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Bis drei Uhr morgens

Moskaus Olympia-Vorbereitungen laufen -- fast -. nach Plan. Sorgen bereiten die Verpflegung der Besucher und Olympias Auswirkungen auf die sozialistische Moral.
aus DER SPIEGEL 23/1979

An Moskaus Häuserwänden, in Schaufenstern und auf Plakatflächen, wo normalhin Lenin auf die Genossen niederblickt oder »Ruhm der KPdSU« gewünscht wird, lächelt neuerdings ein verschmitzter Pummel-Bär: »Mischa«, das Maskottchen der XXII. Olympischen Spiele, die 1980 in Moskau ausgerichtet werden.

Den Mischa, mit einem Gürtel, den die olympischen Ringe zieren, gibt es als Abzeichen, als Flauschtierchen, als Schlüsselanhänger und Aufkleber. Der niedliche Bär hat es beinahe geschafft, das offizielle Emblem der Moskauer Spiele zu verdrängen (die fünf Ringe mit einem stilisierten Hochhaus und dem Sowjetstern obendrauf), das längst alle Flugzeuge der »Aeroflot« ziert.

Dort, wo die Aeroflot-Maschinen in langen Reihen parken, auf dem Internationalen Flughafen von Scheremetjewo, soll das neue Abfertigungsgebäude von Ende '79 an den desolaten alten Flughafenbau entlasten, dessen düstere Ankunftshalle und ächzende Kofferbänder den Besucher kaum ahnen lassen, daß er soeben in einer Metropole gelandet ist.

Moskau, das als erste Stadt eines kommunistisch regierten Landes Olympische Spiele ausrichtet, nutzt die Gelegenheit für die Gesamtplanung. Die Olympia-Architekten erhielten nicht etwa die Aufgabe, für die Spiele zu bauen, was eventuell nachher für die Sowjethauptstadt noch genutzt werden kann. Sie sollen vielmehr nach Auskunft des Stadtsowjets und des Olympischen Komitees für den dauernden Nutzen der Stadt und ihrer Bürger bauen, was nebstbei auch für die Spiele gebraucht wird.

Bestes Beispiel dafür ist das Olympische Dorf, in dem die meisten der erwarteten 12 000 Sportler und Betreuer wohnen sollen. Das Dorf mit 18 Hochhäusern, bestehend aus Zwei- und Dreizimmerwohnungen, wird mit Kindergärten, Schulen, Kulturzentrum und Einkaufszentrum gebaut. Sofort nach Abreise der Sportler sollen die künftigen Mieter einziehen.

Entsprechend dieser Konzeption gibt es auch keine genaue Kostenaufstellung für die Spiele. Die Aufwendungen sind unter anderem auf die Budgetpläne sämtlicher beteiligter Behörden, Ministerien, des Moskauer Stadtsowjet und des Olympischen Komitees (OK) verteilt.

Moskaus Oberbürgermeister Promyslow hat die Gesamtkosten für alle Bauten, die aus Anlaß der Spiele hochgezogen werden, auf etwa eine Milliarde Rubel (rund drei Milliarden Mark) beziffert. Das OK schätzt die direkten Investitionen, die nur dem Sport dienen, auf rund 700 Millionen Mark.

Die Moskowiter bauen weitgehend auf bereits Vorhandenes, etwa das Lenin-Stadion an der Moskwa, das als Eröffnungs- und Hauptkampfstätte nur geschönt und ausgebaut wird. Insgesamt werden ein Dutzend schon vorhandener Arenen lediglich für Olympia renoviert, dazu kommen zehn neue Komplexe.

Die größte Sportbaustelle ist ein Stadion-Komplex am Prospekt Mira, wo Wettkämpfe in Fußball, Basketball, Boxen, Schwimmen und Kunstspringen stattfinden und je nach Veranstaltung zwischen 5000 und 45 000 Zuschauer Platz finden -- laut OK der größte derartige Komplex in Europa.

In der Sportzone Krylatskoje entstehen Radrennbahnen, Schießplätze und ein Ruderkanal; die Reitarena soll nach den Spielen als großer Reitpark für die Moskauer bestehen bleiben.

Völlig neu errichtet wird ein zentrales Pressezentrum für die 7400 erwarteten Berichterstatter, davon mehr als die Hälfte von elektronischen Medien.

Hektisch hochgezogen werden neue Hotels. Moskau hat zwar mit dem 6000-Betten-»Rossija« eines der größten Touristenhotels der Welt, aber angesichts der 600 000 erwarteten Olympia-Besucher (davon 300 000 aus dem Ausland) viel zu wenig Gästebetten.

Im Stadtviertel Ismailowo entsteht ein Touristen-Komplex mit 10 000 Betten, ein französisch-jugoslawisches Konsortium baut das supermoderne »Kosmos«-Hotel. Einige 10 000 provisorische Unterkünfte bieten die Studentenheime der Stadt, deren Insassen für die Zeit der Spiele die Stadt verlassen sollen.

