Innere Stimme "Das war eine Revolution"

Wie wir in Gedanken mit uns sprechen, bestimmt unser Denken und Fühlen. Ein neues Training lehrt Menschen, mit sich freundlicher umzugehen.
Foto: Tanja Kernweiss/ DER SPIEGEL

Wer Sabrina sieht, die schöne Mutter von zwei kleinen Söhnen, ahnt nichts von ihren inneren Kämpfen. Doch die 27-Jährige hat zwei strenge Zuchtmeisterinnen in sich, es sind die Damen Victoria Beckham und Anna Wintour, Chefredakteurin der amerikanischen "Vogue".

Sabrina nennt sie "skinny women", dürre Frauen, und sagt: "Sie gehen scharf mit mir ins Gericht: Wie siehst du denn heute wieder aus? Jetzt hast du dich schon wieder nicht zusammengerissen! Du bist nichtsnutzig, hedonistisch, faul, schlampig, wieso sollten dich andere Menschen ernst nehmen?" Wenn diese Schimpftiraden innerlich losgehen, sagt Sabrina, werde sie kleinlaut, sei voller Scham, "meine Schultern fallen mutlos nach vorn, der Rücken wird krumm, ich fühle mich schwach".

Die Münchnerin weiß natürlich, dass die Beschimpfungen aus ihrem eigenen Innern kommen, Frau Beckham und Frau Wintour sind nur die Gesichter, die sie dafür gefunden hat. Sabrina glaubt, dass es vielen Eltern so geht wie ihr - "die sind depressiv, erschöpft, leiden unter ihrem Perfektionismus und können ihn doch nicht abstellen".

Schon Sigmund Freud sagte, wir sind nicht Herr im eigenen Haus, unser Fühlen, Denken und Handeln werde durch Kräfte aus dem Unbewussten maßgeblich mit gesteuert. Der Kommunikationsexperte und Psychologe Friedemann Schulz von Thun spricht vom "inneren Team", in dem es zu Konflikten kommen kann. Die Stimmen unseres inneren Teams können uns kritisieren, herabsetzen, uns antreiben, uns mit Dauerkritik zermürben, manchmal auch loben, trösten, uns bestärken. Die inneren Sätze lauten etwa: Sei nicht so übermütig, sonst wirst du es bereuen! Das schaffst du sowieso nicht! Lass dich nicht so hängen! Sie mischen sich im Alltag ein, oft mit herabsetzendem, bösartigen Geplapper, sie entmutigen uns, bremsen uns aus, halten uns klein. Meist laufen die inneren Monologe unbewusst ab, beeinflussen unsere Gefühle, unser Befinden, unser Verhalten. Wie Mentoren oder Saboteure sind sie wohlgesinnt oder blockieren und lähmen uns, sie bestimmen mit, ob wir mutig und zuversichtlich oder eher verzagt an Herausforderungen rangehen.

"Ich dachte, ich gehe gut mit mir um!"

Die inneren Instanzen entstehen in der Kindheit, sie können zu Tyrannen werden und uns schikanieren. Sabrina sagt: "Ich fühle mich unter Druck, vielleicht liegt das auch an meinem Alter, dauernd soll ich performen und etwas Besonderes sein." Sie glaubt, dass sie in der Schule das strenge Über-Ich entwickelt habe, durch Drill und Druck einer Lehrerin, die mit wilden Kindern Schwierigkeiten hatte. "Ich dachte früher immer, ich gehe gut mit mir um, aber jetzt habe ich entdeckt, das stimmt nicht." Diese Entdeckung verdankt Sabrina dem Kurs "Mindful Self-Compassion", kurz MSC. Das Acht-Wochen-Programm wird erst in wenigen Städten Deutschlands angeboten, es ist kein Therapieersatz für psychisch kranke Menschen, sondern ein Angebot für alle, die lernen wollen, sich selbst mit Güte, Fürsorge und Verständnis zu begegnen. Vor allem in schwierigen Lebenssituationen sollen die Teilnehmer befähigt werden, die Fertigkeit des Selbstmitgefühls zu kultivieren.

Seminarleiterin in München ist Christine Brähler, 36, klinische Psychologin und Verhaltenstherapeutin. Sie kam vor neun Jahren in Kontakt mit dem Thema Selbstmitgefühl, damals arbeitete sie mit psychisch Schwerkranken und auch im Bereich der Psychoonkologie. "Bei dieser Arbeit brauchte ich etwas, um mich zu schützen, eine liebevolle Fürsorge für mich selbst im Alltag", sagt sie. Sie lernte den englischen Psychologen Paul Gilbert sowie die US-Psychotherapeuten Christopher Germer und Kristin Neff kennen, die als Pioniere der Arbeit mit Selbstmitgefühl gelten. Inzwischen bietet Brähler selbst weltweit Kurse an.

