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»Anabolika im Vatikan besorgt«

aus DER SPIEGEL 46/1990

SPIEGEL: Nach zwei Jahren Dopingsperre darf Ihr einstiger Star Ben Johnson wieder starten. Haben Sie ihm schon Ihre Dienste angeboten?

FRANCIS: Nein, aber wir telefonieren gelegentlich. Erst kürzlich erzählte er mir, daß er in Osaka war und dort einen 100 000-Dollar-Vertrag für ein Rennen unterschrieben hat. Das ist doch eine ordentliche Summe für einen begnadigten Sünder, oder?

SPIEGEL: Ist Ben Johnson denn schnell genug, um solche Summen zu rechtfertigen?

FRANCIS: Ich habe ihn ein paarmal auf dem Trainingsplatz gesehen und seine Zeiten gestoppt. Einmal lief er über 80 Meter mit stehendem Start 10,05 Sekunden, das entspricht einem 100-Meter-Lauf. Und das ist verdammt schnell.

SPIEGEL: Hilft er schon wieder mit Anabolika nach?

FRANCIS: Er ist jetzt clean, er hat gar keine andere Wahl. Fünfmal hat der kanadische Verband ihn in diesem Jahr schon getestet. Wenn er etwas nehmen wollte, wäre es sehr schwierig. _(* Im Juni beim Training in Toronto. )

SPIEGEL: Die Leichtathletik-Veranstalter planen ein Millionenduell zwischen Carl Lewis und Ben Johnson. Hat Ihr früherer Schützling ohne Doping überhaupt eine Siegchance?

FRANCIS: Er hat doch nicht alles verlernt, er kann unter 10 Sekunden bleiben. Ohne Doping kann er eine gute Zeit allerdings nur einmal pro Saison laufen, zu mehr reicht die Kraft dann nicht. Zunächst läuft er ja nur in der Halle, da war er früher dermaßen überlegen, daß er jetzt selbst weit unter Form noch schneller ist als andere.

SPIEGEL: Wann und wo treten denn Lewis und Johnson erstmals wieder gegeneinander an?

FRANCIS: Wahrscheinlich erst im Frühsommer, denn Lewis startet ja nicht in der Halle. Das Duell findet dort statt, wo es am meisten Geld gibt, wahrscheinlich in Japan.

SPIEGEL: Werden Ben Johnsons künftige Gegner auch sauber sein?

FRANCIS: Dazu kann ich nur soviel sagen: Die Trainingskontrollen in den USA sind wertlos, weil jeder Athlet, der weiter als 75 Meilen von einem Labor entfernt wohnt, nicht getestet werden muß. Also, wo würden Sie wohnen, wenn Sie sich dopen wollten?

SPIEGEL: Seit Seoul werden Sie »Charlie der Chemiker« genannt. Reizt es Sie, wieder mitzumischen?

FRANCIS: Ich bin nicht mehr wild darauf, dabeizusein. Außerdem hat der amerikanische Verband schon gedroht, alle Sportler auszuschließen, die mit mir trainieren.

SPIEGEL: Das war die Konsequenz, daß Sie und der Arzt Dr. George Astaphan den Sprinter als ahnungsloses Versuchsobjekt benutzt haben.

FRANCIS: Unter Eid hat Ben zugegeben, daß er genau wußte, was er einnahm. Von 24 Athleten, die ich betreute, nahmen 10 Drogen, 14 nicht. Manche wollten, manche nicht. Diese Entscheidung wurde weder von den Sportlern noch von den Trainern getroffen. Die Realität erforderte sie. Das Dilemma ist doch: Schlucken sie es und gewinnen, oder halten sie sich an die Regeln und verlieren.

SPIEGEL: In Ihrem Buch »Speed Trap« haben Sie den Aufstieg und Fall von Ben Johnson beschrieben. Ist das Ihre Rechtfertigung?

FRANCIS: Ich muß mich vor niemandem rechtfertigen. Wir haben gedopt, weil es alle taten. Ohne Doping wäre Ben immer noch ein armer Schlucker.

SPIEGEL: Woher wußten Sie denn, was die anderen nahmen?

