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TOUR DE FRANCE Ausblenden und Gesundbeten

Wieviel Wahrheit hält der Radsport aus? Nach den Geständnissen etlicher Profis des Festina-Teams droht der Mythos der Frankreich-Rundfahrt zerstört zu werden. Alle Beteiligten sehen sich mittlerweile unter Generalverdacht - und rätseln um ein geeignetes Krisenmanagement.
aus DER SPIEGEL 31/1998

In früheren Zeiten waren es die steilen Aufstiege in den Alpen oder in den Pyrenäen, die das Teilnehmerfeld der Tour de France dezimierten. In diesem Jahr sorgen dafür Polizei und Justiz.

Als die Fahrer des holländischen TVM-Teams am vergangenen Freitag die Ziellinie in Cap d'Agde überquerten, suchen sie eilig den Mannschaftsbus. Wortlos bahnen sie sich den Weg durch die Reportermenge, verbergen ihre Köpfe schließlich hinter schwarzen Vorhängen.

Ermittlungsbeamte haben tags zuvor im Hôtel de la Rocade in Pamiers diverse Doping-Präparate gefunden, darunter das Hormon Erythropoietin (Epo). Zwei Verantwortliche von TVM verbrachten die Nacht in Gewahrsam. Rennstall-Direktor Hendrik Redant weist alle Vorwürfe zurück: »Mit Doping haben wir nichts zu tun.«

Die Unschuldsbeteuerungen sind wenig glaubhaft. Fünf Fahrer des suspendierten Festina-Teams hatten bis zum Wochenende vor dem Untersuchungsrichter die Einnahme von Doping-Mitteln eingestanden. Am Donnerstag fanden Reporter des französischen Fernsehens in den Müllcontainern des Novotel in Tarascon ein ganzes Bündel gebrauchter Medikamentenpakkungen. In dem Quartier hatte der italienische Asics-Rennstall logiert, auf einige Kartons waren Fahrernamen gekritzelt, die Präparate stehen auf der Doping-Liste.

Spätestens Ende vergangener Woche war die Frankreich-Rundfahrt am Tiefpunkt ihrer Geschichte angelangt. Wieviel Wahrheit, so fragten sich Teamchefs und Radprofis, Medienleute und Sponsoren, hält der Radsport aus? Unwichtig schien das Gelbe Trikot, die Energieleistung des Bergkletterers Marco Pantani oder die stoische Eleganz eines Jan Ullrich angesichts von 16 Festnahmen an einem Tag.

Freitag mittag schien die »Tour de Farce« ("Süddeutsche Zeitung") vorzeitig zu Ende. Ein gut Teil der Profis verweigerte den Start. Über eine Stunde debattierten sie mit den Organisatoren, hockten sich wie Atomkraftgegner auf den Asphalt - aber nicht aus Protest gegen die unfairen Mittel, mit denen ihre Konkurrenten einen Sport in den Abgrund reißen und ihre eigene Gesundheit aufs Spiel setzen. Der Betrug als solcher kümmerte sie nicht, sondern die Berichterstattung über ihn. Ullrich nölte, daß »nur noch über Doping geredet« werde, und Streikanstifter Laurent Jalabert klagte: »Wir werden wie Vieh behandelt.«

Die Hauptdarsteller der Tour tun sich schwer beim überfälligen Prozeß der Selbstreinigung. »Wie bei jeder Entziehungskur«, kommentiert »Liberation«, »gehört dazu Mut.« Doch sie sind gefangen im alten Denken, das Heucheln zur ersten Profipflicht erhoben hat.

Durch die peinlichen Enthüllungen droht der Mythos der Tour de France, der in 95 Jahren entstanden ist, innerhalb von ein paar Tagen in sich zusammenzufallen - womit der Fortbestand des gesamten Profigewerbes in Frage steht. Denn der Stellenwert, den die Rundfahrt hat, ist unvergleichbar. Sie hat dem Radsport seine Faszination verliehen, und genauso kann sie ihm seine Grundlage entziehen.

Fahrer, Ärzte, Betreuer und Sponsoren: Alle Beteiligten stehen mittlerweile unter Generalverdacht. Das Problem der Ungedopten - wenn es sie gibt - ist ein Problem der Beweisführung: Keiner von ihnen kann seine Unschuld unzweifelhaft dokumentieren, weil niemand in der Lage ist, tatsächliche und vermeintliche Leistung voneinander zu unterscheiden. Die aufwendig inszenierten Doping-Kontrollen sind nichts als Beschwichtigungsmanöver - denn die gängigen pharmazeutischen Muntermacher lassen sich nicht nachweisen.

Auch unter den Fahrern herrscht längst ein Klima der Mißgunst. Nachdem Richard Virenque vor den Kameras unter Tränen Abschied von der Tour de France genommen hatte, zischte sein Landsmann Frédéric Moncassin: »Virenque ist ein Arschloch und kein Heiliger.«

Wie panisch die gesamte Branche reagiert, machte auch die Mission des obersten Öffentlichkeitsarbeiters der Deutschen Telekom deutlich. Eine Woche lang reiste Jürgen Kindervater in Frankreich von Etappenort zu Etappenort, um von der Makellosigkeit seiner Crew zu künden. Seine Plädoyers freilich gerieten arg schwammig.

