Ich-Perspektive Altes Ego

Wer in seinem Tagebuch von früher liest, muss starke Nerven haben. Und kann doch viel über sich lernen. Eine Tagebuchschreiberin packt aus.
Gefühlswallungen: Ein Blick ins alte Tagebuch offenbar das 14-Jährige Ich

Gefühlswallungen: Ein Blick ins alte Tagebuch offenbar das 14-Jährige Ich

Foto: Corbis

Meine Mädchenwangen glühten. Mein Füller auch. Der erste Tagebuchtext meines Lebens umfasst stolze 16 Seiten. Eine "atemberaubende Show" galt es damals, im Jahre 1997, zu dokumentieren: Die Milchbubigesichter auf den "Bravo"-Postern an den Wänden meines Kinderzimmers hatten sich in Fleisch und Blut, in Schweiß und Schmalzstimme verwandelt. Das Konzert der Backstreet Boys sollte in Schönschrift und Endlosschleife auf Papier verewigt werden. Mein 14-jähriges Ich erzählt die Geschichte von fünf "total süßen" Jungs, die eine "abnormal coole Tanzaction abliefern", dann aber "voll den Beschiss abziehen", weil Kevin beim Lied "10.000 Promises" nur so tut, als würde er selbst Klavier spielen.

Die Erregung von einst treibt mir heute die Schamröte ins Gesicht. Dennoch bin ich den Backstreet Boys zu ewigem Dank verpflichtet. Ihre kitschigen Schnulzen verhalfen mir zur Erkenntnis: Tagebuchschreiben macht glücklich. Die Tintenpatrone erlöste mein klopfendes Teenagerherz. Immer, wenn ich in der Folgezeit nicht wusste, wohin mit meinen Gefühlen, schrieb ich sie auf.

So mache ich das bis heute. Waren die Spiralblöcke, Hefte und Blattsammlungen in meinem Bücherregal anfangs eher ein Abklingbecken für die verstrahlten Gedanken einer Pubertierenden, nutze ich mein Tagebuch heute als Stromableiter für Hirnaktivitäten aller Art. Der Effekt ist stets derselbe: Mein Kopf wird klar, das Rauschen des Alltags verschwindet. Ich kann tiefer ausatmen und schneller einschlafen.

Seit 20 Jahren fülle ich Bücher mit Buchstaben. Als den anderen ihre Tagebücher peinlich wurden, schrieb ich einfach weiter. Klar, es gibt auf dieser Welt verheißungsvollere Entspannungsmethoden. Yoga im Morgengrauen, die Zigarette danach oder der erste Atemzug Frischluft nach zehn Minuten finnischer Sauna. Mach ich alles gern - aber nichts lässt mich meine inneren Kräfte so sehr bündeln wie der kurze Dialog mit mir selbst.

Beim Schreiben forme ich Bilder in meinem Kopf. Empfindungen wie Hoffnung, Angst, Ärger oder Freude werden mir oft erst in dem Moment bewusst, in dem ich sie formuliere. Über einen längeren Zeitraum entstehen aus den Momentaufnahmen authentische Spiegelbilder. Gut möglich, dass man sich über die Person erschreckt, die einen aus alten Tagebucheinträgen anblickt. Unbequeme Wahrheiten - besonders die über sich selbst - möchte man in der Rückschau gern verdrängen. Meine jugendliche Begeisterung für Plastikpop ist ein harmloses Beispiel. Ohne das Tagebuch aus dieser Zeit hätte ich die Erinnerung an diese Episode längst gelöscht. Dabei war sie ein wesentlicher Bestandteil meiner jugendlichen Identität.

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Dear Diary: Berühmte Tagebuchschreiber

Foto: ASSOCIATED PRESS

Früher schrieb ich am liebsten abends oder noch lieber nachts: Wehklagen über verflossene Lieben sind so entstanden, genauso wie die wütende Konsumkritik nach dem ersten Besuch in einem Berliner Lidl angesichts "aufgeplatzter Krokettenpackungen in der Tiefkühltruhe". Heutzutage fehlt mir die Zeit für lange Besinnungsaufsätze, und seitdem ich Mutter bin, fehlt mir zudem permanent Schlaf. Ich schreibe also lieber tagsüber - und zwar nicht auf Papier, sondern per App.

Day One heißt das Programm auf meinem Smartphone, das ich mehrmals am Tag mit kleinen Alltagsbeobachtungen, Lieblingsfotos oder kurzen Gefühlsausbrüchen füttere. "Baby unter Gardine begraben", "Höllischer Muskelkater", "Streit um Liebesschlösser auf Facebook", tippe ich dann in die Tastatur. Per Diktierfunktion kann ich sogar auf der Rolltreppe oder während eines Spaziergangs im Park Tagebuch schreiben. Auf diese Weise entsteht keine große Literatur. Aber darum geht es mir beim Tagebuchschreiben auch nicht.

