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Alles anders

Im Sowjet-Sport ging es 1983 drunter und drüber. Es wurden mehr Funktionäre und Trainer gefeuert als in den zehn Jahren zuvor. *
aus DER SPIEGEL 52/1983

Die »Prawda« grollte über das »traurige Bild«, das die Fußball-Nationalmannschaft geboten habe: »Das Spiel der Sowjets war ärmlich.«

Kurz nachdem die UdSSR das kritisierte Spiel 0:1 gegen Portugal verloren hatte und damit in der Qualifikation zur Europameisterschaft 1984 gescheitert war, trat Cheftrainer Walerij Lobanowski zurück. Die Krise im sowjetischen Sport hatte den Fußball eingeholt, das liebste Kind der Sowjet-Fans neben dem Eishockey.

Rückschläge im Fußball und im Eiskunstlauf, im Schwimmen, in der Leichtathletik und im Rudern versetzten die Sportbürokraten in Moskau angesichts des bevorstehenden Olympia-Jahres in Panik. Eine Wende hofften sie von der Spitze her einzuleiten.

Im Januar hatte die Regierung der UdSSR ihren Sportchef Sergej Pawlow, 54, in die mongolische Steppe geschickt. Der Vorsitzende des Komitees für Körperkultur und Sport beim Ministerrat der UdSSR, mehr als ein Behördenchef, etwas weniger als ein Minister, flog als Botschafter nach Ulan Bator; dorthin war vor ihm einst der entmachtete Außenminister Molotow verbannt worden.

Das Entlassungs-Kommunique warf Pawlow »unsozialistischen Lebensstil« vor, eine Umschreibung des Vorwurfs der Korruption. Die Anklage paßte zum Feldzug, den Parteichef Andropow gegen Bestechlichkeit auf allen Ebenen eröffnet hatte. Darüber stürzte ebenfalls der Direktor des Moskauer Sportpalastes, der für umgerechnet 50 000 veruntreute Mark mit zwölf Jahren Arbeitslager büßt.

Nebengewinn kann indes nicht der einzige Grund gewesen sein, daß der sowjetische Sportchef nach 15 Jahren alle Ämter einbüßte. Zusätzlich machten die Sowjetführer Pawlow offenbar für zwei strategische Niederlagen verantwortlich. Der trinkfeste Funktionär hatte die Kooperation im Weltsport vorangetrieben. Er unterhielt enge Wettkampfbeziehungen zu den USA und leitete mit der Bundesrepublik einen weitergehenden Sportaustausch ein, als er zwischen den beiden deutschen Staaten besteht.

Dennoch boykottierten Amerikaner und Bundesdeutsche 1980 die Spiele in Moskau. Außerdem kappte das Internationale Olympische Komitee (IOC) gegen den Widerstand der UdSSR restliche Wettbewerbsvorteile der Staatsamateure im sozialistischen Lager.

Das IOC änderte seine Zulassungsbedingungen und gestattete allen Amateuren, ihre Leistungen durch Prämien oder Werbeverträge zu vergolden. Leichtathleten kassieren seit 1983 bei offiziell anerkannten Preissportfesten je nach Leistung. Sowjet-Athleten durften jedoch an westlichen Prämien-Sportfesten nicht teilnehmen.

Nicht einmal der Ostblock folgte dem großen Bruder geschlossen. Polen und Ungarn starteten bei einigen Preisveranstaltungen, Budapest organisierte sogar bezahlte Wettkämpfe. Die DDR mied zwar alle Prämienrennen. Aber der DDR-Verband schloß namens seiner Olympiasiegerin Marita Koch und der Sprint-Weltmeisterin Marlies Göhr Werbeverträge mit dem Schokoladenhersteller Ferrero ab.

Die Sowjets schränkten den Sportverkehr mit den westlichen Partnern ein und steuerten gelegentlich sogar Konfrontationskurs. Als einzige Ostblockmannschaft sagte die UdSSR ihre Teilnahme an den vorolympischen Testkämpfen der Ruderer und Kanufahrer sowie der Bogenschützen bei Los Angeles ab. Auch

bundesdeutsche Sportfreunde wurden von den Sowjets handfest aufs Kreuz gelegt: Bei der Anreise zur Weltmeisterschaft in Kiew filzten Zöllner die Ringermannschaft, die besonders intensive Kontakte zur UdSSR pflegte, bis zur Leibesvisitation; sie beschlagnahmten 20 Videobänder mit Ringkampfszenen. Auf der Rückreise konfiszierten die Sowjet-Organe 500 Mark aus der Reisekasse.

In Hamburg erwartete das Eishockey-Team des HSV wiederum einen sowjetischen Star, Jurij Lebedew, nachdem sowjetische Gastspieler die Mannschaft schon in die Zweite Bundesliga geschossen hatten. Die deutsche Vertriebsfirma des sowjetischen Automodells Lada stieg als Sponsor ein und verpaßte den HSV-Spielern zur Hebung des Exports Trikots mit ihrem Markenzeichen. Dennoch durfte Lebedew seinen Vertrag nicht erfüllen.

Für den Kurswechsel ist der neue Sportchef Marat Wladimirowitsch Gramow verantwortlich. Mit einer sowjetischen Delegation hatte er, wenn auch sprachlos außer auf russisch, schon die Bundesrepublik besucht. Er war damals stellvertretender Leiter der Abteilung Propaganda des ZK der KPdSU.

