ARD zeigt Box-WM Experiment ohne Risiko

Staredown mit Maske und Abstand: Weltmeister Bösel (l.), Herausforderer Krasniqi
Foto: Christian Schroedter / imago imagesDer bislang letzte Boxkampf, der live in der ARD übertragen wurde, dauerte genau 55 Sekunden. Dann hatte Jürgen Brähmer den Polen Pawel Glazewski ausgeknockt - und die Sendereihe "Boxen im Ersten" vorerst gleich mit. Das war am 6. Dezember 2014.
Schon acht Monate zuvor hatte die ARD das Ende der seit dem Jahr 2000 laufenden exklusiven Zusammenarbeit mit dem Berliner Sauerland-Stall verkündet. Eine Hintertür ließ sich die ARD damals aber offen: Die Entscheidung gegen eine Vertragsverlängerung sei keine grundsätzliche Entscheidung gegen den Profiboxsport, hieß es in offiziellen Stellungnahmen. "Einzelkämpfe im Ersten sind denkbar", sagte ARD-Sprecherin Anna Engelke der "Sport Bild". Sechseinhalb Jahre später ist es nun so weit: "Boxen im Ersten" kehrt am Samstagabend mit dem Duell zwischen Dominic Bösel und Robin Krasniqi zurück (live ab 23.15 Uhr).
Doch warum steigt die ARD gerade jetzt wieder in Box-Übertragungen ein - und warum gerade mit diesem Kampf?
"Mehr geht nicht"
Promoter Ulf Steinforth hat dafür eine einfache Erklärung: "Dominic und Robin haben es einfach verdient, sich auf dieser Bühne zu präsentieren. Zwei deutsche Vorzeigesportler, die gegeneinander um die WM boxen – mehr geht doch nicht." Aus seiner Perspektive mag das stimmen. Schließlich hat der Veranstalter beide Boxer unter Vertrag und hätte seinen Job verfehlt, wenn er etwas anderes sagen würde.
Tatsächlich ist Bösel seit November 2019 Interims-Weltmeister der World Boxing Association (WBA) und hält zudem den Champion-Titel der weniger bedeutenden International Boxing Organization (IBO). Beide Gürtel stehen am Samstagabend in Magdeburg auf dem Spiel. Insofern hat Steinforth recht, dass er einen Weltmeisterschaftskampf präsentieren kann, was für die ARD ein wichtiges Argument sein dürfte.

Dominic Bösel: Nummer 13 der Welt mit zwei WM-Gürteln
Foto: Hendrik Schmidt / dpaAllerdings gehört auch zur Wahrheit, dass im Profiboxen das Prädikat WM nicht automatisch bedeutet, dass die Besten der Welt gegeneinander antreten, weil es einfach so viele verschiedene Titel und Organisationen gibt.
In der sogenannten unabhängigen Weltrangliste wird Bösel im Halbschwergewicht auf Position 13 geführt. Damit ist er mit Abstand der beste Deutsche in seiner Gewichtsklasse, aber es gibt eben auch zwölf andere, die international höher eingeschätzt werden. Krasniqi, der von 2018 bis 2019 Europameister im niedrigeren Supermittelgewicht war, steht bei den Halbschweren aktuell auf Position 42. Das klingt nicht übermäßig beeindruckend, ist bei 1.206 aktiven Boxern in dieser Klasse aber auch keine schlechte Platzierung.
"Der Bengel kann boxen"
Die Ansetzung ergibt also durchaus Sinn – vor allem für Promoter Steinforth, der unabhängig vom Ausgang sicher sein kann, weiterhin einen Weltmeister in seinem Stall zu haben. Für die ARD war die Paarung aber nicht das entscheidende Argument, wieder ins Boxen einzusteigen. Schließlich wollte der Sender eigentlich schon im März Bösels geplante Titelverteidigung gegen den Australier Zac Dunn übertragen. Die Pandemie durchkreuzte die Pläne, in Dunns Heimatstadt Melbourne gilt nach wie vor ein vergleichsweise strikter Lockdown.
"Damals konnte niemand ahnen, dass sich der Termin um ein halbes Jahr verschieben würde und der Gegner aufgrund der Corona-Bestimmungen nicht mehr derselbe sein könnte", sagt ARD-Sportkoordinater Axel Balkausky. "Umso gespannter sind wir nun auf das Aufeinandertreffen der beiden deutschen Boxer."
Dem Sender geht es also vor allem um Bösel – und das aus nachvollziehbaren Gründen. Der 30-Jährige "sieht gut aus und kommt bei den Mädels an", wie Promoter Steinforth dem SPIEGEL schon 2017 sagte. Und: "Der Bengel kann boxen." Das klingt nach guten Voraussetzungen für eine erfolgreiche Karriere. Trotzdem ist es Bösels erster Auftritt im ganz großen Scheinwerferlicht.
Der 1,85 Meter große Titelträger aus dem sachsen-anhaltinischen Freyburg an der Unstrut ist zwar seit Jahren Hauptkämpfer auf Steinforths Veranstaltungen und in Jena, Leipzig, Dresden, Halle an der Saale und Magdeburg "ein absoluter Ticketseller", wie Steinforth sagt. Doch bislang wurden seine Kämpfe "nur" unter dem Label "Sport im Osten" vom MDR übertragen.
