»Aufs übelste ausgenutzt«
Dem Trainer genügen kaum wahrnehmbare Gesten, um seine beiden Läuferinnen zu dirigieren. Ein Fingerzeig - gleichmäßig drehen sie Runden auf der Tartanbahn; ein leichtes Kopfnicken - sie beginnen zu sprinten. Die große Blonde und die kleine Schwarzhaarige funktionieren wie die Lorenzschen Graugänse.
Acht Jahre lang hat Thomas Springstein, der Trainer, getan, was er »die Mädchen breiig rühren« nennt. Die Sprinterin Katrin Krabbe war 14 Jahre alt, als sie 1984 beim SC Neubrandenburg in die Nachwuchsgruppe Springsteins kam; Grit Breuer, eine begabte 400-Meter-Läuferin, war zwei Jahre jünger.
»Ihr psychisches Überleben liegt in meiner Hand«, rühmt sich Springstein jetzt der Wirkung. Und Katrin Krabbe, inzwischen zweifache Weltmeisterin geworden, fügt sich: »Ich brauche jemanden, der mir in den Hintern tritt.« Die Europameisterin Grit Breuer bekennt: »Ich habe mich meinem Trainer ausgeliefert. Und wenn er Erfolg hat, denke ich über nichts mehr nach.«
Erst als die »strukturelle Einheit« (Springstein) innerhalb von sechs Monaten zweimal in Dopingfälle verwickelt wird, bekommt das Erfolgsmodell Risse. Der Frankfurter Pharmakologe Professor Norbert Rietbrock, als Gutachter bestellt, erkennt sofort in Springstein den »Halunken": Die Mädchen hätten »jeden Dreck gefressen, den der verteilt hat«. Und auch der Reporter vom Neubrandenburger Nordkurier sieht nun »mit Scheuklappen laufende Damen«, die dem Trainer blind gefolgt seien.
Das vorläufige Ende der Neubrandenburger Medaillenschmiede offenbart ein Tabuthema deutscher Sportwirklichkeit. In vielen Trainingsstätten - ob in Ost oder West - werden Sportlerinnen zu bloßen Objekten degradiert. Ihr »physiologischer Organismus« dient Trainern und Sportwissenschaftlern, so der Leipziger Psychologe Professor Paul Kunath, »als reines Mittel zum Zweck«.
Die Trainer suggerieren den Athletinnen eine gleichberechtigte Schweißgemeinschaft, die sich ganz einem gemeinsamen Ziel, dem Erfolg, verschworen habe. Auf der Jagd nach Medaillen entstehen dann subtile Abhängigkeitsverhältnisse mit fatalen Folgen: Die Hemmschwelle für den Einsatz verletzungsträchtiger Trainingsmethoden und die Einnahme von Dopingmitteln wird deutlich herabgesetzt.
Die »sportliche Weltmacht DDR« (Weltwoche) gründete ihren Ruf vor allem _(* Oben: im Mai auf Kreta; unten: ) _(400-Meter-Läuferin und Lebensgefährtin ) _(Gaby Bußmann. ) auf Siege der weiblichen Mannschaftsmitglieder. Gegenwärtig ist China dabei, mit biegsamen Schwimmerinnen und Leichtathletinnen die DDR zu beerben.
Die Muster für den Weg in die Abhängigkeit sind weltweit dieselben: Anders als die männlichen Kollegen sind junge Sportlerinnen nicht allein auf Wettkampf- und Konkurrenzdenken fixiert. Das kalte Gegeneinander halten die Mädchen nur aus, wenn zugleich ein Miteinander in einer Gruppe sie auffängt. Aus emotionalen Gründen, so der Kölner Psychologe Erwin Hahn, suchen Athletinnen deshalb »den engstmöglichen Kontakt zu ihrem Trainer«.
Sie haben meist auch keine anderen Orientierungsmöglichkeiten: Im Sport ist der Trainerjob traditionell Männersache, die Trainingslager sind in der Regel nach Geschlechtern getrennt. Eltern überlassen ihre Töchter beinahe vorbehaltlos den Trainern, die phasenweise die Rolle der Erziehungsberechtigten übernehmen. Sie sind erst väterlicher Freund, dann Kumpel und schließlich erster Adressat pubertärer Gefühle.
Daraus erwachse ein »erotisches Spannungsverhältnis«, behauptet Hahn, das durchaus »produktiv« sei. Die intersexuellen Beziehungen in der Trainingshalle könnten »geschickt für eine Leistungssteigerung ausgenützt« werden.
