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Profis »Andere Art des Denkens«

Wie deutsch muß der deutsche Berufssport sein? Ein knappes Jahr nach dem Bosman-Urteil haben die ins Land gerufenen ausländischen Profis den hiesigen Arbeitsmarkt verändert. Die Klubmanager bejubeln die höhere Attraktivität der Meisterschaften, die deutschen Nationaltrainer sorgen sich um den Nachwuchs.
aus DER SPIEGEL 40/1996

Es schien nur eine Fußnote aus dem Datenwust dieses ersten Spieltages zu sein. Nach 72 Minuten ersetzte der Holländer Max Huiberts seinen deutschen Kollegen Peter Wynhoff im Team von Borussia Mönchengladbach. Doch die Auswechslung hatte statistischen Pfiff: Erstmals bildeten in der Fußball-Bundesliga mehr Spieler aus dem Ausland als Einheimische eine Mannschaft.

In Fredenbeck, bei den Handballern des örtlichen VfL, ist man längst weiter: Dort kann eine komplette Sieben von Spielern auflaufen, von denen keiner in Deutschland geboren wurde. Und in Köln, wo Bob Murdoch das Eishokkeyteam der »Haie« trainiert, bedauerte der Kanadier nur kurz, in der Sommerpause wieder kein Deutsch gelernt zu haben. Zur neuen Saison engagierte der Klub drei Schweden, drei Italiener und zwei Kanadier. »Was brauch'' ich da Deutsch?« feixte der Coach.

In deutschen Sportstadien ist der Multi-Kulti-Geist eingezogen. Auf Eis, Rasen oder Hallenparkett treten Mannschaften an, die wie europäische Auswahlteams anmuten. 145 von 320 Spielern der Deutschen Eishockey-Liga haben einen fremden Paß, im Handball leisten sich die Vereine im Schnitt vier Stars aus Frankreich, Schweden oder Kroatien, und bei den Fußball-Bundesligisten steht mehr als eine Hundertschaft Legionäre im Sold.

Möglich wurde der Run auf die Gastarbeiter durch den Fall des belgischen Fußballprofis Jean-Marc Bosman, der beim Europäischen Gerichtshof darauf klagte, daß auch für Sportler das Recht auf freie Wahl des Arbeitsplatzes gelten müsse. Zwar hat Bosman von seinem Kreuzzug durch die Instanzen nicht mehr profitieren können (siehe Seite 224), doch für seine Kollegen Berufssportler gibt es nun keine Beschränkungen mehr - weder durch Ablösesummen noch wegen ihrer Nationalität.

Den Vereinsmanagern kommt die Freizügigkeit sehr gelegen. Endlich haben sie eine Alternative, wenn deutsche Spieler ihre Gagen in die Höhe pokern wollen. »700 000 Mark im Jahr« verlangte jüngst ein durchschnittlicher Abwehrspieler, berichtet Bremens Manager Willi Lemke: »Dem habe ich abgesagt und einen Russen genommen.«

Auch die Eishockey-Klubs gingen nach dem Bosman-Urteil »kollektiv auf Schnäppchenjagd« (Süddeutsche Zeitung). Daß bei den Mannheimer Adlern unter den elf Neuzugängen nur zwei Deutsche sind, erklärt Manager Marcus Kuhl mit wirtschaftlichen Zwängen: »Ich verbessere meine Wettbewerbsfähigkeit und spare zehn Prozent Lohnkosten.«

Die Einkaufshysterie zeitigte bizarre Auswüchse. Der italienische HC Varese verlor acht Spieler nach Deutschland - und meldete mangels Personal sein Team ab. Die Gewerkschaft der deutschen Eishockey-Profis scheiterte beim Versuch, den Klubs eine freiwillige Verpflichtung abzuringen, mindestens zwölf Deutsche zu beschäftigen. Schon bald, glaubt Rudi Assauer, Manager des FC Schalke 04, werden nicht nur die Gehälter für Durchschnittskicker sinken, es werde zugehen wie auf dem gewöhnlichen Arbeitsmarkt: »Dann haben wir hier eine große Zahl arbeitsloser Profisportler.«

Die Trainer aber wünschen sich die Ausländer, weil diese auf dem Spielfeld mitunter die besseren Deutschen abgeben. Vermeintlich teutonische Tugenden wie Ehrgeiz, Fleiß und Disziplin, glaubt der Freiburger Trainer Volker Finke, würden deutschen Talenten mittlerweile von den Einwanderern vorgelebt. »Der große Schritt, aus der Heimat wegzugehen, führt einfach zu mehr Professionalität«, so Finke, »die meisten leben verantwortungsvoller für den Beruf.«

In der Fußball-Bundesliga hat sich damit die Rollenverteilung geändert. Vor dem Bosman-Urteil galten Ausländer fast automatisch als Wackelkandidaten: »Keiner wußte, ob einer einschlägt oder Heimweh kriegt«, so der Karlsruher Trainer Winfried Schäfer. Kaum ein Verein bemühte sich um die Integration, und in den Mannschaften verhinderte Futterneid Freundschaften.

