
Darm und Psyche: Wie der Bauch den Kopf beeinflusst
Forschen Stimmungsmache
Wenn Emeran Mayer sein Büro verlässt, trifft er sie alle: Vegetarier und Veganer, Menschen auf Nur-Fisch- oder Low-Carb-Diät. Wohl nirgends auf der Welt ist die Schar der vermeintlichen Besser-Esser so groß wie rund um Mayers Arbeitsplatz, die University of California in Los Angeles auf halber Strecke zwischen Beverly Hills und Santa Monica.
Mayer ist Gastroenterologe und Direktor des Zentrums für Stress-Neurobiologie, er behandelt Menschen mit unklaren Verdauungsbeschwerden und Reizdarm. Auch unter seinen Patienten versuchen es etliche ohne Fleisch oder ohne das Getreideeiweiß Gluten. Und immer wieder schwärmt jemand, sich dadurch wie ein anderer Mensch zu fühlen - nicht nur körperlich, sondern vor allem psychisch.
Kann es wirklich sein, dass der Verzicht auf Burger oder Kuchen zufriedener macht? Und wenn ja, ist es mehr als nur ein Placeboeffekt? "Der Gedanke ist durchaus reizvoll, dass die Ernährung die Stimmung beeinflusst", sagt der gebürtige Traunsteiner Mayer, der seit 30 Jahren in Los Angeles die Interaktion zwischen Darm und Gehirn erforscht. Seine Hypothese: Die Nahrung könnte im Verdauungstrakt bestimmte Reaktionen hervorrufen, die im Denkorgan für subtile Stimmungsveränderungen sorgen.
Der Darm als Zentrum der Gefühle
Noch steht die Forschung am Anfang, noch ist vieles Spekulation. Doch verblüffende Befunde deuten darauf hin, dass das Wohlergehen des Darms tatsächlich über die Gemütslage mitentscheidet. Einige Wissenschaftler mutmaßen gar, dass Charaktereigenschaften ihren Ursprung im Gedärm haben könnten. Und ganz Optimistische denken bereits an neue Medikamente gegen Angst oder Depression, die im Bauch ihre Wirkung entfalten könnten.
Befeuert wurden die Hoffnungen im Sommer von einer Untersuchung, die Mayer mit Kollegen veröffentlichte: Nachdem weibliche Versuchspersonen über vier Wochen hinweg regelmäßig einen speziellen probiotischen Joghurt gegessen hatten, reagierten bei ihnen bestimmte Hirnregionen weniger stark auf negative Reize als bei Versuchspersonen, die herkömmlichen Joghurt verzehrt oder sich wie üblich ernährt hatten.

Mayer selbst war über das Ergebnis überrascht: "Ich hatte damit gerechnet, dass es keinen Unterschied zwischen den Joghurt-Gruppen gibt. Aber unsere Studie deutet darauf hin, dass probiotische Bakterien in der Nahrung Gehirnreaktionen modulieren können - auch, wenn wir noch nicht genau wissen, welche Mechanismen dahinterstecken und was es bedeutet."
Die Idee, der Darm sei so etwas wie der Quell des Wohlbefindens, ist tief verwurzelt in Volksheilkunde und traditioneller Medizin. In der asiatischen Gesundheitslehre etwa gilt der Bauch als Energiezentrum des Körpers, als Ursprung psychischer Stärke.
Der Darm regelt seine Geschäfte selbst
Die Wissenschaft jedoch nahm das lange nicht so ernst. Den Ursprung von Emotionen vermutete sie allein im Kopf. Und die beseligende Wirkung guten Essens erklärte sie vor allem mit psychologischen Effekten.
Nun aber ermöglichen modernste molekular- und neurobiologische Methoden einen neuen Blick auf den Körper und die komplexen Zusammenhänge im Organismus. Der Darm ist für eine solche ganzheitliche Herangehensweise prädestiniert.
Das liegt an seiner speziellen Beziehung zum Gehirn. Anders als bei Atmung oder Herz-Kreislauf gibt es im Denkorgan kein Areal, das speziell für die Verdauung zuständig ist. Der Darm regelt seine Geschäfte selbst. Etwa vier- bis fünfmal so viele Nervenzellen wie im Rückenmark durchziehen dafür seine Wände. Eigene Rezeptoren registrieren sogar Geschmacksrichtungen wie bitter oder süß, oder sie erkennen bestimmte Nährstoffe.