»Viele laufen nur für ihren Trainer«, bestätigt die Leverkusener Mittelstrecklerin Anette Schenk. Jede neue Läuferin in ihrer Gruppe habe die Angst gesteigert, »den Trainer nun teilen« zu müssen. Das sei »hart gewesen«, doch habe die Konkurrenz die eigene Leistungsbereitschaft gesteigert. Am Ende habe es sie »richtig glücklich« gemacht, als der Trainer über einen ihrer Siege vor Freude weinte: »Das hat mir gezeigt, wie gern er mich mag.«
Vor allem die lang andauernden Trainingslager bieten den Trainern Gelegenheiten. Bei einer Umfrage des Zürcher Instituts für Sozial- und Umfrageforschung _(* Fünfkämpferin Eva Wilms. ) gaben 70 Prozent der 478 befragten Spitzensportler an, nach mehr als einwöchiger Abwesenheit von zu Hause »Sex zu vermissen«. Die seit Karrierebeginn auf die Betreuer fixierten Athletinnen gingen beinahe zwangsläufig auch »Intimkontakte mit ihren Trainern« ein, folgert der Bremer Sportpsychologe Professor Fritz Stemme.
Wer sinnliche Freuden außerhalb der Sportstätten suchte, fand besonders im komplett durchgeplanten Kommandosport der DDR kaum Zeit und Gelegenheit. Talentierte Kinder wurden bereits früh in den Kinder- und Jugendsportschulen zusammengezogen. Dort hatten die Bewegungsbegabten nur noch die Aufgabe, sportliche Leistungen zu produzieren. Erkennen die Mädchen ihre tatsächliche Rolle, führt das, wie im Fall der Magdeburger Schwimmerinnen Anke Möhring und Kathleen Nord, zum abrupten Karriereende (siehe Seite 244).
Selbst große Altersunterschiede waren Liebschaften zwischen Kraftraum und Stadion nicht hinderlich. So heiratete Christa Rothenburger, 32, mehrfache Olympiasiegerin im Eisschnellauf, den 17 Jahre älteren Ernst Luding. Die Leipziger Marathonläuferin Katrin Dörre, 31, ist mit ihrem Trainer Wolfgang Heinig, 41, verbandelt. Die Kugelstoß-Europameisterin Astrid Kumbernuss aus Neubrandenburg kam als Jugendliche zu Dieter Kollark, 48, inzwischen lebt die 22jährige mit dem Bundestrainer zusammen.
Typisch für die Beziehungen zwischen Trainer und Athletin ist die Karriere der 400-Meter-Weltrekordlerin Marita Koch, 35. Mit 13 Jahren wurde sie vom Schiffbau-Ingenieur und Hobbytrainer Wolfgang Meier, 49, entdeckt. Zur Belohnung für den Sieg bei den Jugendeuropameisterschaften wurde Meier zum hauptamtlichen Coach der späteren Olympiasiegerin gemacht, 13 Jahre und 16 Weltrekorde später waren beide verheiratet. Die »Symbiose Koch/Meier« (Die Zeit) arbeitete 16 Jahre so eng miteinander, daß am Ende zur Kommunikation »Blicke ausreichten« (Koch).
Doch die angebliche Idylle auf dem Sportplatz hat oft einen fragwürdigen Hintergrund. Um Erfolge zu erzielen, fördern die Trainer Muskelwachstum, Härte und Kraft. Den Athletinnen würden so körperliche Merkmale antrainiert, folgert die Kölner Sportpädagogin Birgit Palzkill, die eine »scheinbare Unweiblichkeit« aufbauen. Um so größer sei dann die Bereitschaft der Frauen, ihren Trainern zu glauben, wenn die ihnen das Gefühl vermitteln, trotzdem attraktiv und begehrenswert zu sein. Dies führe, schreibt die ehemalige Basketball-Nationalspielerin in ihrer Studie, zu »höchst problematischen Abhängigkeitsverhältnissen mit einem erheblichen Mißbrauchspotential"*.
In Norwegen berichteten vier Sportlerinnen im Fernsehen über ihre Beziehungen. Eine 17jährige schilderte, wie sie, von ihrem Trainer schwanger, von ihm zur Abtreibung gedrängt worden sei, »um meine sportliche Laufbahn nicht zu ruinieren«. Erst habe sie sich durch die sexuelle Annäherung ihres Trainers geschmeichelt gefühlt, ergänzte eine Kollegin, bis sie gemerkt habe, daß sich ihr Coach privat auch noch mit anderen Vereinskameradinnen treffe.