Nun funktionieren der Belgier Marc Wilmots und der Holländer Johan de Kock in Schalke schon deshalb, weil de Kocks Landsmann Youri Mulder bereits vor ihnen dort war. Ausländer bilden eigene Fraktionen, in denen man sich, so Schalke-Trainer Jörg Berger, »schützt gegen die fremde Umgebung, die neue Sprache, das andere Klima, die Abwesenheit der Familie und was sonst noch alles stören kann«.

Und weil sie ohnehin »eine andere Art des Fußballspielens und des Denkens« einbringen, wie der Däne Jakob Friis-Hansen (Hamburger SV) meint, könnte es sein, daß die Vereine inzwischen kreativer kicken als früher.

In der vergangenen Woche sah es danach aus: Gegen starke Konkurrenz setzten sich der HSV, Mönchengladbach und Schalke in der ersten Runde des Uefa-Cups durch. Im Basketball, Handball, Tischtennis oder Volleyball haben die Klubs aus der Bundesrepublik schon in den vergangenen Jahren internationale Trophäen abgeräumt - wenn sie starke Ausländer im Team hatten.

Tun sie darum aber dem deutschen Sport auch wirklich Gutes? Zwar jubeln die Handball- und Eishockey-Verantwortlichen in diesen Tagen ihre Ligen zu den »stärksten in Europa« hoch, und ein Künstler wie der französische Handballweltmeister Jackson Richardson füllt in Großwallstadt die Halle im Alleingang.

Manager wie der Bremer Lemke bezweifeln jedoch, daß die neue Schnelllebigkeit dem Geschäft auch langfristig nutzt. »Durch die Fluktuation geht die Identifikation der Zuschauer mit dem Klub verloren«, meint Lemke, »wenn ich mir jedes Jahr ein neues Trikot kaufen muß, weil mein Lieblingsspieler schon wieder eine Station weitergesprungen ist, ärgere ich mich doch schwarz.« »Sechs, sieben, acht Ausländer in der Mannschaft akzeptieren die Zuschauer nicht«, sagt Schäfer, »es sei denn, die Truppe wird jedes Jahr Meister.«

In Mönchengladbach glaubt Manager Rolf Rüßmann vorgebeugt zu haben: Geschäftsstelle, Jugendabteilung, Werbeagentur und Präsidium sind »mit alten Borussen bestückt«. Das, immerhin, gebe dem Verein ein Gesicht.

Fast schon dramatisch, so räumt selbst Rüßmann ein, wirkt sich der Kaufrausch auf den deutschen Nachwuchs aus. Beim letzten Länderspiel der Unter-21-Nationalmannschaft kamen ausnahmslos Spieler zum Einsatz, die in ihren Klubs auf der Reservebank hocken. DFB-Trainer Rainer Bonhof: »Da kriegen sie nicht das, was sie brauchen.« Ausländer besetzen nicht nur meist Schlüsselpositionen, so Bonhof, »sie nehmen unseren Jungen die Plätze weg«.

Darüber klagen die Trainer fast sämtlicher Disziplinen. »Die Talente spielen kaum, und falls sie spielen, bekommen sie kaum Bälle«, meint etwa Volleyball-Bundestrainer Olaf Kortmann. Beim Moerser Sportclub streiten gleich drei Junioren-Nationalspieler um die Ehre, für drei Weltstars vom Olympiasieger Holland die Bälle ans Netz zu baggern.

Was das für die Nationalteams bedeutet, erfahren Kortmann und seine Kollegen vom Handball oder Basketball immer wieder: Zu gewinnen gibt es nichts für sie; und wenn es mal wichtig wird, streiken die Nerven der unerfahrenen Jünglinge.

Fußball-Bundestrainer Berti Vogts sieht deshalb »Nöte und Sorgen« auch für seine Mannschaft voraus. 1998, nach der Weltmeisterschaft, werden sich Leistungsträger wie Jürgen Klinsmann oder Matthias Sammer verabschieden. Nach jüngeren Hochbegabten fahndet Vogts seit Jahren nahezu vergeblich.

Zu streiten ist nur darüber, ob das ein Grund zur Sorge ist. Wie deutsch muß der deutsche Profisport sein? Finke beispielsweise meint, daß eine zunehmende Professionalisierung zwangsläufig eine zunehmende Internationalisierung mit sich bringe: »Das ist vielleicht nicht schön, aber das ist eben die Realität.«

Nationalmannschaften findet der Trainer des SC Freiburg darum bereits »ansatzweise anachronistisch«. Der amerikanische Sport habe eben längst auch in Europa Einzug gehalten. In den USA machen die Vereine Millionen, und die Nationalmannschaften dürfen spielen, wenn die Klubs sich eine Pause gönnen.

* Links: Kasseler Torwart Pavel Cagas (Tschechien), LandshuterSpieler Gino Cavallini (Italien); rechts: Hubert Fournier(Frankreich), Patrik Andersson, Jörgen Pettersson (beide Schweden),Ioan Lupescu (Rumänien).

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