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Abfahrt ins Spital

Wachsende sportliche Anforderungen und kommerzieller Druck bringen die Abfahrtsläufer in Risiken bis zur Lebensgefahr.
aus DER SPIEGEL 6/1981

Schon der Vorläufer hob auf einer Bodenwelle ab und krachte auf den Rücken. Als die Wettkämpfer Ernst machten, wurde den Zuschauern weiß vor Augen. Stürzende, sich überschlagende Skiläufer wirbelten Wolken von Neuschnee auf.

Kaum bekannte Abfahrer aus Japan und Jugoslawien, den Traum vom großen Rennen und nachfolgendem Ruhm im Sinn, trieb es bei den Weltcup-Abfahrten im Sturzflug von der Piste.

Aber auch wohlbekannte Namen wie den Kanadier Dave Irwin, den Jugoslawen Bojan Krizaj oder den Weltcup-Favoriten Peter Müller aus der Schweiz riß es aus Tempo 100 in den doppelten Salto mit Aufschlag und rücklings in den Fangzaun. Der Österreicher Hans Enn prallte in Kitzbühel gar zweimal von der Piste, im Training und im Rennen.

»Hier unten feiern die Läufer ihren Sieg«, empörte sich ZDF-Reporter Harry Valerien in Kitzbühel, »und oben kämpfen sie ums Überleben.« Er forderte, live, das Rennen abzubrechen.

Veranstalter und Organisatoren nahmen in Kitzbühel einen neuen Negativ-Rekord in der an makabren Zwischenfällen reichen Geschichte des modernen Abfahrtslaufes in Kauf: Von 58 Startern kamen nur 39 durch; 19 stürzten. Schon bei voraufgegangenen Rennen war ein gutes Dutzend Athleten, darunter der Kanadier Ken Read, im Spital statt im Ziel gelandet. Bei der Abfahrt am vorletzten Sonnabend in Wengen stürzten fünf Starter.

»Hätten wir alle nicht eine solche Bombenkondition«, steuerte Rennopfer Leonhard Stock aus dem Krankenhaus bei, »läge die Hälfte von uns schon auf dem Friedhof.«

Knochenbruch und Ärgeres gehören zum Rennrisiko; kein Star, vom Kitzbühel-Sieger Podborski bis zum Deutschen Michael Veith, der nicht seine Karriere teils im Krankenhaus oder zumindest in Gips zugebracht hätte.

Oft genug waren Rennläufer in den Tod gerast. Wie viele -- darüber gibt es keine eindeutige Auskunft. Die Italiener geben zehn Renntote seit 1949 an, die Schweizer 17. Insgesamt kamen jedoch einschließlich Jugendlicher mindestens 25 Skiläufer durch Rennen um.

Der erste war der Italiener Illioli Sertorelli 1949 in Garmisch, wo auch der Kanadier John Semmelink ums Leben kam; als vorerst letzten traf es 1975 den Franzosen Michel Dujon, 19, beim Abfahrtstraining in Val d'Isere (in der Branche: »Val Misere"). Ein stählernes Bindungsteil durchschlug seinen Helm wie ein Geschoßsplitter und tötete ihn.

Andere Stürze endeten kaum weniger tragisch. Klaus Klammer, der Bruder des Olympiasiegers Franz Klammer, schoß über einen Felsgrat hinaus und lebt seither querschnittgelähmt im Rollstuhl. Auf den ist auch der Italiener Leonardo David angewiesen: Er hatte sich 1979 eine Hirnverletzung zugezogen und lag 16 Monate im Koma.

Immer bedrohlicher bündeln sich die Risiko-Faktoren:

* Verbesserte Ski und Rennanzüge erhöhen die Geschwindigkeit.

* In der Streckenführung kaum veränderte Pisten provozieren mehr als 100 km/h im Schnitt und Spitzengeschwindigkeiten von 130 km/h.

* Das Training nach Stoppuhr gilt für einige Mannschaften (Österreich) als Qualifikation: erhöhte Sturzgefahr schon vor dem Rennen. S.160

* Die veranstaltenden Wintersportorte bangen um ihren Einsatz (Kitzbühel: 650 000 Mark) und scheuen Absagen.

* Ohne werbende Firmen und TV-Honorare ist keine Weltcup-Abfahrt zu finanzieren: Aber: ohne Rennen kein Geld.

Sieger Podborski ("Wer Angst hat, gewinnt nie") erklärte die Sturzserie zwar mit »viel Pech«. Aber er kritisierte auch, daß der Skizirkus etwa in St. Moritz »eine Strecke nach sechs Jahren Pause einfach so wieder befährt«. Im Training und während der »brutalen vierten Weltcup-Abfahrt« ("Sport«, Zürich) waren denn auch Athleten von Weltrang wie der Deutsche Michael Veith, der Amerikaner Andy Mill sowie die Österreicher Uli Spiess und Werner Grissmann verunglückt.