Doping mit Wachstumshormonen beim Team Deutsche Telekom? Er vertraue, so dozierte Kindervater, auf die Redlichkeit des verantwortlichen Arztes Professor Joseph Keul.

Blutdoping beim Team Deutsche Telekom? Er weise darauf hin, so belehrte der Firmensprecher, daß das Unternehmen einen stattlichen Betrag in die Verfeinerung der Analysemethoden von Epo zu stecken gedenke. Und Lothar Heinrich, der Mannschaftsarzt vor Ort, präzisierte, man sei mit den beim IOC akkreditierten Doping-Labors in Köln und Kreischa bereits in Kontakt getreten.

Die beiden Institutsleiter sind überrascht vom wissenschaftlichen Eifer der Telekom. Klaus Müller, Chef der Doping-Fahnder in Kreischa, stutzte: »Bis jetzt ist mir nichts davon bekannt.« Sein Kölner Kollege Wilhelm Schänzer erklärte knapp: »Ich weiß von nichts.«

Auch die Reputation des Freiburger Medizinprofessors Keul hat Hautgout. Dummerweise zählt der Sportarzt, in dessen Obhut sich bis auf Bjarne Riis alle Telekom-Radler begeben haben, zu jenen Internisten, die »bei richtiger Anwendung« das Hormon Erythropoietin für »ungefährlich« halten. Epo könne, so Keul, »das Höhentraining durchaus ersetzen«.

Sein Zitatenschatz prädestiniert Keul nicht gerade dafür, als Telekom-Kronzeuge für den unverdorbenen Sport aufzutreten. Zudem sagte der Hammerwerfer Walter Schmidt vor Gericht unter Eid aus, von Keul für ihn rezeptierte Anabolika bekommen zu haben. Der Chef des Deutschen Sportbundes empfahl, den umstrittenen Medicus von seinem Amt als Olympia-Arzt zu entbinden.

Wie alle Sponsoren des Radsports steckt die Telekom im Sog der Festina- und TVM-Ermittlungen in einer Glaubwürdigkeitsfalle. Die Bonner haben mit Festina mehr zu tun, als ihnen recht sein kann. Denn seit deren Stars Laurent Brochard, Laurent Dufaux und Alex Zülle publik gemacht haben, daß der Rennstall aus Andorra seine Fahrer im großen Stil mit illegalen Mitteln versorgt hat, stellt sich eine Frage automatisch: Können Ungedopte sich gegen Gedopte auf Dauer durchsetzen? »Ja«, sagt Telekom-Arzt Heinrich ohne zu zögern. »Nein«, glaubt Wildor Hollmann, eine Art Elder statesman der Sportmedizin. Das Tempo, das inzwischen bei der Tour de France gefahren werde, erklärte er ins Mikrofon des Telekom-Sponsors ARD, sei für das Gros der Pedaleure legal nicht zu bewältigen.

Ullrich hat sich als Schutzschild eine Standardreplik zurechtgelegt. In einem muffigen Hinterzimmer des Hôtel de la Paix in Pamiers wiederholt er, was er seit Tagen zum Thema Festina von sich gibt: »Ich konzentriere mich nur auf das Sportliche.«

In »Bild« ist der Held gesprächiger. Da berichtet er exklusiv von Akkupunkturnadeln gegen die Muskelmüdigkeit und einem Tee aus chinesischen Kräutern, dessen Rezeptur sein Masseur John Boel aus Sri Lanka mitgebracht habe: »In seinem Tee ist nur reine Natur« - auch eine Form von Deeskalation.

Die Good-will-Offensive der Telekom nach dem Festina-Desaster wirkt so aufgesetzt wie der plötzliche Transparenz-Drang diverser Kommissionen und Vereinigungen - auf einmal überfluten alle die Radsportwelt mit Besserungsvorschlägen.

So sollen, einem Vorstoß von 18 Team-Ärzten folgend, die Profis vom kommenden Jahr an beim Radsportweltverband UCI einen »Gesundheitspaß« hinterlegen, der Unregelmäßigkeiten bei Grenzwerten leichter erkennbar mache. Die Vereinigung italienischer Profirennfahrer tritt mutig für regelmäßige Epo-Tests ein. Und die Ärzte der UCI schritten sogleich zur Tat: Seit dem Festina-Ausschluß analysierten sie über hundert Blutproben. Kein Anlaß zur Besorgnis: Alle waren negativ.

