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An die Friedhofsmauer

Im Herbst führte Rot-Weiß Essen noch. Nun droht dem früheren Deutschen Meister der Abstieg aus der Bundesliga.
aus DER SPIEGEL 21/1971

»Lauter Herzattacken«, stellte Dr. Josef Bernhard bei fünf Männern fest und schickte sie ins Offenbacher Stadtkrankenhaus. Sie waren Opfer des Abstiegskampfes der Offenbacher Kickers gegen Rot-Weiß Oberhausen.

Offenbach siegte 3:2. Vorsitzender Horst Gregorio Canellas verschwand mit dem Oberhausener Klubboß Peter Maaßen in ein Nebenzimmer: »Dort können wir uns erholen.« Doch fünf Klubs, darunter Rot-Weiß aus Oberhausen sowie die Deutschen Altmeister Eintracht Frankfurt und Rot-Weiß Essen, stehen im spannendsten Abstiegskampf seit Gründung der Bundesliga unter Dauer-Druck.

Die Essener Klubherren verdrängten ihre Angst vor dem Abstieg mit starken Worten. »Darüber reden wir nicht«, versicherte Günther van Almsick, obwohl Rot-Weiß gerade 2:7 verloren hatte. Als Trainer Herbert Burdenski doch davon redete, wurde er entlassen, fünf Tage nachdem sein Vertrag bis 1972 verlängert worden war. Er kassiert 75 000 Mark Abfindung.

Der »Rauswurf erster Klasse« ("NRZ« Essen) gilt bei bedrohten Bundesligaklubs stets als letztes Mittel. Doch wie jetzt das Münchner Institut »Infratest« bei einer Umfrage über die Gründe des Zuschauerschwundes ermittelte, verprellen auch häufige Trainerentlassungen die Fans.

Vor Burdenski hatte sich seit 1963 bereits für 43 Fußball-Lehrer die Trainerbank als Schleudersitz erwiesen, Die bedrohten Offenbacher beschäftigen in dieser Saison schon den dritten Trainer, 1970 verschlissen sie sechs. »Wer vom Abstieg spricht, gehört nicht zu uns«, gab beim gefährdeten Klub Rot-Weiß Oberhausen Trainer Alfred Preißler Durchhalteparolen aus. Seine Mannschaft rutschte auf den letzten Platz ab. Jetzt gehört er selbst nicht mehr dazu.

Nachbar-Klub Rot-Weiß Essen hatte 1963 den Bundesligastart verpaßt. Der Pokalsieger von 1953 und Deutsche Meister von 1955 war kurz zuvor aus der Oberliga abgestiegen.

Der erfolgreichste Essener Stürmer, Helmut Rahn (Schlachtenbummler-Slogan: »An Gott kommt keiner vorbei -- außer Helmut Rahn"), der Deutschlands National- Mannschaft 1954 zur bislang einzigen Weltmeisterschaft verholfen hatte, wanderte zum Bundesligaanwärter 1. FC Köln ab. Da bot ein krummbeiniger und plattfüßiger Stürmer aus Kleve namens Willi Lippens, der Sohn eines Holländers, seine Tordienste in Essen an: für nur 120 Mark Monatslohn und 1000 Mark Handgeld.

Bereits 1966 schoß Lippens die Essener in die Bundesliga. Wegen seines Watschelganges riefen ihn die Fans »Ente«. Doch für die Bundesliga erwies sich Essens Mannschaft als zu schwach, sie stieg wieder ab. Trainer Fritz Pliska mußte gehen.

Nun durchforsteten die Essener Talentsucher weiter den holländischen Grenzraum nach Kickern wie Lippens. In Enschede fanden sie den Holländer Egbert-Janter Mors. Dazu kauften sie den süddeutschen Torjäger Walter Hohnhausen. Neuer Trainer wurde der frühere Nationalspieler Herbert Burdenski, 1969 kehrte der Klub in die Bundesliga zurück. Fast zwei Jahrelang blieb er auf dem vereinseigenen Platz au der Hafenstraße unbesiegt.

Doch im strengen Winter 1969/70 drohte neue Gefahr: Der über einer Kohlenzeche angelegte Platz hatte sich um mehr als fünf Meter gesenkt. Die Drainage schluckte das Schmelzwasser nicht mehr. Wochenlang fielen Essens Heimspiele aus und Rot-Weiß ans Tabellenende zurück. Mühsam behauptete sich Essen in der Bundesliga.

Im vergangenen Herbst schien Rot-Weiß sogar in den Titelkampf einzugreifen. Die Fans übten einen neuen Anfeuerungsruf ein: »RWE -- du bist heut o.k.« Beim Spiel gegen Bayern München schleuderte ein Anhänger ein Messer gegen Nationaltorwart Josef Maier. Acht Schulmädchen gründeten den »Willi-Lippens-Fan-Club«. Lippens selbst zählte zu den besten Torschützen der Saison.

Andere Vereine versuchten ihn abzuwerben. Hertha BSC bot mehr als 300 000 Mark Handgeld. Plötzlich erinnerten sich auch die Holländer an Lippens, der kaum ein Wort Holländisch spricht. Er spielte für Holland gegen Luxemburg und schoß ein Tor.

Verzweifelt versuchte der Klub, den teuren Spieler zu halten. Als Schulrektor und Präsident Ernst Ruhkamp ihn zu einer Aussprache bat, lehnte Lippens ab: »Ich muß erst mit den Berlinern reden.« Trainer Burdenski warnte: »Wir müssen Willi behalten, sonst reißen die Zuschauer das Stadion ab.« Vor Heimspielen riefen die Rot-Weiß-Anhänger: »Willi -- bleib hier.« Journalisten vertraute der Vielbegehrte an: »Wohin ich gehe, erkennt ihr daran, wo ich mein Haus baue.«

Es entstand in Essen. Mittlerweile hatten die Essener Stauder-Brauerei ("Sanitäts-Malz") und eine Pumpenfabrik einen Teil des Handgeldes von mehr als 300 000 Mark übernommen. Dafür sollte Lippens für Stauder-Biere und Pumpen werben. Um den Rest für Lippens zusammenzukratzen, hatte der Klub den Holländer ter Mors verkauft. Lippens verlängerte den Vertrag mit Rot-Weiß.

Doch nun siegten die Essener nicht mehr. Lippens war entweder verletzt oder er spielte schlecht. In der Mannschaft wuchsen Unstimmigkeiten. »Die andern mußten unters Sauerstoffzelt«, murrte Geschäftsführer Paul Nikelski, »als sie die Zahlen hörten.« Vor allem Torjäger Hohnhausen begehrte genausoviel Geld wie Lippens -- der als einziger auch dann Siegprämien erhielt, wenn die Mannschaft verloren hatte. Trainer Burdenski versuchte den Star in Schutz zu nehmen: »ich behandle alle wie meine Söhne.«

Als die zerstrittenen Kicker in Dortmund hoch verloren, entzogen die Klubherren Burdenski in Essen die Vaterrechte. Willi Vordenbäumen, ein Spieler aus der früheren Meisterelf, soll nun als Trainer die Mannschaft vor dem Abstieg retten, obwohl er keine Lizenz für die Bundesliga besitzt. Der pensionierte Essener Erfolgstrainer Willi Multhaup, 67, lehnte ein Angebot ab: »Erstens will ich nicht bis an die Friedhofsmauer trainieren, und zweitens arbeite ich nicht dort, wo Verträge gebrochen werden.«

Auch Lippens sorgte schon für den Abstieg vor: »Dann gehe ich -- für die Regionalliga bin ich zu teuer.«

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