FRANCIS: Das war doch kein Geheimnis. Viele Trainer und Athleten haben über ihre Programme geredet und sie ausgetauscht. Von dem westdeutschen Trainer Jochen Spilker habe ich erfahren, was die DDR-Athleten schluckten. Spilker hatte da erstklassige Kontakte.

SPIEGEL: Nennen Sie mal Namen.

FRANCIS: Das möchte ich nicht. Die Kollegen aus der ehemaligen DDR suchen doch zur Zeit alle einen Job. Das Problem ist doch klar. Die DDR-Schwimmerin Christiane Knacke, die jetzt Trainerin in Österreich ist, hat offen über Doping in der DDR gesprochen. Man drohte ihr, sie aus dem österreichischen Trainerverband auszuschließen. Man wollte, daß sie den Mund hält. Warum wohl?

SPIEGEL: Weil in allen Verbänden auf der ganzen Welt gedopt wird?

FRANCIS: Bevor ich das sage, würde ich gern erst mit meinem Anwalt reden.

SPIEGEL: In der Leichtathletikszene ist doch auch nicht immer ein Anwalt dabeigewesen, wenn Sie sich über Doping unterhalten haben.

FRANCIS: Nein, aber da merkte jeder schnell, was Sache ist. 1981 beim Meeting in Rom rannten die Kugelstoßer immer in den Vatikan, und alle wunderten sich, wie religiös Kugelstoßer sind. Dann stellte sich raus, daß die Vatikan-Apotheke als einzige in Rom Dianabol ausgab.

SPIEGEL: Das Wissen um Dopingmöglichkeiten wurde so Allgemeingut?

FRANCIS: Das funktionierte prächtig. Einen Tag vor diesem großen Wettkampf klagte ein Weitspringer einem befreundeten Kugelstoßer, nicht über 7,50 Meter springen zu können. Der Kugelstoßer gab ihm eine Pille mit 25 Milligramm Amphetamin und die Anweisung, sie 45 Minuten vor dem Wettkampf einzunehmen. Noch während des Kugelstoßwettkampfes kam der Weitspringer angerannt und jubelte: Mike, Mike, acht Meter.

SPIEGEL: Wie haben solche Athleten denn nach dem Wettkampf die Dopingproben überstanden?

FRANCIS: Nichts einfacher als das. Eine Langläuferin lieferte am Morgen des Meetings immer ein Fläschchen ab: »Das ist meine Probe für heute abend.« Und ich weiß von einer DDR-Athletin, die vor dem Dopingtest von ihrem Funktionär für den Sieg einen Blumenstrauß bekam - darin steckte ein Katheter mit sauberem Urin.

SPIEGEL: Mit welchen Trainern haben Sie sich denn noch über Dopingpraktiken ausgetauscht?

FRANCIS: Mit dem amerikanischen Coach Chuck DeBus, der Stars wie Diane Williams und Merlene Ottey trainierte. Ich erzählte ihm, daß wir nur wenig Steroide in kurzen Zeiträumen einnehmen würden. Aber er glaubte mir nicht, weil er dachte, daß kleine Dosen über eine lange Zeit viel besser wirken würden.

SPIEGEL: Und wer hat recht behalten?

FRANCIS: Seine Läufer waren zu Beginn der Saison stark, wurden dann aber immer schlechter. Wegen der zunehmenden Kontrollen wurde er letztendlich auch zu kürzeren Zyklen gezwungen. Und trotzdem liefen seine Leute viel besser. Seitdem glaubte er mir.

SPIEGEL: Sie haben also das ultimative Dopingprogramm entwickelt?

FRANCIS: Viele Spitzenathleten würden es ablehnen, weil ich mit weitaus geringeren Mengen arbeite als der Rest der Welt. Selbst die Dosis für Ben war mit 1500 Milligramm Anabolika pro Jahr verschwindend gering gegenüber den 165 000 Milligramm, die ein mir bekannter Gewichtheber im Jahr nahm.

SPIEGEL: Hat denn niemand versucht, dieses Superprogramm zu kaufen, mit dem Ben Johnson den Weltrekord gebrochen hat?

