Achilles' Verse Der Schwager - eine harte Nuss
Wenn der Schwager drängt
Eigentlich sollte der Oktober der Schonung dienen. Doch der Kenianer kommt nicht zur Ruhe. Ein übermotiviertes Familienmitglied treibt ihn zu winterlichen Abenteuern.
Von Peter Patella, dem Düsseldorfer Kenianer.
Der Kenianer hatte eine halbwegs erfolgreiche Triathlonsaison hinter sich gebracht. Schließlich hatte er bei allen Wettkämpfen das Ziel erreicht. Allerdings war er nur unter "ferner liefen" (und schwammen und fuhren) plaziert. An der Spitze würde er nie landen, das war ihm klar.

Eine Handvoll Nüsse: Gehaltvolle Regenerationsnahrung
Foto: AFPEr suchte mehr den Wettkampf mit sich, seinen Zeiten aus dem Vorjahr und vor allem seinem Schwager. Der hatte sich in dieser Saison zu einem veritablen Gegner entwickelt und bereitete dem Kenianer zunehmend Kopfzerbrechen. Wie sollte er sich vor seiner Frau, seinem Sohn und allen weiteren Familienmitgliedern erklären? Wie sollte er den Unwissenden klarmachen, dass jahrelanges Training weniger wert wäre als das Talent eines Rookies, der zum ersten Mal in seiner Sportlerlaufbahn eine Saison ohne Übergewicht bestritten hatte. Immerhin war der Schwager stets hinter dem Kenianer geblieben - wenn auch zunehmend knapper.
Eines Tages saßen die beiden zusammen und sinnierten darüber, wie die gute Form zu erhalten sei. Dem Kenianer schwebte Großes vor: Erstmals in seinem Läuferleben wollte er einen Halbmarathon unter 100 Minuten laufen, in Köln. Der Schwager konnte nicht, da er am Abend zuvor zu einem Polterabend eingeladen war. Des Kenianers Hinweis auf den großen Steffny ("Einen Halbmarathon kann man zur Not auch verkatert laufen") ließ der Schwager nicht gelten.
So wagte der Kenianer alleine den Weg in die fremde Stadt, und tatsächlich: Die 100 Minuten fielen. Jetzt war Zeit, die Füße hochzunehmen und die verlorenen Gewichtsreserven in langen und kalorienreichen Oktoberabenden vor dem Fernseher aufzufüllen. Der Kenianer richtete sich auf einen Monat des Nichtstuns und der Familienpflege ein, als eines Abends das Telefon läutete. Der Schwager.
"Ich will dieses Jahr noch einen Marathon laufen!"
Kenianer: "Du spinnst, hast du mal auf den Kalender geguckt?"
Schwager: "Ganz hier in der Nähe ist einer, im Dezember. Ich kann problemlos hinkommen."
Kenianer: "Viel Spaß dabei."
Schwager: "Werd' ich haben."
Ende des Gesprächs.
Kopfschüttelnd sank der Kenianer zurück in seinen roten Fernsehsessel und wendete sich dem Fernseher zu. Nach den zwei Schalen mit Nüsschen folgte der nächtliche Alptraum: Ein ranker Schwager zeigte auf des Kenianers Lieblingstriathlon im westfälischen Bocholt ein ums andere Mal die Fersen. Womöglich würde Schwager ihm beim Überrunden noch aufmunternde Kommentare zurufen, ihm ein Powergel anbieten, oder den Kenianer auf seiner Schlussrunde begleiten und ihn schamlos belügen mit Sätzen wie "Du siehst gut aus".
Schweißgebadet wurde der Kenianer wach. Er ächzte: "Der Schwager läuft mir weg! Er ist schneller als ich."
"Ach was, Kenianer", entgegnete seine Frau. "Er wird wie jedes Jahr im Winter fett und beginnt erst im Mai wieder mit dem Training." Das Weib wusste nichts von den winterlichen Marathonplänen. Nach einer unruhigen Nacht und einem Tag voller Sorge und Selbstzweifel fand der Kenianer sich abends im Kreise der Familie wieder. Aber es war nicht wie sonst.
"Mama. Warum isst der Kenianer heute so wenig Nudeln?", fragte das Kind.
"Keine Ahnung, frag' ihn doch selber!", sagte die Frau.
"Papa, warum isst du so wenig Nudeln?", fragte das Kind.
"Ich muß auf mein Gewicht achten, mein Sohn", erklärte der Kenianer.
"Aber es ist doch Oktober, Kenianer! Warum musst du jetzt auf dein Gewicht achten?", fragte die Frau.
"Ach, nur so", sagte der Kenianer.
Der Sohn war im Bett, das Weib im Bade, der Kenianer stahl sich in die Weiten des Internets. Marathons im Dezember, da gab es nicht viel. Nur einen, mit beeindruckendem Höhenprofil. Schon landete des Kenianers Pfeil auf der Anmeldung. Nein, das ist verrückt, dachte er sich. Im Dezember einen Marathon, noch dazu in einer Gegend, bekannt für Schnee- und Graupelschauer in der Vorweihnachtszeit. Seine Form war zwar gut, aber einen Marathon schüttelt auch der Kenianer nicht einfach aus der Hüfte. Fünfmal gestartet und nur dreimal angekommen war seine Bilanz. Und wer möchte im Dezember schon zwei Zentner über annähernd 700 Höhenmeter wuchten? Stand da nicht etwas von Feld- und Wirtschaftswegen, auf denen zu laufen wäre? Nein, nein, das ist alles nichts für unseren Kenianer.