"Es kommen Menschen mit psychischen Belastungen, aber auch gesunde, erfolgreiche Menschen", sagt sie, "sie leiden unter ihrem Perfektionismus, Leistungsdruck, Stress. Die Dinge, die der Kurs lehrt, sprechen fast jeden an." Ich bin nicht gut genug: Dieser Satz sei der innere Refrain, der viele Menschen peinige. Nicht erfolgreich, nicht schön, nicht schlank, nicht schlau, nicht liebenswert, nicht intelligent genug. Die inneren Stimmen, so Brähler, sind fordernd, hart - los, streng dich an, gib dir mehr Mühe! Nur, das ist Brählers Erfahrungen, einen inneren Mangel könne man nicht beheben durch mehr Arbeit, mehr Konsum, mehr Sport. Eher durch Akzeptanz und mehr Freundlichkeit sich selbst gegenüber - dazu gehöre maßgeblich, dass wir lernen, innerlich anders mit uns zu sprechen.

15 bis 20 Prozent der Kursteilnehmer bei Brähler sind Männer, alle anderen Frauen. "Frauen geben sich häufig die Schuld für alles, was nicht gut läuft", sagt Brähler.

Die Seele stärken

Und dann üben sie in der MSC-Gruppe Sätze wie: Möge ich heute mit mir freundlicher, sanfter, geduldiger sein - und plötzlich, sagt Brähler, "ist es, als wäre ein innerer Schalter umgelegt". Die Leute berichten von positiven Rückmeldungen ihrer Kollegen, ihrer Partner, die sagen: "Du bist viel entspannter, viel ausgeglichener, freundlicher." Mitgefühl mit sich hat etwas von der Fürsorge einer Mutter, die ihr Kind tröstet mit positiven, beruhigenden und liebevollen Worten. Es gehe auch darum, mit schwierigen Emotionen konstruktiv umzugehen und die Seele zu stärken, sagt Brähler. Einige Übungen schulen den Geist, andere die Aufmerksamkeit, wieder andere die Körperempfindsamkeit. Man könne, sagt Brähler, mentale Zustände wie Akzeptanz, Freundlichkeit, Empathie trainieren wie einen Muskel und so sein Gefühlsleben besser steuern.

Unsere Gesellschaft, so sieht sie es, sei nicht gerade von Wohlwollen für sich und andere, sondern eher von Wettbewerb und Leistungsdenken geprägt. "Zu lernen, sich selbst liebevoll zu umsorgen", so Brähler, "und zu erfahren, dass man auf diese Weise den Widrigkeiten des Lebens etwas entgegenzusetzen hat, das ist für viele Leute ungeheuer entlastend." Sind die Grundsätze von Selbstfreundlichkeit und wohlwollender Akzeptanz sich selbst und anderen gegenüber erst einmal verinnerlicht, so Brähler, werde das Bewusstsein ruhiger.

Tatsächlich zeigen Studien, dass dauernde Selbstverurteilung Depressionen fördert und Selbstmitgefühl davor schützt. So kann Freundlichkeit mit sich selbst zu emotionalem Wohlbefinden führen und Ängste, Zweifel und Stress mildern. Allerdings brauchen die positiven Effekte zu Beginn regelmäßige Übung - hält die Praxis nicht an, verschwinden die positiven Effekte wieder.

Sich um sich selbst kümmern

Ergänzende klinische Studien haben ergeben: Mitgefühls-Meditationen in Kombination mit kognitiver Verhaltenstherapie erweisen sich als hilfreich in der Behandlung psychischer Probleme wie Depressionen, Angststörungen, Essstörungen, Traumafolgestörungen und Psychosen.

Der Kurs, sagt Brähler, erzeuge auf lange Sicht eine andere Geisteshaltung. Selbstmitgefühl beinhalte keine Selbstbewertung, "wir sind einfach liebevoll, freundlich und verständnisvoll mit uns selbst, weil Freundlichkeit die einzige sinnvolle Reaktion auf leidvolle Erfahrungen ist". Sabrina kann das bestätigen: "Man legt in den Übungen die Samen, und die blühen im Alltag auf. Ich urteile jetzt weniger über mich und andere, ich bin mir ein wohlwollender Begleiter." Einer der Kursteilnehmer ist Frank, er trägt Personalverantwortung in einem großen bayerischen Unternehmen und hat sich im Rahmen einer Coachingausbildung bereits viel mit dem Thema "Achtsamkeit" befasst. Er erlebte Christopher Germer bei einem Vortrag und fand ihn sympathisch und undogmatisch.

