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KREIDLER Acht Gänge sind genug

aus DER SPIEGEL 35/1962

Im Fachjargon wurden die kreischen« den Neuschöpfungen als »Schnapsglasklasse« eingestuft. »Endlich«, jubelte die »Stuttgarter Zeitung«, »haben wir einmal wieder eine Weltmeisterschaftschance in einer Solomaschinen-Klasse.«

Der Optimismus galt einem hochtourigen Einzylinder-Zweitaktmotor

dem kleinsten Rennmotor, der je in einer Motorrad-Weltmeisterschaft für deutsche Interessen eingesetzt wurde. Sein Hubraum beträgt 50 Kubikzentimeter

- kaum mehr als der Inhalt eines gut

eingeschenkten Schnapsglases.

Erbauer des Mini-Motors und eines entsprechenden, strömungsgünstig verkleideten Fahrgestells sind die Kreidler-Motorradwerke in Kornwestheim. Sie sind die ersten deutschen Motorradwerke, die sich seit dem Rückzug von NSU aus der Renn-Arena wieder mit einer offiziellen Fabrikmannschaft an internationalen Rennen beteiligen. Kreidler startet nur in der 50-Kubikzentimeter-Klasse, die in diesem Jahr zum erstenmal für die Weltmeisterschaft gewertet wird*.

Bisher wurden Weltmeisterschaftsläufe nur für die Soloklassen bis 125, 250, 350 und 500 Kubikzentimeter und in der Seitenwagenklasse abgehalten. In den Soloklassen waren einst die deutschen Marken NSU, DKW und BMW ebenso erfolgreiche wie gefürchtete Teilnehmer.

Da sich jedoch sämtliche deutschen Motorradwerke vom Rennsport zurückzogen, hatten deutsche Solofahrer bei den Weltmeisterschaften seit Jahren nichts zu bestellen.

Allein in der Seitenwagenklasse er, wies sich die 500er BMW, freilich von sogenannten Privatfahrern gefahren, bis heute Jahr für Jahr als stärkste und erfolgreichste Maschine; erst vor kurzem sicherte sich der deutsche BMW -Fahrer Max Deubel mit seinem Partner Emil Hörner zum zweitenmal nacheinander die Weltmeisterschaft dieser Klasse.

Von ähnlichen Erfolgen begannen die Kreidler-Leute in Kornwestheim zu träumen, als sie erkannten, daß eine vom »Internationalen Motorsport -Verband« (FIM) geplante Erweiterung der Weltmeisterschaft um eine Kleinstklasse genau in ihr normales Produktionskonzept passen würde.

Auf der Basis ihres seit 1956 mit beachtlichem Markterfolg gefertigten Konsum-Kleinkrads »Florett« mit 50 -Kubikzentimeter-Motor entwickelten sie

eine Kleinst-Rennmaschine. Freilich vorerst nicht zum eigenen Gebrauch. Sie schickten sie einem Renn-Fan in Portugal. Er war mit der Maschine bei örtlichen Rennen derart erfolgreich, daß die Kreidler-Konstrukteure alsbald neue, verbesserte Kleinst-Renner entwarfen. Ein Kreidler-Rennstall entstand; er hatte auf Anhieb Erfolg.

Im Wettbewerb um den »Europapokal«, in dem die FIM-Sportkommissare die inzwischen, in verschiedenen Ländern entstandenen 50-Kubikzentimeter-Rennmaschinen im vergangenen Jahr erstmals zusammenfaßten, erwies sich das Kreidler-Rad als überlegen.

Kreidler-Spitzenfahrer Hans-Georg Anscheidt schlug in Holland, Belgien, Jugoslawien und Deutschland alle Konkurrenten und gewann den Pokal. Nach dieser erfolgreichen Generalprobe gaben die Sportkommissare den Rennzwergen für die Weltmeisterschaft 1962 den Start frei.

Kreidler hatte sich mit ähnlicher Sorgfalt wie früher BMW oder NSU auf die Rennen vorbereitet. Die Fachzeitschrift »Das Motorrad« stellte sogar fest, »daß es nach dem Kriege in der Bundesrepublik bei keinem Fabrikrennstall derartig wunderbar hergestellte Straßenrennmaschinen gab wie jetzt im Kreidler-Rennstall«.

Die Leistung seiner winzigen Einzylinder hielt Kreidler streng geheim. Doch sickerte in Fachkreisen durch, daß der Kreidler-Rennmotor aus nur 50 Kubikzentimeter Hubraum die ungewöhnlich hohe Leistung von neun bis zehn PS abgibt. Die Drehzahlen sollen dafür bis zu 12 000 Kurbelwellenumdrehungen pro Minute betragen, damit aus dem geringen Hubraum die erwünschte Höchstleistung gewonnen werden kann.

Damit die Kreidler-Rennfahrer unter allen Streckenbedingungen mit der günstigsten Drehzahl und mithin der höchstmöglichen Leistung über die Pisten rasen konnten, versahen Kreidlers Konstrukteure die Maschinen mit komplizierten Zwölfganggetrieben (im Rennmaschinenbau waren bisher fünf oder sechs Gänge üblich).

Bei Windkanalversuchen ermittelten Kreidlers Techniker sodann noch strömungsgünstigere Verkleidungen, als Kreidler sie im vergangenen Jahr bei den Rennen um den Europapokal verwendet hatte. Dadurch konnten sie die Höchstgeschwindigkeit der Maschinen noch um rund acht Stundenkilometer steigern.

So vorbereitet, vermochte die Renn-Kreidler eine Höchstgeschwindigkeit von 142 Stundenkilometern zu erreichen. Tatsächlich siegte Kreidlers Spitzenfahrer Anscheidt beim ersten Wertungslauf (am 6. Mai in Barcelona), der Kreidler-Fahrer Huberts beim zweiten Rennen (am 13. Mai in Clermont -Ferrand, Frankreich).

Inzwischen ist jedoch aus Japan ein Konkurrent aufgetaucht, der Kreidlers Hoffnungen auf frischen deutschen Motorradruhm zunichte zu machen droht. Vier weitere Wertungsrennen, die in diesem Jahr bislang stattgefunden haben, gewann eine Maschine der Marke »Suzuki"*.

Die mit Zweitaktmotor und Achtganggetriebe ausgestattete siegreiche Maschine ist zwar nicht leistungsfähiger als Kreidlers Schnapsglasrad. Doch die Japaner haben bedacht, was Kreidler außer acht ließ: daß nicht allein die beste Maschine, sondern auch der beste Fahrer benötigt wird.

Das Renn-As haben sich die Japaner aus Deutschland geholt: den ehemaligen DDR-Champion Ernst Degner.

* Die Motorrad-Weltmeisterschaft 1962 ist in fünf Soloklassen (bis 50, 125, 250, 350 und 500 Kubikzentimeter Hubraum) und eine Seitenwagenklasse (bis 500 Kubikzentimeter) unterteilt. Sie umfaßt elf Läufe, von denen pro Fahrer die sechs besten Resultate nach einem Punktsystem gewertet werden. Wie bei der Rennwagen-Weltmeisterschaft handelt es sich nicht um eine Marken, sondern um eine Fahrer-Weltmeisterschaft.

* Am 8. Juni auf der Insel Man (England): am 30. Juni in Assen (Holland); am 8. Juli in Spa (Belgien); am 15. Juli in Stuttgart:

Kreidler-Fahrer Anscheidt

Ruhm für Deutschland

Suzuki-Fahrer Degner

... in der Schnapsglas-Klasse?

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