FRANCIS: Keiner. So einfach ist das nicht. Jeder reagiert anders auf diese Mittel. Ben sprach auf Winstrol V an, Angella Issajenko dagegen viel besser auf Anavar und Dianabol.

SPIEGEL: Haben Sie an anderen Sportlern beobachtet, daß irgendwo auf der Welt nach Ihrem Dopingsystem trainiert wurde?

FRANCIS: Man sieht nicht, wer nach welchem Programm dopt. Man kann nur ungefähr sehen, wer was nimmt. Bestimmte Mittel wie Dianabol schwemmen zum Beispiel das Gesicht auf. Aber Langstrecklern, die positiv waren, konnte man die Anabolika nie ansehen, weil sie kein Krafttraining machten.

SPIEGEL: Wie eifrig helfen denn die Funktionäre mit, daß die Dopingpraxis nicht an die Öffentlichkeit gelangt?

FRANCIS: Sie arbeiten hart daran. Wenn der Internationale Leichtathletik-Verband beschließt, allen Athleten, die auspacken, ihre Titel abzuerkennen, dann kommt das einer Schweigepflicht gleich. Richard Pound, der Vizepräsident des Internationalen Olympischen Komitees, hat es mit der Omerta, dem Schweigegelübde der Mafia, verglichen. Die Sportler werden gezwungen zu lügen. Hätte Ben nicht vor einem unabhängigen Untersuchungsausschuß unter Eid aussagen müssen, hätte er seinen Weltrekord noch heute.

SPIEGEL: Glauben Sie, daß sich die Funktionäre darin weltweit einig sind?

FRANCIS: Ich kann da nur Beispiele nennen. Begründetem Dopingverdacht in der DDR ging der Internationale Leichtathletik-Verband nach, indem in der DDR angefragt wurde, ob dort verbotene Mittel benutzt würden. Die Ostdeutschen antworteten: Natürlich nicht. Welch eine knallharte Untersuchung.

SPIEGEL: Aber die Funktionäre beteuern immer wieder, gründlich zu ermitteln.

FRANCIS: In Kanada gibt es hochbezahlte Offizielle, die durch die ganze Welt gereist sind, um herauszufinden, wie man Spitzenleistungen erzielt. Nach zehn Jahren Recherche behaupten diese Leute, nicht zu wissen, daß Weltrekorde meist mit Doping erzielt werden. Entweder sind sie unglaublich dämlich, oder sie lügen. Man mußte doch nur mit einer Flasche Schnaps und einer Stange Zigaretten zu den DDR-Trainern gehen, um eine ganze Menge zu erfahren.

SPIEGEL: Immerhin wurden in jüngster Zeit einige Athleten wegen Dopings gesperrt.

FRANCIS: Aber die kommen doch alle schnell zurück. Wie die DDR-Kugelstoßerin Ilona Slupianek, die 1977 dank Anabolika über 21 Meter weit stieß. Sie wurde ein Jahr gesperrt und stieß danach fast 23 Meter. Die war so kräftig, daß sie sogar dem kanadischen Kugelstoßer Marti Catalano seinen Sport verleidete. Ilona kam eines Tages bei ihm vorbei, nahm die Männerkugel, die etwa doppelt so schwer ist wie die Frauenkugel, und stieß sie aus dem Stand über 17 Meter - so weit kam unser Mann nur an seinen besten Tagen. Da hat Marti seine Kugel eingepackt und ist nach Hause gegangen.

SPIEGEL: Gehört es denn zur Strategie der Funktionäre, daß Sünder nie auf Lebenszeit gesperrt werden?

FRANCIS: Natürlich. Sie wollen die Tür niemals ganz zuschlagen. Bei lebenslänglichen Strafen hätten die Athleten doch keinen Grund mehr, ihren Mund zu halten. Der amerikanische 400-Meter-Läufer Mark Rowe wurde mindestens zweimal positiv getestet. Das bedeutet eigentlich eine Sperre auf Lebenszeit. Doch man hat es wie ein einziges Vergehen behandelt. Es würde mich interessieren, was er zu erzählen hätte, falls man ihn für immer sperrte. Immerhin hat Rowe mit Spitzentrainern wie DeBus und Bobby Kersee trainiert.

