Kerze anzünden, in der Kirche standen Bilder, die sie gemalt hatten. Sie wussten: Wenn sie nicht mehr können, dürfen sie zu Oma und Opa gehen, die hätten sie nach Hause gebracht. Jonathan sagt: "Ich wollte bei der Beerdigung weinen, aber es ging nicht, weil da zu viele Leute waren." Er habe bis heute nicht geweint, sagt seine Mutter.
Kinder können eine Beerdigung gut verkraften - wenn sie wissen, was auf sie zukommt. Ihren aufgebahrten Vater haben Jonathan und sein Bruder allerdings nicht gesehen. Ihre Mutter wollte es nicht. Er habe sich mit der Tüte ja quasi selbst zugedeckt, sagt sie.
Ein anderes Kind aus der Gruppe wunderte sich, als es seinen toten Vater sah: "Er ist ja gar nicht blutig." Ellas zweijährige Schwester sagte nur: "Papa ist nicht hier." Ihrer Mutter war wichtig, dass die Kinder ihren toten Vater noch mal sehen, wenn sie wollen. Sie selbst konnte sich damals von ihrem kleinen Bruder nicht verabschieden. Jahrelang stellte sie sich in ihren Träumen vor, wie er tot aussieht. Irgendwann habe sie dann von einem friedlichen, schönen, toten Bruder geträumt, erzählt sie. Das war der letzte Traum dieser Art.
Die Kinder zeichnen an diesem Nachmittag noch einen Papa mit "Luchsaugen", der alles sieht, einen Papa, der sie hochhebt, einen Papa, der lacht. Am Ende sitzen sie alle wieder im Stuhlkreis, beugen sich über ihre Kerze und pusten das Licht aus. Ella lächelt. Schön sei es heute gewesen, sagt sie.
Irgendwann, wenn sie größer ist, wird die Mutter ihr noch ein Geschenk von ihrem Vater geben: Vor seinem Tod ging er zu einem Goldschmied und ließ eine Kette für Ella anfertigen, eine kleine silberne Platte mit einem goldenen Herzen. Auf der Rückseite steht: "In ewiger Liebe Dein Papa".
Die Namen der Kinder und der Verstorbenen wurden geändert.