»Das Problem, daß junge Sportlerinnen zum Geschlechtsverkehr mit ihren _(* Birgit Palzkill: »Zwischen Turnschuh ) _(und Stöckelschuh«. AJZ-Verlag, ) _(Bielefeld; 200 Seiten; 25 Mark. ) Trainern gezwungen sind«, gab der Präsident des norwegischen Sportbundes zu, »ist größer, als wir bisher annahmen.«
In Deutschland, glaubt Psychologe Hahn, würden Abhängigkeitsverhältnisse »ähnlich wie die sexuelle Gewalt am Arbeitsplatz tabuisiert«. Die problembehaftete Beziehung zwischen Trainer und Sportlerin wird allenfalls thematisiert, wenn darunter die sportliche Leistung leidet.
Augenzwinkernd berichtet dann die Boulevardpresse über »Psycho-Terror« (Bild) in der Sporthalle. Als der Handball-Zweitligist VfL Bad Oldesloe zu Saisonbeginn nur sieben Spielerinnen aufbieten konnte, machte das Blatt die Beziehungskrise des Trainers mit der Spielerin Melanie Bernecker dafür verantwortlich. »Im Training flossen Tränen statt Schweiß«, beschwerte sie sich.
Noch turbulenter ging es beim Fußball-Bundesligisten TV Delmenhorst zu: »Trainer brannte mit Torjägerin durch« (Bild). Als Coach Roland Eybe und die Spielerin Anja Bresch gemeinsam den Verein verließen, wußte die Mannschaftsführerin den Grund: »Die Anja ist Roland hörig.«
»Liebe zwischen Athletin und Trainer ist ein gefährliches Spiel«, klärte die Olympiasiegerin und Bild-Kolumnistin Heide Rosendahl die Leser auf, der »Trainer konzentriert sich nur noch auf seine Liebste«.
Dennoch gelten Macho-Sprüche im deutschen Sport immer noch als Qualitätsmerkmal für einen erfolgreichen Trainer. »Um eine gute Staffel zu bekommen«, verriet Wolfgang Thiele, 57, der seit über 20 Jahren für den Deutschen Leichtathletik-Verband (DLV) arbeitet, »muß ich die Damen erst einmal gegeneinander hetzen.« Das Verhältnis zwischen Trainer und Sportler könne erst dann richtig leistungsfördernd sein, so der Chefcoach, »wenn es in der Grundstruktur dem des Zuhälters zur Prostituierten entspricht«.
Thiele ("Ich bin jedes Jahr mit neuen Frauen verheiratet") lebte seine Trainingsmethodik intensiv vor. Vor den Olympischen Spielen 1988 in Seoul begann er ein Verhältnis mit der 400-Meter-Läuferin Gisela Kinzel, 31. Die Affäre des berühmten »Goldschmiedes« (Bild) mit der deutschen Vize-Meisterin aus dem westfälischen Hamm sorgte monatelang für Getuschel im Leichtathletik-Nationalkader.
Nur Gisela Kinzels Ehemann und Heimtrainer Jörg war ahnungslos. Eines Tages nahm ihn Jochen Spilker, 400-Meter-Bundestrainer und in Hamm Vorgesetzter von Kinzel, beiseite und warnte ihn: »Paß endlich auf die Gisela auf.« Spilker befürchtete, daß Gisela Kinzel dem ewigen Konkurrenten Thiele in intimen Stunden die Hammer Dopingrezepte verraten würde.
Spilker kannte aus eigenem Erleben die Usancen im Frauensport. Wer sich in Trainingslagern tagsüber am meisten quälte, durfte abends zum Tete-a-tete in sein Zimmer. In der sexuellen Belohnung sah Spilker, so Trainerkollegen, auch eine Garantie, daß die Dopingpraktiken, mit denen im »Hammer Modell« über Jahre hinweg erstaunliche Erfolge erzielt wurden, wie Betriebsgeheimnisse behandelt wurden.
Wie Sportlerinnen »auf übelste Weise ausgenutzt« (Palzkill) werden, exerzierte der Diskus- und Kugelstoßtrainer Christian Gehrmann, 55, vor. Den _(* Mit Olympiasiegerin Mary Lou Retton. ) durch Anabolikagaben stämmig gewordenen Mädchen bewies er, daß sie als Frauen noch begehrt waren.
