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RADSPORT »Alte Möhren aus dem Keller«

Als Jan Ullrich die Tour de France gewann, glaubten viele an einen Boris-Becker-Effekt auf zwei Rädern. Inzwischen macht sich in Vereinen und Fahrradgeschäften Ernüchterung breit - zumal der schüchterne Vorzeigeprofi die Weltmeisterschaften in San Sebastian schwänzt.
Von Jan Ludwig
aus DER SPIEGEL 41/1997

Beinahe täglich erhält der Hamburger Gebrauchtwagenhändler Wolfgang Strohband Bittgesuche aus dem deutschen Fernsehwesen. Schreinemakers, Kerner und Schmidt sprachen schon vor, Günther Jauch wollte ihm gar »als erstem« seine neue Telefonnummer verraten - wenn sie denn ins Geschäft kämen.

Strohband hat bislang alle Medienanfragen abschlägig beschieden. Er kann es sich leisten. Denn im Nebenberuf hat er den attraktivsten Job, den das deutsche Sport-Business derzeit zu vergeben hat: Der Autoverkäufer vertritt Jan Ullrich als Manager, und wenn er über die letzten Jahre nachdenkt, klappt der fast kahlköpfige Geschäftsmann gelassen seine schmale Lesebrille auf und zu. »Früher«, sagt er dann, sei er als Ullrich-Förderer »ein Bettler gewesen, heute kommen alle auf mich zu und wollen was«. Allein während der Oderflut hätten 28 Hilfsorganisationen den Radstar zu gern als Spenden-Promotor verpflichtet.

Keine Frage: Der fiebrige Sommer mit Ullrichs Tour-de-France-Sieg hat die Verhandlungsbasis von Grund auf geändert. Drei Millionenverträge mit Nestlé, Adidas und Tag Heuer sind unterzeichnet, drei weitere mit der Telekom, einem Computer- und einem Pharmaunternehmen sollen folgen. Nebenbei kassierte Ullrich nach der Frankreich-Rundfahrt in 17 Tagesrennen, bei denen ihm zwischen Hamburg und Nürnberg Hunderttausende enthusiasmiert zujubelten, eine weitere Dreiviertelmillion.

Doch gibt es damit in Deutschland, wie das Fachmagazin SPORTS schlagzeilte, tatsächlich »eine Wiedergeburt des Radsports«? Hat die um Ullrich entstandene »Euphorie einen Boom« entfacht, wie Manfred Böhmer, Präsident des Bundes Deutscher Radfahrer (BDR), frohlockt?

Strohband, der nach eigenen Angaben rund 300 000 Mark in die Ausbildung von Ullrich und dessen ehemalige Kollegen bei der RG Hamburg investiert hat, ist eher skeptisch. Auch er befürchtet, daß die vermeintliche Radsport-Hausse nicht mehr darstellt als eine Jan-Ullrich-Hysterie. Gut möglich, daß der konzeptlos-lethargische Verband die Gunst des neuen Vorbilds ebenso verschläft wie vor Jahren die Basketball-Funktionäre, die den überraschenden Gewinn der Europameisterschaft nicht zu nutzen vermochten. Strohband: »Wenn wir jetzt nicht die Welle nutzen, wird's mit dem Radsport nie was in Deutschland.«

Denn anders als noch vor zwölf Jahren, als Boris Becker mit seinem Wimbledon-Sieg die Leute in die Tennisclubs trieb, folgte dem Fernseh-Event keine Massenbewegung. »Die Begeisterung führte nur dazu, daß einige Leute ihre alten Möhren aus dem Keller geholt haben«, hat der ehemalige Rad-Bundestrainer Siegward Lychatz beobachtet, »auch der Einsatz von Rudolf Scharping macht aus Deutschland keine Radsportnation«. In Ullrichs ehemaligem Hamburger Verein registrierte Strohband seit Juli lediglich 15 Neuanmeldungen - allesamt gestandene Herren, die ihren Bauch wegstrampeln wollten.

Sicher, es gibt Ullrich-Gewinnler: Besonders durch die Einschaltquoten von der Tour erreichte die ARD im Juli erstmals seit einem Jahr wieder bessere Marktanteile als die private Konkurrenz. Und mit rund 4000 Minuten Präsenz auf dem Bildschirm erlebte die Telekom eine Art Urknall des Sponsorings.

Andererseits wartete die Fahrradindustrie vergebens auf den Ullrich-Effekt. »Ich habe kein Rennrad mehr verkauft als im Jahr zuvor«, berichtet der zweimalige Olympiafahrer Hans Michalsky, der in Erkrath bei Düsseldorf ein Radgeschäft betreibt. Immerhin gebe es »vermehrt Leute, die ihr verstaubtes Rad aufrüsten lassen«.

Nun hofft die darbende Zweiradbranche auf das nächste Jahr, nachdem die Trendforscher eine Kehrtwende vom Mountainbike zum Rennrad festgestellt haben. Um ein Viertel waren die Verkaufszahlen in den letzten vier Jahren weggeknickt. Die schnellen Flitzer sollen das gesamte Geschäft nun anschieben.