Rasch noch einen Blick auf die Meldeliste. Und da stand er: "Pjotr Prokrastionator", der Kampfname des Schwagers. Kenianers Puls begann zu rasen. Das Weib ließ schon dass Badewasser aus. Jetzt musste es schnell gehen. Name, Vorname, Adresse, Bankverbindung notiert, Überweisung klargemacht. So schnell geht das im Netz. Geschafft. Erleichtert atmete er auf. Jetzt kann ja nichts mehr schiefgehen. Er ist dabei.
Das Weib trat ein.
"Was hast du gemacht, Kenianer?" fragte sie, ohne Argwohn.
Sein Gesicht errötete ganz unkenianisch und er begann zu stammeln: "Äh, ich habe mich nur für einen Lauf angemeldet."
"Es ist Oktober. Es gibt keine nennenswerten Läufe mehr um diese Zeit in dieser Gegend!" sagte sie, die zwar keinen Ausdauersport betreibt, aber viel davon versteht.
"Ist ja auch nicht im Oktober. Ist im Dezember, eine relativ kleine Veranstaltung."
Die Brauen hoben sich, der Blick misstrauisch. "Rück' raus mit der Sprache. Wo bist du gemeldet?"
"Ach, nur der Siebengebirgsmarathon."
Und schon wurde nicht nur die Form, sondern auch die Ehe des Kenianers auf eine weitere große Probe gestellt.
Mann gegen Mann
Martinslauf im Hasseler Forst: Peter Patella hatte sich vorgenommen, einfach nur so zu laufen, entspannt, eins mit sich und der Welt. Doch dann fiel der Startschuss - und alles kam anders als geplant.
Der Martinslauf im Hasseler Forst ist ein Wettlauf mit sympathisch provinziellem Charme. Zweitausend Teilnehmer verteilen sich auf Distanzen von Nordic Walking bis Halbmarathon. Für mich sollte es nur ein lockerer Halbmarathon werden.
Es ist kalt und nieselt. Ein fieser Herbsttag. Der Boden voller Pfützen, Laub verdeckt den Blick auf die zahlreichen Stolperfallen des Waldes. Ich hatte mir einen Lauf wie aus der Jever-Reklame vorgenommen: "Keine Hektik, keine Termine. Wie das Land, so der Läufer." Für mich hieß das: "Keine Bestzeiten, keine Plazierungen, kein Laktat. Einfach nur laufen." Um mich herum grimmig entschlossene Athleten. Keine gefühlsduseligen Selbstverwirklichungsläufer, keine Ganzkörperkompressionsanzüge, keine Sambagruppen und Babyjogger und vor allem keine hektischen Firmenstaffelläufer. Im Kopf hatte ich einen lockeren Kilometerschnitt und den Vorsatz, nach dem Wettkampf noch lange auszulaufen, um so Kilometer für den Marathon zu fressen.
Kein nervöser Durchfall vor dem Start. Ich bin die Ruhe selbst und freue mich auf einen stressfreien Lauf. Genauso entspannt wie unsere Sonja Oberem, eine ehemalige Olympia-Starterin im Marathon, die sich als Hobbyläuferin die Ehre gibt.
Der Startschuss fällt. Und mit dem Passieren der Startschleuse sind meine sämtlichen Entspannungsgedanken dahin. Getreu dem Motto: "Wo mehr als ein Mann in eine Richtung läuft, beginnt ein Wettrennen", nehme ich die Beine in die Hand. Es fühlt sich gut an. Das Tempo ist bestimmt gar nicht so hoch. Da geht noch was. Außerdem ist da dieser Kerl mit dem eigenwilligen Bart, den werde ich keineswegs ziehen lassen. Nach einem Kilometer der Kontrollblick zur Zwischenzeit: 23 Sekunden schneller als geplant. Was soll ich tun? Langsamer werden? Niemals. Den Bärtigen, der eh schon enteilt, noch weiter ziehen lassen? Quatsch! Habe ich als Mann nicht die Pflicht zum Exzess? Habe ich früher ein Bier stehengelassen, weil es mir am nächsten Tag vielleicht schlecht gehen könnte? Bin ich Ampelrennen aus dem Weg gegangen? Was zählt schon das Morgen. Hier und jetzt entscheidet sich das Leben.
Kilometer zwei fliegt heran, wieder gleicher Schnitt. Drei und vier sind sogar noch etwas schneller, und die Beine bleiben locker. Schon beginnt das alte Kopfrechenspiel. Wie wird die Endzeit, wenn ich so weiterlaufe? Ist sogar eine neue Bestzeit drin? Ein kleiner Rest Vernunft in meinem testosterongeschwängerten Organismus hält mich von einem Angriff auf die Bestzeit ab. Deshalb bleibt der Schnitt wie er ist. Pock, pock, pock: Mit der Regelmäßigkeit eines Uhrwerks passiere ich die Kilometerschilder. Tatsächlich schaffe ich es, dass von den 21 Kilometerzeiten 15 innerhalb einer Spanne von drei Sekunden liegen. Die letzten beiden Kilometer laufe ich dann sogar noch deutlich schneller.
Natürlich lasse ich mir den Endspurt nicht nehmen. Laktat gehört nun mal in Wettkampfläuferbeine. Sagte nicht schon der berühmte Arnie Schwarzenegger, dass der Muskel brennen muss, wenn er wachsen soll? Den Bärtigen habe ich tatsächlich noch eingeholt. Drei Kilometer vorm Ziel fliegt er mir entgegen. Das ist ein absolutes Runners-High-Erlebnis.
Nach Luft schnappend stehe ich im Zielbereich, trinke warmen Orangentee und bin euphorisch. Was gibt es Schöneres beim Laufen, als seine eigenen Erwartungen zu übertreffen? Wenn man schnell angeht, immer damit rechnet, demnächst einzubrechen und am Ende doch noch die Kraft hat zuzulegen? Was nützt die Lauferei schon, wenn sie nicht zu Siegen führt, am besten über sich selbst.