Doch der Kopf ist immer im Bilde, was unten passiert. Ohne dass es ins Bewusstsein gelangt, stehen Oberstübchen und Eingeweide in ständigem Kontakt. Signale empfängt das Gehirn über das Nervensystem und über den Blutkreislauf, Botenstoffe wie Hormone oder Neurotransmitter und Immunmediatoren spielen dabei eine Rolle.
Ein Großteil der Kommunikation gelangt über den Vagusnerv ins Gehirn und wird dort in Regionen verarbeitet, die für Emotionen zuständig sind, dem sogenannten limbischen System. Diese enge Verbindung zwischen Bauch und Gefühlen hat sich irgendwann in der Evolution entwickelt. Forscher diskutieren, ob das Nervensystem im Darm ein Satellit des limbischen Systems ist - oder ob Letzteres sogar aus dem Nervensystem im Bauch entstanden ist, berichtet der Biologe Michael Schemann, der an der TU München die Verdauungsregulation untersucht.
In jedem Fall erklärt das, warum Darm und Psyche so nah beisammen sind. Eigentlich kennt das jeder aus Erfahrung: Hunger macht schlechte Laune, und umgekehrt verdirbt gedrückte Stimmung oft den Appetit.
Essen beeinflusst Stimmung und Urteilsvermögen
Auch die Nahrung selbst wird im Gehirn genau registriert - und kann Gehirnprozesse verändern, zeigte der belgische Psychiater Lukas van Oudenhove kürzlich in einer kleinen Studie.
Über einen Schlauch träufelte er Versuchspersonen entweder Fettsäuren oder Kochsalzlösung direkt in den Magen - sie konnten also nicht sehen oder riechen, was sie da zu sich nahmen. Dabei spielte er ihnen traurige oder neutrale klassische Musik vor und zeigte ihnen Bilder von Menschen mit betrübtem oder neutralem Gesichtsausdruck. Während in der Kontrollgruppe die Laune ziemlich in den Keller rutschte und bestimmte Gehirnareale anders reagierten, pufferte die fettige Infusion die Trübsal weitgehend ab.
Irgendwie hat man es ja geahnt: Fettes macht - zumindest kurzfristig - offenbar von tief innen heraus glücklich. Noch aber rätseln die Forscher, welchem Zweck die Stimmungsmache im Bauch dient.
Die derzeit einleuchtendste Erklärung geht davon aus, dass das Gehirn als eine Art Zentralcomputer darüber wacht, ob in den Verdauungsorganen alles glattgeht und die Nahrung genügend Nährstoffe liefert, ob eine Entzündung schwelt oder Gefahr durch giftige Stoffe droht, erklärt der Münchner Biologe Schemann. Läuft alles gut, fühlt sich das auch gut an. Gerät etwas durcheinander, schlägt der Kopf Alarm - und das könnte auf die Gemütsverfassung gehen. Auf diese Weise schaffen die ständigen unbewussten Rückmeldungen aus der Nabelregion eine Art unterschwelligen Stimmungsteppich, eine Hintergrundmusik der Befindlichkeit.
Unter dem Einfluss von Hungerhormonen beispielsweise treffen Menschen riskantere Entscheidungen, zeigten Forscher. Viele Darmerkrankungen - Reizdarm oder chronische Entzündungen - gehen mit Angst oder Depressionen einher.
Die aufregendsten Hinweise auf die gemütsverändernden Signale aus den Eingeweiden kommen bisher allerdings von Versuchen mit Mäusen. Bei ihnen deutet vieles darauf hin, dass auch fremde Wesen ein Wörtchen mitzureden haben: die Mikroben, die den Darm besiedeln und ihn bei der Verdauung unterstützen.
Bekommen Mäuse einer normalerweise furchtsamen Rasse Antibiotika, die ihre Bakterienbesiedlung durcheinanderbringen, sind sie wie verwandelt: Sie agieren plötzlich wagemutig und unternehmungslustig, zeigte ein Team um den Gastroenterologen Premysl Bercik von der kanadischen McMaster University. In einem anderen Experiment übertrug er Darmbakterien einer von Natur aus mutigen Mäuserasse auf eine zurückhaltende - und umgekehrt. Das Ergebnis verblüfft: Beide Mäusearten verhielten sich plötzlich wie die jeweils andere. Zumindest bei den Nagern scheinen bestimmte Charakterzüge von den Darmbakterien mitbestimmt zu werden, meint Bercik.
Erste Erfolge in Tierversuchen
Wie die Bakterien zum Kopf funken, ist noch unklar. Die bisherigen Befunde deuten darauf hin, dass sie mittels Immunbotenstoffen, Neurotransmittern und Hormonen die bewährten Signalrouten zwischen Bauch und Kopf nutzen.