Aus SPIEGEL Wissen 3/2015
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Nach Franks Beobachtung sprechen vor allem Führungskräfte unfreundlich mit sich, "da wirken bei vielen die Antreiber aus der Kindheit, die sind hart mit sich und verdrängen häufig alle negativen oder ängstlichen Gefühle". Aber, so hat Frank gelernt: Wenn man negative Gedanken verdrängt, gehen die in den Keller und stemmen Gewichte, das heißt, die Gefühle werden mächtiger, drängen nach oben, schwächen die Gesamtverfassung. Frank: "Ich weiß inzwischen von mir selbst, wie sehr auch meine körperliche Verfassung damit zu tun hat, wie ich im Kopf aufgestellt bin." Er beschreibt ein typisches, negatives Gedankenkarussell: Wie konnte mir das passieren, wie bin ich in diese Situation reingeraten? So entstehe eine Lähmung, sagt Frank, "die jedes konstruktive Handeln verhindert".

Da hilft nur: raus aus der Grübelei, rein ins Handeln. Genau das lerne man im Kurs. "Man kümmert sich um sich selbst, wie man sich um ein Kind kümmert, das an Grippe erkrankt ist. Man tut das ja nicht, um die Grippe zu bekämpfen, sondern man kümmert sich aus Mitgefühl." Heute nimmt er schneller wahr, was los ist, negative Gedankenspiralen kommen viel seltener vor, und mit den Übungen aus dem Kurs habe er Mittel zur Hand, sich zu regulieren.

Männer, so Franks Beobachtung, täten sich oft schwerer mit Akzeptanz, Freundlichkeit, Selbstliebe. "Gerade weil sie stärker zur Verdrängung neigen, können sie enorm profitieren von diesem Training." Ihm gefällt der neurobiologische, wissenschaftliche Hintergrund des Kurses. Inzwischen hat Frank begonnen, das Gelernte seinen Kindern weiterzugeben, sie sind 7 und 11 Jahre alt. "Wenn die sich ärgern, wütend, motzig oder traurig sind, dann sehe ich erste Anzeichen negativer Muster. Sie hadern mit sich, machen sich runter, statt sich zu trösten und freundlich mit sich zu sprechen. Das üben wir jetzt zusammen." Die übliche Selbstkritik in eine wohlwollende Haltung umzuwandeln - darum geht es.

Reiß dich mal zusammen!

Hilde Steinhauser, Übersetzerin und Achtsamkeitslehrerin in Köln, übersetzte vor Jahren einen Vortrag von Christopher Germer und merkte plötzlich, wie nah ihr das Thema ging. "Ich dachte immer, ich gehe gut mit mir um, aber bei einer Übung habe ich gemerkt, wie überkritisch ich mit mir innerlich spreche, wenn ich mich ungenügend fühle." Nach diesem Aha-Effekt absolvierte Steinhauser die Ausbildung bei Germer und gibt seit vier Jahren Kurse. Diesen besseren Umgang mit sich üben, das sei, sagt sie, "wie die Facette eines Kristalls", den man poliere. Der innere Kritiker sei weniger dominant, die Teilnehmer lernten, sich selbst zu verzeihen, "und sei es nur eine Kleinigkeit wie Ungeduld mit sich und anderen". Allerdings, so Steinhauser, sei der Kurs nichts für akute, schwere Krisen: "Wenn man gerade dabei ist unterzugehen, ist es nicht die richtige Zeit, einen neuen Schwimmstil zu lernen."

Eine von Steinhausers Kursteilnehmern ist Miriam, sie arbeitet als Sozialarbeiterin in Köln. Eines Tages entdeckte sie, "wie schlecht und rüde" sie mit sich sprach. Es waren Sätze wie: Ich bin doch nicht blöd! Ich glaube, ich spinne! Reiß dich mal zusammen! Wieso immer wieder ich? Sie machte erst einen Achtsamkeitskurs bei Steinhauser, um ihre Wahrnehmung zu schulen, dann folgte der MSC-Kurs, "das war wie eine Revolution für mich!" In die Stille gehen, freundlich mit sich sein, "das ist wie eine neue Sprache, die man einübt".

Der innere Kritiker, Miriam hört ihn noch, "aber ich bleibe nicht im Jammermodus stecken". Seit sie die Übungen regelmäßig macht, fühle sie sich anderen Menschen stärker verbunden. "Ich sag jetzt nicht mehr: meine Güte, ist der doof. Ich sag jetzt eher: der hat es auch nicht leicht." Miriam ist überzeugt: "Unser Selbstwert wird vermindert, wenn wir schlecht mit uns sprechen und erhöht, wenn wir gut mit uns sprechen." Das werde ihr immer klarer, Tag für Tag.

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