Ich bin kein Karl Ove Knausgård, der aus seinen schonungslos offenen Selbstbespiegelungen Bestseller gemacht hat. Ich bin keine Charlotte Roche und kann der Versuchung, aus meinem Sexleben literarisches Kapital zu schlagen, widerstehen. Ich bin kein neuzeitlicher Werther und auch keine Person der Zeitgeschichte, aus deren Beobachtungen meine Mitmenschen etwas Erhebendes lernen könnten. Es ist eher so: Je älter ich werde, desto schneller rast die Zeit an mir vorbei. Das tägliche Diktat fürs digitale Tagebuch gibt mir die Möglichkeit, das Hamsterrad, in dem ich meine Runden drehe, einen kurzen Moment auf Zeitlupe zu schalten. "Das war mir heute wichtig." Nichts anderes erzählen meine kurzen Einträge. Sie helfen mir, meinen Alltag und meine verschiedenen Identitäten zu ordnen. Ich bezweifele, dass es ein einziges authentisches Ich gibt. Ich bin viele. An einem Tag Karrierefrau, am anderen Supermutter. Oder in schlechten Wochen montags der Sündenbock, mittwochs der Depp vom Dienst und freitags ein Häuflein Elend. Meinem Tagebuch kann ich nichts vormachen.

Es tut gut, sich seinen Kummer von der Seele zu schreiben. Als ich den an Krebs erkrankten Guido Westerwelle in einer Talkshow sitzen sah, sagte der, er habe mit dem Tagebuchschreiben gegen seine Dämonen kämpfen wollen. Das fand ich ein treffendes Bild. Tagebücher sind sicherlich keine Wunderheiler, aber dass sie sich positiv auf geistige Vorgänge auswirken, ist wissenschaftlich erwiesen. Eine Studie der University of California hat gezeigt, dass das Schreiben über die eigenen Gefühle dem Gehirn hilft, seine Emotionen zu regulieren. Die Selbstheilungskräfte, die das Tagebuchschreiben entfalten kann, werden auch "Bridget-Jones-Effekt" genannt. Doof nur, dass nicht nur negative Emotionen durchs Aufschreiben kleiner werden. Auch die guten Gefühle verlieren, so das Fazit des amerikanischen Psychologieprofessors Matthew Lieberman, an Intensität, sobald man sie zu Papier bringt.

"Wer permanent im Einklang mit sich selbst ist, verspürt wohl keinen Drang zum Schreiben."

Tatsächlich öffne ich in Momenten großer Freude eher eine Flasche Champagner als die App "Day One". Auch in meinen insgesamt zwölf Tagebuchbänden im Bücherregal besiegt der Schwermut meistens den Schöngeist. Wer permanent im Einklang mit sich selbst ist, verspürt wohl keinen Drang zum Schreiben. Schöne Momente konserviere ich lieber in Fotos oder ausgeschnittenen Schnipseln statt in Worten. Die Kniffel-Gewinnkarte als Andenken an einen Campingurlaub mit Freunden hat im Innern meines Tagebuchs sieben Umzüge überlebt.

Trotzdem kann es lohnenswert sein, aus guter Laune heraus Tagebuch zu schreiben. Als 22-Jährige habe ich einmal beiläufig ins Tagebuch gekrakelt: "Heute habe ich meinen zukünftigen Ehemann kennengelernt." Zwar bekam ich den Kerl, von dem ich mir nicht sicher war, "ob er nicht vielleicht zu dünn ist", die folgenden zwei Jahre nicht mehr zu Gesicht; sein Versprechen, mir die größten Hits der Rapper Die Firma vorzuspielen, blieb uneingelöst. Das Jawort gab er mir acht Jahre später trotzdem. Mein Bauchgefühl hatte recht behalten. Vielleicht hätte ich es damals überhört, hätte mein Tagebuch nicht als Lautsprecher meiner inneren Stimme fungiert.

Ganz manchmal ertappe ich mich bei dem Gedanken, dass in 200 Jahren ein Kind des Kindes meines Kindes meine Tagebücher auf irgendeinem Dachboden findet und über die Welt, in der wir heute leben, staunt. Vielleicht liest dieser Mensch aus der Zukunft genau die Stelle vom ersten Treffen seiner Vorfahren, und mein Mann und ich erstehen für den Bruchteil ein paar geblätterter Seiten von den Toten auf. Ich persönlich kann meine eigene Familiengeschichte kaum länger als zwei Generationen zurückverfolgen. Wie zum Beispiel der Vater meines Opas mit Vornamen geheißen hat, geschweige denn, was er für Musik gehört hat, weiß ich nicht zu sagen.

Ganz vielleicht landen meine Aufzeichnungen eines Tages im Deutschen Tagebucharchiv in Emmendingen. Ich kann mir zwar kaum vorstellen, dass irgendwer außer mir Spaß an der Lektüre meiner Zeilen haben könnte. Aber wer weiß, ob sich Forscher nicht irgendwann einmal für Dokumente aus der Zeit interessieren, in der die Menschen noch ihr Essen in Discount-Supermärkten gekauft haben.

Mir fällt nur ein einziger Mensch ein, der mein Tagebuch zu Lebzeiten zu Gesicht bekommen hat: Meine kleine Schwester hatte es aus meinem Kinderzimmer geklaut, dann aber vergessen, es wieder in meine Schreibtischschublade zurückzulegen. Es ist schon lange her, aber ich erinnere mich noch sehr gut an den Schock, den ich erlitt, als ich mein Tagebuch auf dem Zeitschriftenstapel im Klo entdeckte. Aufgeschlagen war der Text über das Backstreet-Boys-Konzert.

Zur Autorin

Anna Clauß findet inneren Einklang auch beim Singen. Nach den sieben Strophen des Abendliedes "Der Mond ist aufgegangen" kommt sogar ihr Baby zur Ruhe.Anna.Clauss@spiegel.de 

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