Stasi BEICHTSTUHL FÜR SPITZEL
Der Mann von der Stasi war in der Rechtschreibung nicht ganz sattelfest. Als er den Decknamen seines neuen Spitzels eintrug, verwechselte er die Buchstaben v und w - und schrieb mit leichter Hand »Möve« hin. Auch ein späterer Protest des Inoffiziellen Mitarbeiters »Möve«, der auf seinem »w« bestand, half nicht; der Führungsoffizier beharrte kraft Amtes auf dem »v«.
Es sollte die einzige Panne in der Zusammenarbeit zwischen »Möve« und der Stasi bleiben. Der Spitzel mit dem Rechtschreibfehler im Namen erwarb sich in 33 Jahren Schnüffeldienst den zweifelhaften Ruf, einer der bedeutendsten Sportspione der DDR zu sein.
Bis in die letzten Tage der DDR hinein sammelte »Möve« außerhalb der Republikgrenzen für Mielkes Reich Geheimes wie Belangloses von internationalen Sportführern und westdeutschen Athleten. Zu Hause bespitzelte er vornehmlich Kollegen und Nachbarn.
Zehn Aktenordner füllten sich so; »für besondere Leistungen« gab es 750 Mark Prämie oder »80 Liter Vergaserkraftstoff«. Da fällt ein Abschied schwer. »Sehr bewegt«, heißt es im Abschlußvermerk, habe »Möve« am 9. Dezember 1989 seinen Stasi-Dienst beendet. _(* 1991 mit dem ) _(Rudolf-Harbig-Gedächtnispreis. ) Seitdem konzentriert sich der Spion ganz auf sein Amt, das ihm auch den Zugang zu den höchsten Stellen des Weltsports ermöglicht hatte. Karl-Heinz Wehr, 63, der »Möve« war, arbeitet bislang unerkannt als Generalsekretär des Internationalen Amateur-Box-Verbandes (AIBA). Der Ex-Spion ist einer der wenigen deutschen Funktionäre, die in den Weltgremien des Sports Sitz und Stimme haben.
Die über 3000 Seiten seiner Akte werden ihn nicht nur um sein Amt bringen. Sie zeigen auch beispielhaft, mit welcher Intensität der Krake Stasi den für die Selbstdarstellung des zweiten deutschen Staates so eminent wichtigen Leistungssport umklammerte. Weil in nahezu allen medaillenträchtigen Disziplinen Sportler, Ärzte, Trainer und Funktionäre Geheimnisträger des Staatsdoping waren, blieb die Kontrolle bis in die Nachwendezeit total.
Geradezu sklavisch folgte der Deutsche Turn- und Sportbund der DDR (DTSB) dem Diktat der Stasi. Beim Gespräch mit MfS-Chef Erich Mielke buckelte der langjährige DTSB-Präsident Manfred Ewald: »Wir achten und ehren dich, und wir wissen, daß du der erfahrenste Mann auf dem Gebiet des Sports bist.« Aus Angst vor Mielke ordnete Ewald sogar noch 1989 das Weiterdopen an (siehe Seite 288).
Viele der Stasi-Berichte sind banal, andere naiver Büroklatsch. Doch etliche Unterlagen, deren Auswertung gerade erst begonnen hat, besitzen eine enorme Sprengkraft. Sie werden den deutschen Sport nachhaltiger durchrütteln als die Dopingdiskussion. Viele abgeschlossene Fälle müssen neu aufgerollt werden - und werden dann vor allem Ärzte und Trainer die neuen Jobs im gesamtdeutschen Sport kosten.
Womöglich spült die trübe rote Brühe, die jetzt aus den Akten dringt, auch noch Athleten weg, die sich eigentlich nach Kanzlermanier auf die Gnade der späten Geburt berufen könnten. Niemand kann heute ermessen, was Sponsor und Kunden empfinden, wenn das gesamtdeutsche Schwimm-Wunderkind Franziska van Almsick mal wieder die lila Werbekuh streichelt - gleichzeitig aber Berichte über die unappetitliche Spitzeltätigkeit ihrer Mutter Jutta die Runde machen (siehe Seite 291).
Anders als Kirche und Kultur hat sich der Sport bisher vor einer Aufarbeitung des Stasi-Erbes gedrückt. Das rächt sich nun. Beinahe täglich wächst das Heer der enttarnten Spitzel in Trainingsanzügen. Viele haben bereits eine neue Karriere begonnen. Je etablierter die einstigen Stasi-Zuträger im vereinten Deutschland sind, desto schwerer fällt nach dem Outing das Schuldgeständnis.
