Seniorensportler Klemens Wittig "Nur noch allein durch den Wald laufen"

Hannover-Halbmarathon (2017) in 1:40:04 Stunden: Das Foto zeigt Wittig im Alter von 79 Jahren
Foto:privat
SPIEGEL: Herr Wittig, wie geht es Ihnen?
Wittig: Die Wade zwickt noch etwas. Ich hatte mich beim Aufwärmen vor einem Wettkampf im Januar verletzt und dadurch die Deutschen Meisterschaften der Senioren verpasst. Aber mittlerweile ist die Verletzung fast auskuriert, und ich kann beinahe wieder zehn Kilometer am Stück laufen, ich visiere derzeit 40 Trainingskilometer pro Woche an.

Klemens Wittig, geboren im August 1937, ist ein deutscher Mittel- und Langstreckenläufer. Mit 49 lief er seinen ersten Marathon, nach der Pensionierung 2001 begann er mit dem Leistungssport. Wittig zählt zu den erfolgreichsten deutschen Seniorensportlern, er hält mehrere Altersklassenrekorde. 2017 lief er den Frankfurt-Marathon, obwohl er sich während des Rennens das Schlüsselbein bei einem Sturz gebrochen hatte, kam er nach 3:39:54 Stunden ins Ziel - europäischer Rekord für die Klasse Ü80. In diesem Jahr will er eine größere Radtour machen. Für die Zukunft hofft er auf eine Bestmarke im Marathon für die Altersklasse Ü85.
SPIEGEL: Das hört sich eigentlich gut und sehr routiniert an. Aber wie geht es Ihnen angesichts der Coronakrise? Sie wohnen im besonders betroffenen Nordrhein-Westfalen, wo die Zahl der Infizierten auf über 4000 angestiegen ist. Mit 82 Jahren gehören Sie zu den besonders gefährdeten Personen.
Wittig: Ich zähle mich gar nicht so sehr zur Risikogruppe. Ich mache seit 42 Jahren Ausdauersport, gehe alle zwei Jahre zu meinem Hausarzt zur Vorsorge. Meinem Immunsystem geht es bestens, sagt der Arzt, und so fühle ich mich auch. Ich weiß gar nicht, wann ich das letzte Mal krank gewesen bin.
SPIEGEL: Das Coronavirus ist für Sie also kein Thema?
Wittig: Doch, natürlich ist es das. Ich spreche mit meiner Frau darüber, im Seniorenkreis unterhalten wir uns. Kürzlich erst wurde eine Busreise abgesagt, an der ich und einige andere ältere Leute teilnehmen wollten. Natürlich betrifft es mich. Aber ich ziehe mich nicht komplett zurück, sondern informiere mich darüber, was erlaubt ist und welche Dinge empfohlen werden.
SPIEGEL: Laufen dürfen Sie noch.
Wittig: Genau. Zuletzt war ich in einer Laufgruppe unterwegs, da halten wir über 1,50 Meter Abstand zueinander. Während des Trainings wird nicht viel miteinander gesprochen, damit keine Flüssigkeiten übertragen werden. Aktuell stelle ich mich darauf ein, dass ich nur noch allein durch den Wald laufen darf, um niemanden zu gefährden. Daran werde ich mich natürlich halten.
SPIEGEL: Seit 2017 halten Sie den Europarekord für über 80-Jährige im Marathon, der bei 3:39:54 Stunden liegt. Was bedeutet Ihnen der Laufsport?
Wittig: Er ist meine Leidenschaft. Ich kann hier meinen Ehrgeiz ausleben und auch noch im hohen Alter Erfolge feiern, das verschafft mir eine gewisse Befriedigung. Aber er ist auch der Grund, warum ich heute keine Panik angesichts der Coronakrise haben muss.
SPIEGEL: Wie meinen Sie das?
Wittig: Als ich vor 42 Jahren mit dem Laufen begonnen habe, war ich Kettenraucher. Ich hatte oft Stress auf der Arbeit. Hätte ich so weitergemacht, würden wir heute nicht miteinander sprechen. Ich musste damals mein Leben komplett ändern, und mit dem Laufen ist es mir gelungen, ein gesünderer Mensch zu werden. Ich habe keine Panik vor dem Coronavirus, weil mich der Ausdauersport vor dieser Krankheit schützen kann. Ich weiß auch, dass er keine absolute Schutzgarantie bietet, natürlich werde ich mich infizieren können. Aber ich fühle mich auf diesen Fall gut vorbereitet. Meiner Frau geht es ebenfalls gut.
SPIEGEL: Die Fußball-Europameisterschaft wird aufgrund des Virus verlegt, eine Terminänderung bei den Olympischen Sommerspielen könnte folgen. Wie ist der Seniorensport betroffen?
Wittig: Zum Beispiel die Hallen-Europameisterschaft in der Leichtathletik, die in Braga in dieser Woche begonnen hätte. Für viele wäre das der Saisonhöhepunkt gewesen; als Senior nimmt man meist an mehreren Disziplinen teil, hinter so einem Turnier steckt eine Menge Trainingsarbeit. Ich hatte auch schon ein Hotelzimmer gebucht, aber wegen meiner Verletzung an der Wade musste ich bereits meine Teilnahme zurückziehen. Mein härtester Konkurrent, Manuel Alonso aus Spanien, wäre auch nicht dabei gewesen, der feiert diamantene Hochzeit. Unser Duell werden wir irgendwo und irgendwann nachholen.