Deutschlands Chef-Olympier Willi Daume, eifriger Moskau-Besucher und -Berater in Sachen Olympia, hat für die Bundesrepublik ein Kartenkontingent von 146 000 Stück gesichert, fast zehn Prozent der im Westen verkauften und ausreichend für gut 15 000 Besucher. Daume hat keinen Zweifel, daß die sportliche Organisation klappen und selbst die Unterbringung der Gäste keine größeren Probleme bringen wird.

Doch auch er vermag noch nicht zu sehen, wie ablaufen soll, was Moskaus Einwohner tagtäglich von neuem verzweifeln läßt: die Verpflegung.

In der Acht-Millionen-Stadt servieren insgesamt nur etwa 30 Restaurants warme Mahlzeiten. Schon zu ganz normalen Zeiten ist es ohne Vorbestellung oder satten Bakschisch mittags wie abends kaum möglich, in einem Innenstadt-Lokal einen Platz zu ergattern. Kriegt man einen, dehnt gemütlich arbeitendes Personal eine mehrgängige Mahlzeit leicht auf zwei, drei Stunden aus. Was, wenn nun in zwei Wochen des kommenden Sommers hunderttausend zusätzliche Gäste gleichzeitig speisen wollen?

Die dafür verantwortliche Funktionärin im OK will da kein Problem sehen: Der Moskauer Stadtsowjet habe 25 Millionen Rubel für den Ausbau eines zusätzlichen, zum Teil provisorischen Versorgungsnetzes bereitgestellt. Damit würden 150 Kantinen und Restaurants, insgesamt 400 Speisestätten, ausgerüstet, auch mit Selbstbedienung.

Die bestehenden Restaurants, die um 23 Uhr schließen, sollen während der Spiele bis ein, teilweise sogar drei Uhr morgens geöffnet sein. International erfahrene Massen-Gastronomen wie »Wienerwald« wollen Grillanlagen für das Olympische Dorf liefern.

Westfirmen sehen in den Spielen einen guten Anlaß, mit den Russen ins Geschäft zu kommen -- und die nützen das. Als Eintrittskarte für ein lohnendes Olympia-Geschäft gilt eine Morgengabe im Wert von 100 000 Mark. An die 400 deutsche Firmen beteiligen sich an dem Rennen, Adidas etwa läßt in Moskau eben eine eigene Sportschuh-Produktion anlaufen, Wella liefert die Ausrüstung für 77 olympische Frisiersalons.

Auch Coca-Cola, bisher im Sowjetreich von der Konkurrenz Pepsi ausgestochen, wird bei Olympia dabeisein. Japaner schenkten dem OK ein halbes hundert Kameras mit allem Zubehör. Eine Menge Devisen bringen die ungewöhnlich teuren Fernsehrechte (NBC zahlte für die Übertragungen nach Amerika 85 Millionen Dollar), Reklameflächen sowie die Olympia-Münzen in Silber, Gold und Platin, die einen Erlös von über 200 Millionen Dollar einbringen sollen.

Damit die Touristen-Valuta auch tatsächlich in den Tresoren der Staatsbank und nicht in den Taschen von Schwarzhändlern landen, werden an allen wichtigen Plätzen motorisierte, von Finnen entworfene Bankwagen aufgestellt, die stündlich 300 Kunden bedienen können.

Obwohl es bis zu den Spielen noch über ein Jahr hin ist, läuft in den sowjetischen Medien die Olympia-Werbung auf Hochtouren. Ob im Kreml-Kongreßpalast Schüler einen Ballettabend veranstalten und den Erlös für Olympia spenden, ob das viertausendste Plakat für einen olympischen Poster-Wettbewerb eingegangen ist oder Charkower Taubenzüchter 1000 Brieftauben speziell für die Spiele ausbilden -- Olympia 80, meist garniert mit Mischa, ist täglich in den Nachrichten.

Es läuft auch die ideologische Aufrüstung für die nach sechs Jahrzehnten Sowjet-System erste direkte Konfrontation der isolierten Bevölkerung mit unkontrollierbaren Massen kapitalistischer Ausländer. Über 10 000 Dolmetscher werden eigens für die Betreuung der Olympia-Ausländer geschult.

Deshalb warnte Politbüromitglied Wiktor Grischin seine Landsleute bereits vor den Gefahren, die in dieser ungewohnten Massenbegegnung lauern: Die Moskowiter sollten den Fremden warmherzig und gastfreundlich begegnen, ihnen »die Vorteile sowjetischer Lebensart« demonstrieren, aber strikt »Angriffe auf die Ideale des Sozialismus« zurückweisen, ebenso alles, was sowjetischer Lebensart fremd sei.

Nun werden die meisten Gäste weniger mit Angriffen auf den Sozialismus als mit Kaugummi, Kugelschreibern und Jeans ankommen. Und da werden sich, wie die Erfahrung lehrt, die Hauptstädter, vor allem die Jugend, mit dem Zurückweisen schwertun.

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