Um die Angst vor Enttarnung, das Abwiegeln und die Lügen endlich zu beenden, empfiehlt Hansjörg Geiger, stellvertretender Leiter der Berliner Gauck-Behörde, den obersten deutschen Sportführern, »eine Art Beichtstuhl« einzurichten.
Geiger weiß aus den wenigen bisher aufgearbeiteten Dokumenten vom Einfluß der Stasi. Die »Zentrale Planvorgabe für die Jahre 1986 bis 1990« forderte die »Nutzung von IM in Schlüsselpositionen«, um auf diese Weise »alle Unsicherheitsfaktoren rechtzeitig aufzudecken und kompromißlos zu beseitigen«.
Die Stasi schützte vor Geheimnisverrat und Abwerbungsversuchen. Für 380 internationale Gäste beim Leipziger Turnfest 1987 wurden 115 MfS-Mitarbeiter eingesetzt, um Kontakte zu DDR-Athleten zu unterbinden. Und um die Linientreue von Peter Schacke, dem EDV-Leiter des geheimen Forschungsinstituts in Leipzig, festzustellen, wurden 15 Bände mit Spitzelberichten zum Operativen Vorgang (OV) »Odra« gefüllt, ehe der Professor eine Unbedenklichkeitsbescheinigung erhielt.
Vor allem der westdeutsche Klassenfeind wurde argwöhnisch beobachtet. Mal wurden Daten ("13 000 Mark Monatsgehalt, verheiratet, ein Kind") vom Schwimm-Bundestrainer Manfred Thiesmann aus Warendorf gesammelt, weil er DDR-Schwimmerinnen mit finanziellen Versprechungen zur Republikflucht gelockt haben soll. Mal wurde, weil die liebesbedürftige Sprinterin Marlies Göhr mit dem westdeutschen Speerwurf-Olympiasieger und Puma-Repräsentanten Klaus Wolfermann nicht nur über das richtige Schuhwerk sprach, die OV-Akte »Puma« angelegt.
Die Akten werden viele neue Karrieren knicken. Exakt beschreibt eine Analyse der Hauptabteilung XX/3 vom 20. Juni 1975 die Verfahrensweise bei »der Anwendung unterstützender Mittel« - verantwortlich waren danach die Verbands- und Sektionsärzte. In den Olympiastützpunkten des neuen Deutschland tun noch 26 Doktoren dieser Spezies Dienst - die meisten sind künftig nach den Regeln des Deutschen Sportbundes (DSB) nicht mehr tragbar.
Der Ehrenpräsident des Deutschen Leichtathletik-Verbandes (DLV), Professor Georg Wieczisk, verliert ebenso seine Unschuld wie Waldemar Cierpinski, 43, der als zweimaliger Marathon-Olympiasieger in der DDR eine Art Nationalheld war. Wieczisk, das beweisen die Akten, war beteiligt, als es bei der Junioren-Europameisterschaft 1975 galt, das aufgeflogene Anabolika-Doping der damals 17 Jahre alten Marlies Göhr zu vertuschen.
Cierpinski, der inzwischen zwei Sportgeschäfte in Halle besitzt und eine Funktionärskarriere begonnen hat, mochte seine gerade erst geschlagenen Wurzeln im Kapitalismus lange nicht aufs Spiel setzen. Als vor gut einem Jahr in Halle anonyme Stasi-Listen auftauchten, dementierte der Olympiasieger energisch, »unter dem Decknamen Willi für das MfS gearbeitet zu haben«.
Tatsächlich aber hat Cierpinski am 26. April 1973 die »Schweigeverpflichtung« mit seinem Klarnamen unterzeichnet; dreieinhalb Jahre später wurde er offiziell als »IM Willi« geworben.
Auch jüngste Auszeichnungen müssen neu überdacht werden. Der DLV ehrte 1991 den Läufer Hans Grodotzki mit dem Rudolf-Harbig-Preis. Der Olympia-Zweite von Rom (1960) galt als »Symbolfigur« der deutschen Vereinigung. Den neuen Ruf bestätigte Grodotzki, als er jetzt mithalf, den Geher-Weltmeister Ronald Weigel als Spitzel zu outen. Doch es gibt auch eine Akte Grodotzki - er wurde unter dem Decknamen »Dieter Bauer« geführt.