Fliegender Wechsel: Klemens Wittig mit Horst Hufnagel beim Staffellauf in Malaga 2018
Foto: privatSPIEGEL: Tun Ihnen die anderen Senioren leid, die dieses Turnier nun nicht bestreiten können?
Wittig: Titel und Rekorde sind in der aktuellen Situation nicht so wichtig. Es ist etwas ärgerlich um den Trainingsaufwand und die Ausgaben. So eine Teilnahme bei einer EM kostet Kraft und Geld, und wir haben keine Sponsoren, die uns so ein Erlebnis finanzieren. Aber das ist Nebensache. Dann kann man halt mal nicht zur EM und noch eine Woche Urlaub in Braga dranhängen. Die Beine in den Pool hängen. Davon bricht die Welt nicht zusammen. Es gibt Chancen, dass die EM in den Oktober verlegt wird. Und wenn nicht, dann geht es im nächsten Jahr weiter. Jetzt geht die Gesundheit vor.
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SPIEGEL: Politiker sprechen von der schwersten Krise seit dem Zweiten Weltkrieg. Wie sehen Sie das, als Jahrgang 1937?
Wittig: Ich will die Situationen nicht miteinander vergleichen, weil ich mir noch nicht vorstellen kann, wie dramatisch unsere heutige Lage werden kann. Zu damals kann ich nur sagen, dass der Hunger bei uns groß war. Wir hatten gegen Ende des Zweiten Weltkriegs vier Wochen rohe Kartoffeln mit Marmelade gegessen. Das war schlimm, aber wir haben das überstanden. Ich glaube, diesmal wird hierzulande niemand hungern müssen.
SPIEGEL: In Supermärkten könnten man diesen Eindruck jedoch gewinnen: Hamsterkäufe führen vielerorts zu leeren Regalen.
Wittig: Ja, das ist gerade sehr anstrengend. Mir scheint, als würden die Szenen im Supermarkt gerade viel über die Gesellschaft aussagen - viele sind ziemlich egoistisch unterwegs. Schön wäre, wenn wir uns etwas beruhigen, die Situation zwar ernst nehmen, aber uns gegenseitig helfen. Meine Frau und ich haben im Seniorenkreis jedenfalls angeboten, dass wir helfen werden und einkaufen gehen können, sollte jemand in eine Notlage geraten.
SPIEGEL: Soll das die Lehre der Coronakrise sein: mehr Rücksicht füreinander?
Wittig: Das würde ich mir wünschen, und mehr soziales Miteinander. Das ist übrigens auch ein Grund, warum ich so gern laufe - es mag zwar zunächst nur ein Einzelsport sein, aber man kann auch viel zusammen machen. Die Gruppenläufe werde ich in den kommenden Wochen wahrscheinlich am meisten vermissen. Aber irgendwann können wir auch damit weitermachen.