Nacheinander war Gehrmann mit der Weltrekordlerin Eva Wilms, der mehrfachen Deutschen Diskusmeisterin Ingra Maneke und der Olympiasiegerin Claudia Losch zusammen. Sobald aber die sportliche Leistungskraft seiner Schützlinge nicht mehr ausreichte, verlor Gehrmann auch sein sexuelles Interesse an den Athletinnen.
Weil der potente Trainer für Medaillen sorgte, scherten sich die Funktionäre nicht um die Gehrmannschen Methoden - obwohl sie seit langem Bescheid wußten. In einem anonymen Schreiben wurde der DLV vor neun Jahren über die Masche des »Bhagwan« informiert: Bei Gehrmann würden die Sportlerinnen Weltklasseleistungen produzieren, um den »Aufstieg zur Hauptfrau« zu schaffen. Gehrmann konterte gelassen mit dem Hinweis auf seine Privatsphäre: »Wen geht das was an, wenn ich mit einem netten Mädchen ausgehe?«
Auch ohne sexuelle Beziehungen kann die suggestive Kraft der Trainer zerstören - vor allem in Sportarten, in denen schon Kinder zur Weltspitze gelangen. Sportbegabte Mädchen, erkannte die Sportpädagogin Lotte Rose nach einer wissenschaftlichen Untersuchung über die »Lebensgeschichten junger Kunstturnerinnen«, würden häufig zu »narzißtischen Objekten"*.
Der Trainer braucht sich zur Instrumentalisierung der Kinder - im Gegensatz zu den weiblichen Kolleginnen - nicht groß zu bemühen, weil die Mädchen ihn »anhimmeln«, ihm sogar Liebesbriefe schreiben oder ihn als »Vaterersatz« sehen; männliche Übungsleiter würden, so Lotte Rose, »idealisiert, zum Gegenstand leidenschaftlichschwärmerischer Gefühle«. Die Turnerin Kathrin erzählte ihr etwa, daß sie »tolle Leistungen« nur für ihren Trainer vollbringe, damit »er sich freut und stolz ist«.
Folge der »symbiotischen Abhängigkeit« ist die »reibungslose Unterwerfung der Turnerin«. Ein drohender Liebesentzug, resümiert Lotte Rose, sei für viele Turnerinnen »so furchterregend«, daß sie selbst »zu qualvollen Belastungen« bereit seien.
Bis zur Perfektion beherrscht Bela Karoly das psychologische Spiel mit seinen Turnkindern. Die bloße Anwesenheit des Rumänen, der einst Nadia Comaneci und _(* Lotte Rose: »Das Drama des begabten ) _(Mädchens«. Lebensgeschichten junger ) _(Kunstturnerinnen. Juventa Verlag, ) _(Weinheim und München; 312 Seiten; 44 ) _(Mark. ) nach seiner Auswanderung in die USA Mary Lou Retton zur Olympiasiegerin drillte, genügt. Widerspruchslos und eilig klettern die ihm untergebenen Mädchen selbst für schwerste Übungen wieder und wieder an die Geräte.
Die Abhängigkeit wirkt bisweilen weit über das Karriereende hinaus.
Die Turnerin Nelli Kim, fünfmalige Goldmedaillengewinnerin für die Sowjetunion bei den Olympischen Spielen 1976 und 1980, war nacheinander mit einem Turner, einem Radrennfahrer und einem Fußball-Nationalspieler verheiratet. Doch alle Ehen scheiterten. Auch ein Jahrzehnt nach dem Ende ihrer Turnkarriere hängt immer noch ein großes Foto in Nelli Kims Moskauer Wohnung. Es zeigt die Turnerin zusammen mit ihrem Trainer Wladimir Baidin.
* Oben: im Mai auf Kreta; unten: 400-Meter-Läuferin undLebensgefährtin Gaby Bußmann.* Fünfkämpferin Eva Wilms.* Birgit Palzkill: »Zwischen Turnschuh und Stöckelschuh«.AJZ-Verlag, Bielefeld; 200 Seiten; 25 Mark.* Mit Olympiasiegerin Mary Lou Retton.* Lotte Rose: »Das Drama des begabten Mädchens«. Lebensgeschichtenjunger Kunstturnerinnen. Juventa Verlag, Weinheim und München; 312Seiten; 44 Mark.