Schon im Training wird »fast rennmäßig gefahren, mit Rennski und wettkampfmäßiger Ausrüstung«, stellte der Schweizer Ski-Experte Walter Lutz fest. Vor allem Österreicher, die einen Platz in der Rennmannschaft erkämpfen wollen, verunglückten schon beim Proben: Anton Steiner fällt diese Saison aus, Spiess muß womöglich seine Karriere beenden.

Deshalb taugt auch der Vorschlag nichts, nur Rennläufer zur Abfahrt zuzulassen, die sich im Training qualifiziert haben. Für schwächere Fahrer verschöbe sich das Rennen vorweg auf die Generalprobe: Ob Sturz bei Training oder Rennen, macht für das Opfer keinen Unterschied.

Ohne zahlungskräftige Sponsoren und TV-Lizenzgebühren kann kein Wintersportort eine halbe Million Mark und mehr für eine Weltcup-Abfahrt zusammenkratzen. Schon eine Verschiebung gefährdet die zeitgebundene TV-Übertragung.

Die Kommerzialisierung des Wintersports verknüpfte unheilvolle Bedingungen zu einer unauflöslichen Kette: TV-Übertragungen in viele Länder prägen und erhalten, so glauben zumindest die Gemeindepolitiker, den Ruf eines Wintersportortes.

Allein an den Renntagen setzen Hoteliers und Gastwirte zusätzlich leicht eine halbe Million Mark um. Das mag über Plus oder Pleite in einem Winter entscheiden. Eine Absage führt die Gemeinde unweigerlich ins Defizit.

Kein Offizieller mag zugeben, daß möglichst gefahrvolle Pisten und spektakuläre Stürze, ähnlich wie bei Autorennen, viele Zuschauer anziehen. Die meisten Fans ballen sich bei Formel-I-Rennen wie bei Abfahrten an den gefahrenträchtigen Brennpunkten. Sturz und Beinbruch sind einkalkuliert.

Sonst hätten die Organisatoren jüngst die Kitzbühel-Abfahrt stoppen müssen: Nachdem es hochkarätige Stars von der Piste geschlagen hatte, stand fest, daß die zweite und dritte Garnitur mit den hohen Startnummern um Kopf und Knochen zu kämpfen haben würde. Doch Rennen und TV-Übertragung liefen bis zur letzten Bruchlandung weiter.

Am liebsten hetzen die Könner mit ihren rasiermesserscharf geschliffenen Kanten über Eisbahnen zu Tal. Nachlässig beseitigter Neuschnee wie in Kitzbühel kann dann bei Tempo 120 wie ein unangekündigtes Schotterstück auf der Autobahn wirken.

Wenn Veranstalter und Organisatoren tatsächlich das Risiko auf ein verantwortbares Maß zurückführen wollten, könnten sie die Strecken durch mehr kurvige Passagen technisch anspruchsvoller gestalten und die Skiläufer auf diese Weise zwingen, ihr Tempo zu drosseln.

Doch die Rennbahn der Abfahrer weist vorerst steil abwärts. In Kitzbühel jagen die Männer auf den aalglatt gewachsten Brettern vom Start in wenig mehr als zwei Minuten auf dreieinhalb Kilometer Weglänge in das 862 Meter tiefer gelegene Ziel.

Ihre Geschwindigkeit zieht die Buckel und Mulden zu einem einzigen Waschbrett zusammen. Ein höherer Hubbel kann zur Sprungschanze geraten, von der sie abheben und 20 oder 30 Meter weit fliegen. Schon während der Landung müssen sie vielleicht ihre Ski in die folgende Kurve hineinzerren.

Längst haben Professionalisierung und Kommerz die Rennläufer aufgeteilt in Spezialisten-Gruppen für die Abfahrt und die technisch anspruchsvolleren, aber ungefährlicheren Slalomrennen. Doch die Funktionäre tüftelten eine Weltcup-Wertung aus, nach der kein Slalomläufer den Weltcup erkämpfen kann, wenn er sich nicht auch an eine Abfahrt traut.

Abfahrtsungeübte Slalom-Techniker wie Krizaj und Enn stürzten in Kitzbühel so schwer, daß sie bis zum nächsten Slalom-Rennen nicht wieder startfähig waren.

Doppel-Olympiasieger Ingemar Stenmark kam an. Er fuhr teilweise aufrecht wie ein Tourist, benötigte elf Sekunden mehr als der Sieger und wurde 34. Das reichte zum dritten Rang in der Kombinations-Wertung und 15 Punkten zusätzlich. Stenmark hat nun gute Chancen auf den Weltcup.

Eine Abfahrt will er trotzdem »nie wieder« fahren. Denn »Rennen, in denen ich nicht das Beste geben kann, sind für mich uninteressant«. An einem Autorennen würde er dagegen ohne Bedenken teilnehmen.

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