Bis zum Schädelbruch
Mit unterschiedlich besohlten Fußballstiefeln betrat Eintracht Frankfurts Mannschaftskapitän Jürgen Grabowski den vereisten Platz in Bielefeld. Er rutschte mal auf dem rechten, mal auf dem linken Fuß meterweit.
Fußballweltmeister Grabowski riet Schiedsrichter Gabor, die Partie abzusagen. Doch der Schiedsrichter pfiff an, wie es der Deutsche Fußball-Bund (DFB) in einem Rundschreiben vom 16. Januar 1979 gefordert hat: »Die Spielfelder sind mit allen zu Gebote stehenden Mitteln auch bei schlechter Witterung bespielbar zu machen.«
In Bielefeld unterwarfen sich die Stadt als Platzeigner, der einheimische Klub und der Schiedsrichter dem DFB-Diktat, ausgefertigt vom Spielleiter Hermann Schmaul: »Früher, als es noch Kerle gab, wurde im Winter immer gespielt, ohne zu klagen.« So hart war es in den ersten Bundesligajahren hergegangen, daß zwei Spieler mit Schädelbasisbrüchen vom Eisparkett geborgen wurden.
In Bielefeld mußte Spielverweigerer Grabowski seine aussichtslose Schuhwahl treffen und spielen. »Entartete Kunst«, murrte er. »Wo liegt der Sinn, wenn es zur wichtigsten Sache wird, die eigene Haut zu retten?«
Von 27 geplanten Spielen im Januar fielen 19 aus. Klubs wie der MSV Duisburg, Eintracht Braunschweig und der 1. FC Köln haben seit dem 9. Dezember 1978 kein Heimspiel mehr ausgetragen. Den Einnahmeausfall überschlugen die Klubschatzmeister mit etwa 2,5 Millionen Mark.
Die ausgefallenen Spiele müssen im Frühjahr so gedrängt angesetzt werden, daß mancher Klub dreimal pro Woche antreten muß. »Am 14. und am 18. April sollten wir zweimal gegen Fortuna Düsseldorf spielen, einmal um die Meisterschaft, einmal im Pokal«, rügte Duisburgs Manager Heinz Neuhaus.
Wagemutig, wie es der DFB verlangE aber auch wegen des Debets von drei Millionen Mark, spielte Hertha BSC Berlin zweimal auf Eis und Schnee. Zum Spiel gegen Nürnberg kamen statt der erhofften 25 000 Zuschauer nur 9717, gegen Darmstadt 6840. Die DFB-Treue könnte für den Berliner Klub mit einem Fußtritt enden: Hertha droht wegen der großen Verschuldung Lizenz-Entzug.
Eintracht Braunschweig, der MSV Duisburg und der VfL Bochum nahmen bei Banken Kredite auf, um die Spieler bezahlen zu können.
Sogar der ruhmreiche Hamburger SV (Mannschaftskosten pro Monat: 650 000 Mark) lebt derzeit vom Überziehungskonto bei seiner Bank. Für 80 000 Mark ließ er letzte Woche Schnee räumen, um das Spitzenspiel gegen den VfB Stuttgart austragen zu können. Zwei Wochen zuvor hätte die Partie gegen Werder Bremen kaum viel mehr als die Räumungskosten eingebracht. Für das Stuttgart-Spiel schippten Spieler und Fans freiwillig Schnee.
Nur zwei der 18 Bundesligaklubs verfügen über eine Rasenheizung. In Frankfurt spielte die Eintracht schon zweimal auf dem Rasen über den Thermen. Kosten der Anlage: rund 600 000 Mark. In München nützten auch die heißen Wasserrohre unter dem Spielfeld dem FC Bayern nichts. Zum Spiel gegen Dortmund prangte zwar das Spielfeld frühlingsgrün. Die Zuschauerränge blieben jedoch verschneit.
Zwei Wochen später räumten die Bayern Ränge und Parkplätze zum Schlagerspiel gegen Schalke 04 für 50 000 Mark, doch nur 11 000 Zuschauer wollten Fußball im Winter sehen. »Obwohl der FC Bayern finanziell gesund ist«, erklärte Bayern-Präsident Wilhelm Neudecker, »bin ich dafür, im Winter eine Pause, möglichst im Januar und Februar, einzulegen.«
Die Mehrheit der DFB-Bürokraten will es so belassen, wie es schon immer war. »Alle, die fordern, der DFB solle flexibler sein«, verteidigte DFB-Pressechef Dr. Wilfried Gerhardt, »können selbst keine Lösung anbieten.«
Da irrt der DFB-Herr: In den Monaten August bis Oktober könnte drei- bis viermal am Mittwochabend unter Flutlicht gespielt werden. In der Saison vor der Weltmeisterschaft 1978 setzte der DFB im Spätsommer drei Mittwoch-Termine an, diesmal keinen. »Spielen auf Vorrat, wenn die Luft lau ist, finde ich das beste«, meinte Grabowski.
Je nach der Entwicklung des Wetters sollte so lange gespielt werden, bis Schnee, Eis und Nebel den Rasen unsichtbar machen. Dann könnte die Bundesliga Spieltage komplett absagen, an denen ohnehin wenig Zuschauer zu erwarten sind. In allen 15 Bundesligaspielzeiten zahlten bislang im Sommer an jedem Spieltag mit neun Begegnungen bis zu 322 000 Zuschauer Eintritt.
In den Wintermonaten, auch wenn kein Frost die Lage verschärfte, sank der Zuschauerschnitt unter 200 000. In der Vorrunde, zu Beginn der laufenden Spielzeit, besuchten durchschnittlich 26 000 Zuschauer jedes Bundesligaspiel. Die drei Spiele am vorletzten Wochenende mochten jeweils kaum
* Nationalspieler Manfred Kaltz im Hamburger Volksparkstadion.
15 000 Fans live erleben. Auf Protest der Klubs verlängerte der DFB die Saison um einen Juni-Spieltag. Im Februar muß weitergespielt werden.
Der Dortmunder Sportdezernent Erich Rüttel kritisierte die Durchhalte-Appelle des DFB: »Nur fehlende Solidarität der Städte ermöglicht das DFB-Diktat, auf Teufel komm raus zu spielen, gleich, wie's gebt.«
Als der DFB beleidigt auf die Rüttel-Reime reagierte, antwortete der Oberstadtdirektor: »Glauben Sie wirklich, daß es der Mehrheit unserer Bürger bei dermaßen katastrophalen Witterungs- und Straßenverhältnissen vordringlich erscheint, Fußballspiele besuchen zu können?« Rüttel rügte den DFB, Druck auf die Städte über Fernsehen, Rundfunk und Zeitungen auszuüben. »Glauben Sie nicht auch«, so Rüttel, daß die Stadtväter »mit erheblicher Bürgerkritik rechnen müssen, wenn sie zwar die Fußballstadien bespielbar, die Straßen aber nicht begehbar machen?«
Sogar DFB-Präsident Hermann Neuberger sagte vor Jahren: »Wir müssen flexibler werden.« Durchsetzen konnte er sich gegen die Durchhaltekameraden in seinem Verband nicht. Zudem weiß Lotto- und Toto-Direktor Neuberger, daß auch seine Kollegen in den Totohäusern die Bundesliga für unverzichtbar halten. »Ein Wochenende ohne Bundesliga«, erklärte Totodirektor Albert Lepa in Hannover, »ware das Harakiri der Fußballwette.«
Besonders die Schweizer schätzen die deutsche Toto-Treue sehr und setzen die alemannischen Winterspiele auf ihren Tippzettel. Schweizer Fußballer pausieren nämlich bis März.