SPIEGEL: Die Affäre Johnson ist längst abgeschlossen. Nur Sie und Astaphan müssen dafür noch büßen?

FRANCIS: Gebüßt hat vor allem Astaphan. Aber noch mehr müssen die Athleten künftig büßen. Denn jeder Arzt, der gesehen hat, wie Astaphan öffentlich gekreuzigt wurde, wird nie wieder was mit Sportlern zu tun haben wollen. Die Folge ist, daß die Athleten jetzt ins nächstbeste Fitneßstudio gehen und sich ihre Tips und Mittel von Bodybuildern besorgen.

SPIEGEL: Wissenschaftliche Studien besagen, daß Anabolika aggressiv machen. Ben Johnson bedrohte beispielsweise einen Autofahrer mit einer Startpistole.

FRANCIS: Das ereignete sich doch, als Ben längst nichts mehr nahm . . .

SPIEGEL: Vielleicht waren es Entzugserscheinungen?

FRANCIS: Glauben Sie im Ernst, es würde helfen, an einer Startpistole zu lutschen, wenn man auf Anabolikaentzug ist? Ben stand doch damals unter extremem Streß, weil ihn die Journalisten gejagt haben. Er wollte auf dem Highway ein Auto überholen, doch der Fahrer ließ ihn nicht vorbei. Da dachte Ben, es sei wieder ein Reporter, und griff zur Startpistole. Man braucht keine Anabolika, um in solchen Situationen auszurasten. Ich glaube kaum, daß Jackie Onassis Drogen im Blut hatte, als sie ihre Leibwächter anwies, einem Fotografen die Kamera aus der Hand zu schlagen.

SPIEGEL: Von der Dosis, die Ben bekam, wurde er also nicht aggressiver?

FRANCIS: Nicht mehr, als er ohnehin schon war.

SPIEGEL: War er sehr aggressiv?

FRANCIS: Ja, er war ein positiv aggressiver Wettkämpfer.

SPIEGEL: Auch die von den Medizinern beschriebenen Veränderungen im Sexualverhalten haben Sie bei Ben nicht bemerkt?

FRANCIS: Ben hat die Mädchen gejagt, seitdem ich ihn kenne, seit 1977. Aber erst 1982 begann er mit dem Doping. Er war immer stolz darauf, daß er schon mit sieben Jahren zum erstenmal mit einem Mädchen geschlafen hat. Ich glaube kaum, daß er damals etwas genommen hat. In Jamaika sagt man, daß Sex das Fernsehen des armen Mannes ist.

SPIEGEL: Weil sie über ihre körperlichen Deformierungen bei gleichzeitig zunehmender Libido entsetzt war, litt aber beispielsweise eine amerikanische Sprinterin an schweren psychischen Problemen.

FRANCIS: Keine Frage, daß Anabolika die Libido erhöht. Aber eine Frau neigt doch dazu, kleine Veränderungen an ihrem Körper sofort festzustellen.

SPIEGEL: Sie wollen also überhaupt keine Nebenwirkungen beobachtet haben?

FRANCIS: Doch. Wer anabole Steroide nimmt, leidet augenblicklich an Gedächtnisschwund. Denn jeder Athlet, der danach gefragt wird, kann sich an nichts erinnern.

SPIEGEL: Was hat sich denn seit Seoul geändert?

FRANCIS: Ein paar Monate hatten die Sportler Angst, und Edwin Moses meinte, die Dopingzeiten seien vorbei, weil die Athleten wieder magerer würden. Aber in der letzten Woche wurden zwei US-Weltrekordler wegen Anabolikamißbrauchs erwischt: der Kugelstoßer Randy Barnes und 400-Meter-Läufer Butch Reynolds.

SPIEGEL: Es wird also wieder um die Wette gedopt und geheuchelt?

FRANCIS: Man muß als Anti-Doping-Verfechter gelten, um ungestört dopen zu können. Wären wir in Seoul nicht geschnappt worden, wären Ben und ich heute die eifrigsten und überzeugendsten Kämpfer gegen die bösen Drogen.

* Im Juni beim Training in Toronto.

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