Bier und Medaillen
Wenn mehr Athleten ein bißchen Schau bieten würden«, brachte der Brite David Bedford, 21, die auf Seriosität bedachten Funktionäre gegen sich auf, »dann kämen auch mehr Leute.«
Bedford bietet den Zuschauern mehr als andere: Er trägt einen Schopf wie Pop-Stars und Schnurrbart wie ein Revolutionär. Während eines Zehnkilometer-Rennens foppt er die Mitläufer plötzlich mit einer Sprintrunde. Dann winkt er seinen Anhängern zu.
»Ich werde bei den Europameisterschaften in Helsinki zwei Goldmedaillen gewinnen«, kündigte er wie Cassius Clay Erfolge an, »und ich werde 1972 in München zweimal Olympiasieger -- im 5000- und 10 000-Meter-Lauf.«
Bisher hielt der Favorit für den 10000-Meter-Lauf bei den europäischen Titelkämpfen am Dienstag dieser Woche, was er versprochen hatte: Bedford stellte 1971 schon vier Europarekorde auf.
»Die Ära Bedford hat begonnen«, registrierte die französische Sportzeitung »L'Equipe«. Tatsächlich verrückte der Brite bisher gültige Maßstäbe. Im Alter von 14 Jahren begann er gezielt, Langstreckenlauf zu trainieren. In diesem Jahr dehnte er sein Tagespensum bis zu 50 Kilometer aus, wöchentlich trabt er 320 Kilometer. So wird er 1971. wenn er gesund bleibt, ungefähr 15 000 Kilometer zurücklegen -- soviel wie ein Durchschnitts-Städter in seinem Auto.
»Laufe nur so scharf, daß du dabei singen kannst«, hatte Lauri Pihkala, der Trainer des finnischen Rekordlers Paavo Nurmi, einst empfohlen. »Gelände-Training soll die Transpiration fördern. aber nicht den Atem rauben.«
Finnische Langstreckler übten als erste systematisch Jahre hindurch. Nach dem Ersten Weltkrieg muteten sie sich schon zehn bis zwölf Kilometer täglich zu. Aber großenteils marschierten sie in Stiefeln, weil sie von zu langen Läufen ernste Schäden befürchteten. Zudem legten sie im Winter eine Trainingspause ein.
Dennoch leisteten Finnen damals am meisten: Von 1920 bis 1936 erkämpften sie im 5000- und 10000-Meter-Lauf acht von zehn möglichen olympischen Goldmedaillen. Nurmi siegte allein neunmal bei Olympischen Spielen und stellte 24 Weltrekorde auf.
Der Tschechoslowake Emil Zatopek verdoppelte 30 Jahre später ungefähr das Trainingsmall der Finnen. Er übte auch im Winter und spurtete sogar 60mal nacheinander 400 Meter. Bis zu 25 Tages-Kilometer halfen Zatopek 1954, den 10000-Meter-Weltrekord Nurmis um 72,4 Sekunden auf 28:54,2 Minuten zu unterbieten. Zatopeks 5000-Meter-Weltrekord (13:57.2 Minuten) änderte die Bestleistung von 1912 um 39.4 Sekunden.
Bis Zatopeks Nachfolger die Langstrecken-Rekorde abermals um dieselbe Spanne zu drücken vermochten, mußten sie auch das Zatopek-Training nahezu verdoppeln. Der Australier Ronald Clarke trabte täglich bis zu 45 Kilometer und knappste den Weltrekorden des Tschechen über 5000 Meter 40.6 und über 10000 Meter 74,8 Sekunden ab. Seine noch gültigen Bestleistungen 13:16,6 und 27:39,4 Minuten.
Nicht alle Läufer überstanden den Dauerlauf Jahre hindurch. Einige, wie der sowjetische Olympiasieger Wladimir Kuz, mußten ihre Laufbahn wegen eines Magengeschwürs vorzeitig abbrechen. Andere erholten sich nicht wieder -- wie der zweifache Silbermedaillen-Gewinner von 1960, Hans Grodotzki aus der DDR, von einem Achillessehnen-Riß. Wettkampf-Streß und Verschleiß an Sehnen und Gelenken treiben die Ausfall-Rate in die Höhe und künden wie Warntafeln die Grenzen an.
Auch dem Briten Bedford, der in Helsinki den 10000-Meter-Weltrekord Clarkes angreifen will, haben Verletzungen 1970 nur zwei ernsthafte Rennen erlaubt. Er gab sein Pädagogik-Studium auf und verdiente sich als Angestellter einer Papierfabrik eine Barrücklage. Oft sparte er die Zeit zur täglichen Rasur und hechelte statt dessen sofort zur Arbeit. »In der Nähe von Kings Cross wachte ich gewöhnlich auf«. ulkte er über sein Frühtraining.
Mittags setzt er sein Trainingsprogramm fort, abends folgt der dritte Teil. Inzwischen kündigte er für den Sommer seinen Job. Vor einem Rennen versucht er seine Konkurrenten noch im Umkleideraum zu überzeugen, daß sie keine Chance gegen ihn hätten.
Bedford ist auch kein Schönwetterläufer wie viele. Einen Europarekord lief er bei scharfem Wind und Regen, den zweiten, die beste 10000-Meter-Zeit nach Clarkes Weltrekord, bei 30 Grad Hitze; 17 von 30 Läufern gaben das Rennen auf. Bei Britischen Meisterschaften im Geländelauf startete -- und siegte -- Bedford nacheinander im Rennen über neun und sechs Meilen.
»Ich glaube nicht an all diese Steak Diät«. winkte der aufmüpfige Läufer ab, »an nicht rauchen, nicht trinken und um halb acht allein schlafen gehen.« Der Lauf-Rekordier tanzt viel. schmaucht Brasil-Zigarren und bevorzugt Bier. Er setzt seinen Stolz daran, zu laufen und trotzdem »zu leben wie die anderen Jungen -- das befriedigt mich«. Er fürchtet nur eins: »Daß ich wegen meines Namens geheiratet werde.«
Die Funktionäre verfolgen Bedfords Doppelleben zwischen Tartan und Theke voller Mißtrauen. Als er im Rennen um die britische 5000-Meter-Meisterschaft wegen eines Krampfes aufgeben mußte, strichen sie ihn für diese Distanz bei den Europameisterschaften.
»In Helsinki spricht keiner mehr von ihm«, prophezeite Frankreichs Rekordläufer Jean Wadoux. »Bis dahin hat er sich kaputtgelaufen«