Und diese Kommunikation lässt sich manipulieren - jedenfalls im Tierversuch. Futtern Mäuse probiotische Bakterien der Gattung Lactobacillus rhamnosus, werden sie unternehmungslustiger und resignieren in schwierigen Situationen nicht so schnell.
Würde das auch beim Menschen funktionieren, wäre das eine Sensation. Emeran Mayers Joghurt-Studie lieferte darauf einen ersten Hinweis. Schon jetzt wittern einige Forscher und Firmen einen Ansatzpunkt für neue Medikamente gegen Depression und Angst - spezielle probiotische Milchprodukte etwa. "Psychobiotika" nennt das eine Forschergruppe um den Psychiater Ted Dinan im irischen Cork und ruft bereits eine "neue Klasse" psychotroper, also bewusstseinsverändernder Medikamente aus.
Das allerdings hält der Neurogastroenterologe Paul Enck von der Universität Tübingen für verfrüht: "Wir sind sonst mit gutem Grund sehr zögerlich, Mausversuche auf den Menschen zu übertragen - hier vergisst man das", kritisiert er. Ohnehin geben noch viele Befunde Rätsel auf: Etliche der beeindruckenden Stimmungsmanipulationen funktionieren nur bei bestimmten Mäusestämmen oder nur bei Männchen oder Weibchen. "Man kann die Mäuse als Modell benutzen, um Hypothesen zu bilden - aber die muss man am Menschen testen, und das wird Jahre dauern", sagt Enck.
Auch Mayer, dessen Forschungen vom Joghurt-Hersteller Danone unterstützt werden, ist skeptisch: Bisher fehlten Belege dafür, dass - und welche der vielen tausend - Probiotika überhaupt einen nachhaltigen Einfluss auf die menschlichen Darmbakterien haben, geschweige denn, dass das tatsächlich dauerhafte Stimmungsveränderungen zur Folge habe.
Glückliche Ernährung
Mehr Hoffnung setzt Mayer deshalb in ganz normale Lebensmittel. Es gibt bereits Hinweise auf einen Zusammenhang zwischen Ernährungsformen und Depressionen: Das Risiko steigt offenbar, je mehr industriell verarbeitete Nahrung auf den Teller kommt. Das könnte - unter anderem - mit den Darmbakterien zu tun haben. Denn was man isst, entscheidet mit darüber, welche Bakterien sich in den Innereien tummeln.
"Die Ernährung spielt wohl vor allem in den ersten 15 Lebensjahren eine zentrale Rolle - in der Zeit, in der sich das menschliche Gehirn entwickelt", sagt Mayer. Im kindlichen Bauch siedeln sich nach und nach bestimmte Mikrobenstämme an. Sie trainieren das reifende Immunsystem - und scheinen über diesen Weg auch bei der Gehirnentwicklung mitzuwirken.
Ist bei Versuchsmäusen die Besiedlung gestört, kommen die Tiere dauerhaft schlechter mit Stress klar. Der aber gilt als ein Hauptrisikofaktor für Depressionen und andere psychische Krankheiten. Mayer erläutert: "Es ist mit Sicherheit nicht so simpel, dass eine bestimmte Ernährungsform psychische Krankheiten verursacht. Aber möglicherweise erhöht es die Anfälligkeit für solche Störungen, wenn die Bakterienbesiedlung in den ersten Lebensjahren zum Beispiel durch die Ernährung ungünstig beeinflusst wird. Wenn dann noch genetische Faktoren oder Umwelteinflüsse hinzukommen, erkrankt man."
Dem will der Forscher nun nachgehen. Noch in diesem Jahr wird eine Studie erscheinen, in der er den Zusammenhang zwischen bestimmten Darmbakterienbesiedlungen und Gehirnstrukturen untersucht hat: "Es sieht tatsächlich so aus, als korreliere der mikrobielle Typ mit einigen strukturellen Parametern im Gehirn", verrät Mayer: Je nachdem welche Bakterienkolonie in den Eingeweiden haust, scheint sich das Denkorgan anders zu organisieren.
Spannend ist, ob man diese Unterschiede mit Verhaltensmustern in Verbindung bringen kann. Das hat Mayer vor. Und er will untersuchen, ob sich ein veränderter Speiseplan auf das Gehirn auswirkt. "Dann werden wir sehen, ob die Berichte, man fühle sich durch eine andere Ernährung wie neu, nur auf Placeboeffekten beruhen. Oder ob sie belegbar sind."
Beginnen will er mit einer vegetarischen Diät. Nach Versuchspersonen wird er in Los Angeles nicht lange suchen müssen.