
Frauenfußball-Nationalmannschaft: Anfällige Abwehr
Abwehr der deutschen Nationalelf Starke Frauen, kleine Schwäche
Es sind Luftlinie vielleicht fünf Kilometer Entfernung vom Berliner Olympiastadion zum Stadtbezirk Zehlendorf, in dem Ariane Hingst aufgewachsen ist. 173 Länderspiele und zwei Weltmeistertitel später ist die Nationalspielerin dem Rasen des Stadions noch nicht näher gekommen.
Zwar kennt keine im deutschen Frauen-Nationalteam Berlin so gut wie die 31-Jährige. Aber wenn am Sonntag die Mannschaft vor mehr als 70.000 Zuschauern zur WM-Eröffnung gegen Kanada (18 Uhr, Liveticker SPIEGEL ONLINE) ins Olympiastadion einläuft und dem deutschen Frauenfußball damit ein einmaliges Erlebnis verschafft, ist für Hingst kein Platz mehr in der deutschen Startelf. Sie muss wohl auf der Ersatzbank sitzen.
Dabei wäre die Erfahrung, die die Defensivspezialistin in 15 Jahren bei der Nationalelf gesammelt hat, möglicherweise schon gegen die kantigen Kanadierinnen gefragt. Denn wenn der Titelfavorit Deutschland überhaupt irgendwo noch einen schwachen Punkt aufweist, dann ist es die Verteidigungsarbeit.
Kein einziger Gegentreffer in der Vorbereitung
Die Zahlen sprechen zunächst einmal eine andere Sprache. In den vier Testspielen der WM-Vorbereitung schoss die deutsche Mannschaft zwar beeindruckende 15 Tore. Imposanter jedoch ist noch eine andere Statistik: Die Abwehr um die Duisburgerin Annike Krahn kassierte dabei keinen einzigen Gegentreffer.
Dass diese Bilanz so makellos war, lag allerdings auch zu einem guten Teil an der Harmlosigkeit der gegnerischen Stürmerinnen.
Torfrau Nadine Angerer sagt zwar, sie sei "mit der Viererkette vor mir absolut zufrieden". Aber gerade im Abschlusstest gegen Norwegen luden die deutschen Abwehrspielerinnen die skandinavischen Stürmerinnen durch krasseste Fehlpässe vor dem eigenen Strafraum mehrfach herzlich zum Torschuss ein. Man hätte nicht wissen wollen, wie Ausnahmestürmerinnen wie die Brasilianerin Marta oder die US-Amerikanerin Abby Wambach mit solchen Gelegenheiten verfahren wären.
Bundestrainerin Silvia Neid hat in diesen Tagen der Vorbereitung stets betont, ihre erste Elf fürs Eröffnungsspiel stehe noch nicht fest. Für die Defensive gilt dies jedoch kaum. Die Abwehrformation ist mehr oder weniger seit Wochen gesetzt: Angerer im Tor, in der Innenverteidigung Krahn und die Frankfurterin Saskia Bartusiak, auf den Außenpositionen der Viererkette verteidigen Linda Bresonik aus Frankfurt und die Potsdamerin Babette Peter. Davor sichern die beiden dynamischen Sechser Kim Kulig und Simone Laudehr ab.
Abwehrchefin Krahn verriet Unsicherheiten
Zum Credo im Neid-Team gehört der Satz: "Die Abwehrarbeit beginnt vorne im Sturm." Angerer und Hingst haben das am Mittwoch vor der Presse in Berlin noch einmal gleichlautend betont. Dennoch kommt auf Krahn und ihre Nebenleute in der Verteidigung die Hauptarbeit zu, wenn es gegen die Topteams wie die USA, Schweden und Brasilien geht. Vor allem Abwehrchefin Krahn wirkte in der Vorbereitung mehrfach unsicher und kämpft nach ihrem Kreuzbandriss aus der Vorsaison noch mit ihrer Form.
Neid fehlen jedoch die echten Alternativen. Lena Goeßling vom SC Bad Neuenahr hat Krahn während deren Verletzung im Abwehrzentrum vertreten. Ihr fehlt jedoch die internationale Erfahrung, sie ist erstmals bei einer WM dabei. Hingst, die bei der WM 2007 noch mit Krahn die Innenverteidigung bildete, ist nach ihrer Knieverletzung von der EM 2009 und einem Außenbandriss im März nicht wieder die Alte.
"Unsere Stärke ist die Flexibilität", sagt Nationalelf-Managerin Doris Fitschen. Für den Angriff hat sie damit Recht: Wenn Kapitänin Birgit Prinz schwächelt, kann dies Jungstar Alexandra Popp kompensieren. Wenn Melanie Behringer einen schlechten Tag erwischt, kann Fatmire Bajramaj sie mit ihren Dribblings gewinnbringend ersetzen. Martina Müller wartet auf ihre Joker-Chance, Inka Grings ist jederzeit in der Lage, ein Spiel zu entscheiden.
Aber in der Abwehr hat die Bundestrainerin weit weniger Optionen. Wenn jemand aus der Stamm-Viererkette ausfällt, wird es eng. Neben Goeßling und Hingst hat Neid mit der Potsdamerin Bianca Schmidt und der jungen Wolfsburgerin Verena Faißt nur noch zwei defensive Spielerinnen zur Verfügung. Faißt hat bislang erst drei Länderspiele absolviert.
"Wir lassen uns von den Medien keine Schwächen einreden. Wir wissen um unseren Stellenwert", verkündet Hingst trotzig. Und für Angerer ist in diesen letzten Tagen vor dem WM-Auftakt auch kein Platz für Selbstzweifel mehr. "Die gesamte Mannschaft ist seit der WM 2007 noch erheblich besser geworden. Ich auch." 2007 ließ Angerer während des gesamten Turniers keinen einzigen Gegentreffer zu.