Abbruch des Schach-Kandidatenturniers "Als würde man während des Zweiten Weltkriegs spielen"

Alexander Grischuk riecht vor einer Partie am Desinfektionsmittel: Die Absage ist "etwas spät, aber korrekt"
Foto:Lennart Ootes/ FIDE via REUTERS
Alexander Grischuk, immerhin erfahrener Pokerspieler, hat sich auch diesen Gewinn nicht nehmen lassen. Er habe vor dem Kandidatenturnier mit einem Bekannten um eine "bescheidene Summe Geld" gewettet, dass das Event abgebrochen werde, erzählte er dem SPIEGEL am Telefon. Da saß die Nummer vier der Schach-Weltrangliste schon im Taxi vom Moskauer Flughafen nach Hause. Die Wette hatte er gewonnen.
Denn der Weltverband Fide hat das Kandidatenturnier am Donnerstag nach sieben von 14 Runden abgebrochen. Die Meldung traf Spieler, Schiedsrichter, Offizielle und Fans unvorbereitet, schließlich hatte die Fide trotz Coronavirus immer an der Fortsetzung des Turniers festgehalten. Ein Herausforderer für Weltmeister Magnus Carlsen sollte unbedingt ermittelt werden. Doch nachdem die russische Regierung angekündigt hatte, alle internationalen Flüge auszusetzen, blieb dem Weltverband keine Wahl mehr: Die Kandidaten hätten aus Jekaterinburg sonst wohl nicht mehr in ihre Heimat zurückkehren können.
Die Entscheidung sei "etwas spät, aber korrekt" gewesen, sagte Grischuk. Noch während des laufenden Turniers hatte er einen Abbruch gefordert. "Nicht wegen der Bedrohung durch das Coronavirus für mich selbst, sondern wegen der Situation in der Welt. Ich glaube, die ganze Welt bricht zusammen und wird ruiniert." Er habe keine Beschwerden über die Organisation des Turniers, sagte er. Es hätte aus seiner Sicht aber gar nicht erst stattfinden dürfen. "Es ist fast so, als würde man während des Zweiten Weltkriegs spielen. Das ist meiner Meinung nach einfach falsch."
"Ich habe mich unwohl gefühlt"
Die Fide wollte Vorkehrungen treffen, damit die Spieler vor dem Virus geschützt werden. Die acht Kandidaten sollten sich sicher fühlen. Die medizinischen Untersuchungen zweimal am Tag bewirkten bei manchen Spielern aber offenbar das Gegenteil. Vizeweltmeister Fabiano Caruana erzählte von der "paranoiden" Stimmung, als bei ihm 37,1 Grad "Fieber" gemessen worden seien. Und der aktuell Zweitplatzierte Ian Nepomniachtchi klagte über die Atmosphäre, wegen der er sich nicht gesund fühlte.

Ian Nepomniachtchi (l.) und Kirill Alekseenko verzichteten vor ihrer Partie aufs Händeschütteln
Foto: Maria Emelianova/ FIDE via REUTERSAuch aus Sicht von Wang Hao, einem der beiden chinesischen Kandidaten, ist der Turnierabbruch richtig, aber zu spät erfolgt. "Es hätte gar nicht erst gestartet werden sollen, die Risiken waren bereits offensichtlich", antwortete er auf SPIEGEL-Anfrage: "Ich kann nicht sagen, dass wir in einer guten psychischen Verfassung waren, ich habe mich während des Turniers jeden Tag unwohl gefühlt."
Anish Giri dagegen war nicht glücklich mit dem Abbruch. "Es wäre konsequenter gewesen, das Turnier nach dem Start zu Ende zu spielen, um die Dynamik dieser langen Veranstaltung nicht zu unterbrechen. Aber das scheint nicht möglich gewesen zu sein", schrieb er dem SPIEGEL.
Fide-Präsident Arkady Dvorkovich verteidigte die Entscheidungen des Verbands. "Was das Turnier betrifft, haben wir die Risiken auf ein Minimum reduziert", sagte er nach dem Abbruch: "Das Flugverbot kann jedoch zu viel Druck auf Spieler und Teilnehmer ausüben. Leider entwickelt sich die Situation mit der Pandemie im negativsten Szenario. Unsere Entscheidung, das Turnier heute abzubrechen, ist richtig." Fide-Direktor Emil Sutovsky gestand bei Chess.com ein, die Eröffnungsfeier mit rund tausend Menschen sei "ein Fehler" gewesen.
Fide organisierte Charterflug für Spieler
Kurz nach dem offiziellen Turnierabbruch wurde es hektisch im Hyatt Regency Hotel zu Jekaterinburg. Die Fide wollte für die nicht russischen Spieler einen Charterflug nach Amsterdam organisieren, damit sie von dort nach Hause reisen könnten. Einige Kandidaten wählten aber andere Wege und buchten selbst Flüge. Wang Hao etwa flog in der Nacht nach Tokio und wird von dort über Shanghai in seine Heimatstadt Peking reisen. In China muss er 14 Tage in Quarantäne.
We are in the Netherlands now. Next stop for all 6 of us is home. Stay safe!! pic.twitter.com/xOO1i8oonA
— Jeroen Van Den Berg (@Jvdbergchess) March 27, 2020
Caruana und der Führende Maxime Vachier-Lagrave flogen mit der Chartermaschine nach Amsterdam. MVL, wie der Franzose genannt wird, war erst wenige Tage vor Beginn des Kandidatenturniers für den Aserbaidschaner Teymur Radjabov eingesprungen. Der hatte in weiser Voraussicht um eine Verlegung des Turniers gebeten. Als die Fide der Bitte nicht nachkam, sagte er seine Teilnahme ab.
Radjabov äußerte sich bereits kurz nach dem Abbruch. Der 33-Jährige erwägt, Anwälte einzuschalten. "Mein Ziel ist es, dass die Fide mich wieder ins Kandidatenturnier aufnimmt", schrieb er auf SPIEGEL-Anfrage. Aus seiner Sicht sei es möglich, dass das Turnier dann mit neun Spielern fortgesetzt würde. Die Fide hatte in ihrem ersten Statement jedoch mitgeteilt, das Turnier werde beim aktuellen Punktestand mit den restlichen sieben Partien fortgesetzt. Wann das sein wird, ist wegen der Coronavirus-Pandemie noch nicht klar.
Dem Sechstplatzierten Grischuk war erst mal nicht wichtig, wie es mit dem Turnier weitergeht. "Ich mache mir mehr Gedanken um die Gesundheit meiner Eltern, meiner Großeltern, um die wirtschaftliche Situation in Russland, der EU und der Welt", sagte Grischuk. Er sei froh, jetzt wieder bei seiner Frau und seinen Kindern zu sein.