Wie tief die Stasi ins Sportgeschäft eingedrungen ist, zeigt sich beispielhaft in Jena. Nahezu alle Trainer und Ärzte des SC Motor, die heute noch im Sport arbeiten, hatten Stasi-Kontakte (siehe Grafik). Mal wurden sie gezwungen, wie Hochspringer Rolf Beilschmidt nach unerlaubten Westkontakten; mal wollten sie, wie der Sportarzt Hartmut Riedel, »mit allen Mitteln nach oben«.
Das Netz war so eng, daß auch Spitzel wieder bespitzelt wurden. Deshalb ist die sozialistische Variante jenes Telefonverkehrs überliefert, der in England die Königskinder Prinz Charles und Lady Di endgültig entzweite. Bei Gesprächen mit seinem von ihm überwachten Schützling, der Speerwerferin Fuchs, hauchte Jenas Trainer Hellmann schon mal ein »Ruthchen« in den Hörer. Die Partnerin am anderen Ende der Leitung ("Ich bin nackt") fragte dann zurück: »Träumst du schön von mir?«
Enttarnte Spitzel, sofern sie populär sind, nutzen die neue Lobby. Als eine Kanutin ihren Kollegen Torsten Krentz als »IM Torsten Stark« identifizierte, schlug die Krentz-Freundin Katrin Krabbe über Bild auf das Opfer ein: Es wolle sich »nur mit Hilfe meines Namens in den Vordergrund spielen«.
Die Weitspringerin Heike Drechsler war schon monatelang über ihre Akten als »IM Jump« informiert; selbst DLV-Präsident Helmut Digel ("Warum sagt die nichts?") wunderte sich über ihr Schweigen. Als die Vorwürfe vor fünf Wochen publik wurden, tat die Weltmeisterin erst überrascht, beschuldigte dann in einer Fernseh-Talk-Show den neben ihr sitzenden Führungsoffizier Heinz Bergner, er habe sie hereingelegt. Nachdem die Kameras abgeschaltet waren, knuffte sie, glücklich über das gelungene Schauspiel, dem altbekannten Stasi-Mann freundschaftlich in die Seite.
Wenn die Opfer der Lauschangriffe sehen, wie die ehemaligen Verräter nun hofiert werden, fühlen sie sich ein zweites Mal betrogen. Besonders in den Sportzentren der ehemaligen Armeesportklubs (ASK) und der Polizei- und Stasivereinigung Dynamo haben die alten MfS-Zuträger durch die Wende nur einen vorübergehenden Karriereknick erlitten. Sie bilden längst neue feste Seilschaften. »Da fühlt man sich als ehemaliges Opfer schon wieder bedroht«, sagt ein ehemaliger ASK-Leichtathlet, den insgesamt zwölf IM ausspioniert haben.
Die Perspektive der Opfer ist betrüblich. Als Gauck-Vertreter Geiger vor der Enquete-Kommission des Bundestages zur Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit über den Stasi-Sport berichtete, bezichtigte DSB-Präsident Hans Hansen den Überbringer der schlechten Nachricht der »billigen Effekthascherei«.
Vielleicht wird ja das weitere Schicksal von »Möve« wegweisend. Denn die internationalen Funktionäre werden wohl kaum die Anschuldigungen aussitzen wollen, die ihr Generalsekretär Wehr in die MfS-Kladden diktierte.
So lauschte Wehr für die Stasi sogar bei den Olympischen Spielen 1988 in Seoul und erfuhr die Hintergründe über die Skandalurteile beim Boxturnier: Südkoreas Boxpräsident Kim Seung Youn habe fünf Kampfrichter mit insgesamt 15 000 Dollar geschmiert, damit seine Landsleute zu Medaillen kommen. Auch AIBA-Präsident Anwar Chowdhry aus Pakistan sei »in diese Manipulationen einbezogen« worden.
Über den umtriebigen Chowdhry, der eng mit Juan Antonio Samaranch, dem Präsidenten des Internationalen Olympischen Komitees, verbandelt ist, will Wehr auch Einblick in die Usancen weltweiter Sportpolitik bekommen haben. Adidas habe den Pakistaner mit 250 000 Dollar im Jahr gespickt. Und als der Olympiabewerber Athen vor der Vergabe der Spiele 1996 dem Box-Mann 100 000 Dollar angeboten habe, habe Chowdhry nur kühl gekontert: Diese Summe habe ihm bereits Athen-Konkurrent Toronto zugesichert.
* 1991 mit dem Rudolf-Harbig-Gedächtnispreis.