Den Wert dieser prachtvollen Laborbefunde bezeichnet der Kölner Doping-Fahnder Schänzer als »höchst unbefriedigend«. Untersucht wird der Anteil von roten Blutkörperchen am Gesamtblut, der sich bei Epo-Konsum erhöht. »Aber die Fahrer«, so Schänzer, »wissen, wie man das Testresultat manipuliert.«

Mit welcher Gesinnung viele Radärzte ihre Profession betreiben, hat der Virenque-Internist Daniel Blanc offen ausgesprochen: »Klar könne man ohne Doping fahren«, das sei gut für das Gewissen, »aber mit Leistungssport hat das nichts mehr zu tun.«

Was sollen die Geldgeber also tun, die sich doch so gern an die kühnen Athleten schmiegen? Auch Juan Carlos Garay, Vorstandschef der Deutschen Bank in Spanien, wurde vorige Woche befragt, ob er es inzwischen bereue, als Co-Sponsor in das spanische Once-Team investiert zu haben. »Wir gehen davon aus«, verbreitete Señor Garay, »daß unser Team optimal sportlich und medizinisch betreut wird. Die Frage nach Doping stellt sich deswegen für uns nicht.«

Ausblenden, Leugnen, Gesundbeten sind gängige Reaktionsmuster im Millionengeschäft um Werbebotschaften und Einschaltquoten. Auch der Versicherungskonzern TVM hat so lange an die Lauterkeit seiner Radprofis geglaubt, bis der Sportliche Leiter Cees Priem und der Teamarzt Andrei Michailov für Tage in Polizeigewahrsam verschwanden.

Herbert Woratschek hat für den Aktivismus von Verband und Teambetreibern nur Häme übrig: »Das ist die klassische Mängelverwaltung.« Dieses Phänomen, so der Bayreuther Professor für Dienstleistungsmanagement, sei ihm geläufig bei Umweltkatastrophen: »Auch dann reagieren die Unternehmen erst, wenn das Kind in den Brunnen gefallen ist.«

Wie Krisen zu überstehen sind, darüber könnte sich die Radbranche bei anderen Sportarten informieren. Aus dem Doping-Desaster des Sprinters Ben Johnson, dem 1988 nach seinem Sieg im Olympischen 100-Meter-Finale die Einnahme anaboler Steroide nachgewiesen wurde, zog die internationale Leichtathletik die Konsequenz, auch im Training nach verbotenen Substanzen zu suchen.

Was sich die Radelite - angeblich aus organisatorischen Gründen - noch nicht traut, führte beispielsweise bei Wurfdisziplinen zu einem deutlichen Rückgang der Leistungen; ein sicheres Zeichen für die Wirksamkeit der Kontrollen.

Die Formel 1 überstand den Tod des weltbesten Piloten Ayrton Senna nahezu unbeschadet, weil der Automobilverband Fia umgehend die Notbremse zog und das technische Reglement korrigierte: Die Cockpits wurden sicherer, und um die Kurvengeschwindigkeiten zu reduzieren, wurden die Autos schmaler und die Reifen erhielten Profilrillen.

Selbst eine private Affäre muß für einen Sponsor nicht zum Schicksal werden - wenn er schnell die richtigen Schlüsse zieht. Als Peter Graf wegen Steuerhinterziehung ins Gefängnis mußte, beendete Opel die jahrelange Partnerschaft mit der tennisspielenden Tochter Steffi. Opel-Aufsichtsrat Hans Wilhelm Gäb fürchtete um »unseren guten Ruf«.

Daß das Publikum - wie auch im Falle Steffi Graf - etwas emotionaler und nachsichtiger reagiert, als es sich ein Automobilwerk leisten kann, ist dieser Tage in Frankreich zu besichtigen: Richard Virenque bleibt für seine Fans die Ikone, die zu schützen ist. Warum, fragten sich viele, die die Tour am Straßenrand verfolgen, müssen Virenque und sein Festina-Team für etwas büßen, das alle tun?

Auf diesen Effekt setzen auch die Strategen der Firma Upsolut, ein gutes Dutzend forsch auftretender Marketingleute aus dem feinen Hamburger Stadtteil Winterhude. Dem Bund Deutscher Radfahrer (BDR) haben sie vertraglich zugesichert, im Mai 1999 die eingemottete Deutschland-Tour wiederzubeleben: nur frischer, frecher, fröhlicher.

Bisher profitierten sie vom Rausch um Ullrich. Die Städte und Gemeinden buhlten darum, Etappenort zu werden; die Sponsoren schickten eifrig Vermarktungskonzepte ein; und Sat 1 wird die Bilder liefern, zwei Stunden täglich und garantiert so prall-bewegt wie von der Fußball-Bundesliga.

Und nun soll Schluß sein mit der Euphorie, bevor sie richtig losgetreten ist? Dem Doping-Sumpf bei der Tour, so hebt Upsolut-Geschäftsführer Christian Toetzke an, begegne er mit »kreativem Umgang«. Auch Martin Schütte, Öffentlichkeitsarbeiter beim Bierbrauer Warsteiner, will »sehr genau beobachten, ob Doping ein generelles Problem des Radsports ist«.

Schüttes Firma ist Sponsor der HEW-Cyclassics, eines Tagesrennens, das im letzten Jahr eine halbe Million Zuschauer in die Hamburger Innenstadt gelockt hat.

Am 16. August wird es wieder über die Bühne gehen. Gemeldet und zugelassen sind auch einige Fahrer, denen die Justiz auf die Schliche gekommen ist - Virenque und seine Kollegen vom Team Festina.

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