Eine »Verdopplung der Mitgliederzahl«, wie sie BDR-Chef Böhmer mit Blick auf den einstigen Tennis-Aufschwung erwartet, scheint Experten jedoch arg übertrieben. Entgegen den achtziger Jahren, als ehrgeizige Eltern ihre Kinder drängten, Tennis-Millionär Becker nachzueifern, zeigt sich die Jugend radsportresistent. »Sich wie Ullrich in den Alpen zu quälen«, sagt der Paderborner Sportwissenschaftler Wolf-Dietrich Brettschneider, »paßt nicht in unser kulturelles Verständnis.«

Die Kids, so belegen Studien von Brettschneider, suchen im Sport Spaß und Geselligkeit. Siege und Anstrengung zählen nur am Rande. Radsport dage- gen bedeutet vier bis sechs Stunden tägliches, oft einsames Kilometerbolzen. Als »äußerst schwierig« empfindet deshalb Horst Felisiak, erfolgreicher Jugendtrainer im rheinischen Büttgen, die Nachwuchssuche. Nur ein Viertel der Anfänger würden bei der Stange bleiben: »Daran hat auch der Trubel um Ullrich bisher nichts geändert.«

Zwei weitere Umstände erschweren den Aufschwung. Es gibt kaum geeignete Straßen zum Training, weil das Auto immer noch Vorfahrt auf dem Asphalt genießt. Zudem kostet die Ausrüstung zwischen 2500 und 3000 Mark - vielen Eltern ist diese Investition zu hoch, zumal der alte Arbeitersport trotz Ullrich nicht das Sozialprestige von Tennis erreicht.

Auch als Vorbild ist der gebürtige Rostocker nur bedingt tauglich. Jugendliche werden ihm als Straßenfahrer nacheifern wollen. Daß Ullrich seine in den Bergen so überragende Technik und Kondition im Holzoval geschult hat, ist kaum zu vermitteln. »Der Bahnradsport gerät dadurch noch mehr ins Hintertreffen«, prophezeit Altmeister Gustav Kilian.

Die Crux liegt im System: Weil der BDR Geld aus Bonn primär für seine Erfolge auf der Bahn bekommt, sind die Millionen vom Steuerzahler in Gefahr. Wenn alle nur auf die Straße wollen, sagt Sportwissenschaftler Lychatz, blute die Nachwuchsförderung aus: »Die Profiställe wollen kassieren, nichts in die Ausbildung stecken.«

Wie fragil das Verhältnis zu den Geldgebern ist, mußte der Verband im letzten Jahr erkennen. Damals stritten Präsident und Telekom-Leute lautstark, weil sich der BDR weigerte, Ullrich für die Olympischen Spiele zu nominieren. Nach dieser peinlichen Szene kündigte Telekom den Vertrag, adäquaten Ersatz hat der Verband nicht gefunden.

So tun sich die Funktionäre schwer mit der Verwertung des Ullrich-Jubels. Außer PR-Aktionen zur Aufbesserung der Mitgliederstatistik hat der BDR bisher noch kein Konzept entwickelt, wie er die Sogwirkung zu nutzen gedenkt - eine Schläfrigkeit, die dem Verband schon in der Dopingbekämpfung ein negatives Image eingebracht hat.

Zwar geben sich die Verbandsherren gern als »größte Vorreiter« in der Dopingbekämpfung. Doch als der Kölner Jörg Paffrath im SPIEGEL (25/1997) die Chemiegläubigkeit der Branche beschrieb, wurde dieser als Wichtigtuer denunziert, weil er sich geweigert hatte, ehemalige Mannschaftskameraden anzuschwärzen. Als Strafe für sein Bekenntnis will ihm der Verband nun die Fahrerlizenz abnehmen.

Diese Doppelzüngigkeit des BDR hat das neue Idol in Bedrängnis gebracht. Als eine Schweizer Boulevardzeitung den Tour-Sieger vor drei Wochen in eine dubiose Dopinggeschichte verwickelte, stellte sich heraus, daß von Ullrich, so wie behauptet wurde, keine positive Kontrolle vorliegen konnte: Der BDR hatte es versäumt, den Rennfahrer auf Doping zu überprüfen.

Auf diese Weise bekam das Bild vom sauberen Jan unnötigerweise Kratzer. »Einem gedopten Helden würden die Deutschen nicht verzeihen«, sagt Lychatz, der Ullrich vorwirft, seiner Vorreiterrolle nicht gerecht zu werden. Statt in dieser Woche an den Weltmeisterschaften teilzunehmen, erhole sich Ullrich von der lukrativen Tingeltour: »Es hilft kein Schönreden: Der drückt sich.«

Dieser Verzicht schadet auch Ullrichs Marktwert. »Wer im Sportgeschäft erfolgreich sein will«, weiß Michael Spatz, Merchandising-Manager von Michael Schumacher, »dem reicht kein dreiwöchiger Boom, der muß das ganze Jahr präsent sein.«

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