Entwicklung der Einschaltquoten
Das dürfte allerdings der Hauptgrund dafür sein, dass es Bösel jetzt in die große ARD geschafft hat. Schließlich war der MDR früher für die Produktionen der Reihe "Boxen im Ersten" verantwortlich und dürfte für die Neuauflage lobbyiert haben. Promoter Steinforth arbeitet seit fünf Jahren eng mit der Landesrundfunkanstalt zusammen.
In diesen fünf Jahren konnte Bösel nicht nur sportlich Erfahrung sammeln, sondern auch eine Reichweite aufbauen, die deutlich über das MDR-Kernsendegebiet hinausging. Mehr als eine Million Zuschauer verfolgten seine letzten Kämpfe bundesweit – starke Zahlen für ein drittes Programm, die auch in der ARD-Zentrale wahrgenommen wurden und Hoffnung auf eine gute Einschaltquote im Ersten machen.
Die ist für einen öffentlich-rechtlichen Sender zwar offiziell kein Hauptargument bei der Programmplanung. Doch rückläufige Zuschauerzahlen dürften ein Grund für den Ausstieg aus den Box-Übertragungen vor sechs Jahren gewesen sein. Profiboxen spricht grundsätzlich ein relativ altes Publikum an, der Marktanteil in der werberelevanten Zielgruppe lag immer deutlich unter dem Gesamtzuschauerschnitt.
Das ist leicht zu verkraften, wenn sechs oder sieben Millionen Menschen einschalten, wie es bei der ARD zu den Glanzzeiten von Sven Ottke oder Arthur Abraham der Fall war. Doch 2014 interessierten sich nur noch rund drei Millionen Zuschauer für "Boxen im Ersten". Dafür waren wohl die Lizenzgebühren zu hoch. Mehr als zehn Millionen Euro soll die ARD jährlich an den Sauerland-Stall überwiesen haben. In offiziellen Sender-Statements zum Aus der Zusammenarbeit war 2014 von "enger werdenden Perspektiven im Sportrechteetat" und "zunehmend eingeschränkten finanziellen Rahmenbedingungen" die Rede.
Auch das ZDF zeigt wieder Boxen
Inzwischen dürfte sich die Situation verändert haben. Die ARD wurde im Bieterwettkampf um wichtige Sportrechte vermehrt von Konkurrenzen ausgestochen: Die Olympischen Spiele gingen bis 2024 an die Discovery-Gruppe und werden in Deutschland vor allem bei Eurosport gezeigt; Qualifikationsspiele zur Fußball-EM laufen bei RTL; den Zuschlag für die Übertragung der Heim-Europameisterschaft 2024 sicherte sich die Telekom. Um weiterhin attraktive Sport-Events übertragen zu können, muss sich die ARD also anderweitig umschauen.
Dieselben Gründe dürften im vergangenen Jahr auch das ZDF dazu bewogen haben, nach neun Jahren ein Box-Comeback zu starten. Allerdings blieb das Zuschauerinteresse bei der Veranstaltung im November 2019 so deutlich hinter den Erwartungen zurück, dass der Sender ein zuvor vereinbartes zweites Event eigentlich schon nicht mehr übertragen wollte.
Der verantwortliche Promoter Ismail Özen-Otto und sein Hauptkämpfer Artem Harutyunyan warfen den ZDF-Verantwortlichen daraufhin vor, die Zusammenarbeit aus rassistischen Gründen vorzeitig beenden zu wollen. Der kurze aber heftige Streit führte dazu, dass Özen-Otto und sein Team doch noch eine zweite Chance bekommen – am 17. Oktober, nur eine Woche nach Steinforths ARD-Event, gibt es Live-Boxen im ZDF. Fast könnte man sich an die großen Zeiten des Sports in den Nullerjahren erinnert fühlen. Doch die Voraussetzungen sind vollkommen andere.
Auch wenn die Parteien nicht über Vertragsdetails sprechen, wird Promoter Steinforth für seinen Testballon mit Bösel und Krasniqi vermutlich nur einen Bruchteil der Lizenzsumme erhalten, die früher an Sauerland gezahlt wurde. Zudem hat sich die ARD nicht langfristig an Steinforth gebunden, sondern zunächst nur diesen einen Kampf vereinbart. Das Risiko für den Sender ist also gering, die Chance für den Magdeburger Veranstalter umso größer. Denn wenn sein Vorzeigeprodukt Bösel auch auf der großen Bühne funktioniert, könnte sich doch mehr ergeben. Die Zuschauerzahlen am Samstagabend werden es zeigen.
Anmerkung der Redaktion: Der Autor arbeitete von 2006 bis 2013 für Arena Box-Promotion, zunächst in der Presseabteilung, später als Geschäftsführer. Heute ist er neben seiner Arbeit beim SPIEGEL ehrenamtlich für den Bund Deutscher Berufsboxer sowie den Weltverband WBC (World Boxing Council) tätig.