Im russischen Nationalsport Schach führte die neue Politik der Stärke zu einem Eigentor. Unter Vorwänden hatten die Sowjets das Kandidaten-Vorfinale zur Weltmeisterschaft platzen lassen. Großmeister Garri Kasparow ließ den Unionsflüchtling Wiktor Kortschnoi sitzen, und Wassilij Smyslow versetzte den Ungarn Zoltan Ribli.

Doch der Weltschachverband erklärte die spielbereiten Gegner zu Siegern. Da lenkten die Sowjets ein. »Es wird bedauert«, telegraphierte der sowjetische Schachpräsident Witalij Sewastjanow nun, ein früherer Kosmonaut, »daß Polemik die fruchtbare und konstruktive Zusammenarbeit« gestört habe. Die UdSSR »zieht ihren Protest zurück« und bat um neuerliche Spielansetzung. Gramow hoffte telegraphisch, daß »ein Mißverständnis«, wenn auch »von grundsätzlichem Charakter«, nicht die »Perspektive der Zusammenarbeit beeinträchtigen« möge. Kasparow und Smyslow siegten.

In anderen beliebten Sportarten schreckte zunehmender Medaillenmangel Fans und Führung auf. Im Eiskunstlauf, einer sonst außerordentlich medaillenträchtigen Sportart, rutschten die Sowjets vom Goldpodest. Cheftrainer Stanislaw Schuk mußte gehen. Die Fachzeitung »Sowjetski Sport« warf ihm »ungehöriges Benehmen« und die »Verletzung moral-ethischer Normen« vor, Floskeln für den Hang zum Alkohol und zu Affären, außerdem »Verschlechterung des Trainings der Athleten vor internationalen Aufgaben«.

Auch die Ruderer ernteten bei ihrer WM kein Gold mehr. Der Sowjet-Vierer ohne Steuermann verlor gegen den spurtstarken Bundes-Vierer. Die Ruderinnen, die 1982 noch fünf von sechs möglichen Siegen erkämpft hatten, ergatterten gerade zwei Titel. Im Endspiel der Europameisterschaft fanden auch die sowjetischen Volleyballerinnen in der DDR ihren Meister.

Am tiefsten stürzten die Leichtathleten. 15 Siege beim Moskauer Olympia 1980 und 40 von 114 möglichen Medaillen hatten einen hohen Maßstab gesetzt. Im bedeutendsten olympischen Sport übertrumpfte jedoch bei den Europameisterschaften 1982 außer der DDR (13 Siege) auch die Bundesrepublik (8) die UdSSR (6). Anschließend feuerten die Funktionäre vier Trainer, darunter den einstmaligen Dreisprung-Medaillengewinner Witold Krejer.

Nun scheiterten bei den Weltmeisterschaften 1983 auch die sowjetischen Dreispringer, die alle internationalen Wettbewerbe lange beherrscht hatten. Zwei überstanden nicht einmal die Qualifikation, der dritte verfehlte den Endkampf der besten acht.

Aber auch die fast unbesiegbaren Mittelstrecken-Läuferinnen wurden von der Amerikanerin Mary Decker abgehängt. Werfer und Stoßer versagten bis auf den Hammerwerfer Sergej Litwinow. Der lümmelte sich bei der Siegerehrung, die Hände in den Taschen, auf dem Siegerpodest, bis ihn die Fans auspfiffen. Er roch nach Alkohol. Die Mannschaftsleitung schickte ihn unverzüglich nach Hause.

»Es fehlte der Wille zum Sieg«, rügte die »Istwestija«, und »es gab keine kämpferischen Qualitäten«. Mit einem beispiellosen Strafgericht entließ die sowjetische Sportführung weitere fünf Staatstrainer, darunter den früheren Speerwurf-Olympiasieger Janis Lusis, »weil sie schlechte Arbeit geleistet und die Athleten nicht zur rechten Zeit in Bestform gebracht« hätten. Dazu schlossen sie sieben Athleten lebenslang aus.

Verglichen mit dem Wellental bei Schwimmern und Leichtathleten stolpert der Sowjet-Fußball seit Jahren. 1983 verhinderten die Polen eine Qualifikation der Sowjets für die Europameisterschaft 1984. Sie verloren gegen Portugal, trotzten der UdSSR jedoch ein 1:1 ab. Die Sowjetmannschaft hätte den Vorstoß in die Endrunde nur noch durch einen Sieg in Lissabon gegen Portugal schaffen können. Doch es fehlte, wie so oft, der Angriffsschwung. Cheftrainer Lobanowski resignierte; es war der 21. Trainerwechsel seit 1952.

Auf einschneidendere Änderungen bereitete möglicherweise ein Artikel in der »Literaturnaja gaseta« vor: »Beim ständigen Wechsel der Trainer der Nationalmannschaft vergessen wir meistens, daß auch sie von jemandem auf ihre Posten gesetzt wurden.«

Das gegenwärtige Betriebsklubsystem habe versagt, weil die Spieler ohne Rücksicht auf Erfolg oder Mißerfolg aus der Werkskasse bezahlt würden. Nach dem Beispiel Ungarns verlangte Jurij Rost, einer der bekanntesten Sportjournalisten in der UdSSR: »Die Bezahlung der Spieler müßte, abhängig von ihrer Leistung, in einem Vertrag festgelegt werden.« Der Verband möge zudem Berufsschiedsrichter einsetzen und diese den Justizbehörden unterstellen.

Dem Nachfolger des zurückgetretenen Cheftrainers Lobanowski steht das erste Länderspiel am 28. März 1984 bevor. Gegner ist eine zuletzt kaum erfolgreichere Mannschaft - Jupp Derwalls Bundesequipe.

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