»Da sträuben sich die Haare«
Zunächst suchte Katrin Krabbe nur Ablenkung: Sie wurde Gesellschafterin des Privatradios Antenne Mecklenburg-Vorpommern, fuhr als Kopilotin sogar eine Rallye in der Wüste von Dubai mit. Ihre Sprint-Karriere hatte die Weltmeisterin offensichtlich abgeschrieben: »Ich weiß nicht, ob ich es jemals wieder packe. Seit dem 3. August trainiere ich nicht mehr richtig.«
Am Tag darauf hatte die Welt erfahren, daß sich Katrin Krabbe und andere Neubrandenburger Läuferinnen mit dem Kälbermastmittel Clenbuterol gedopt hatten.
Doch die Hoffnung kehrt langsam zurück. Die immer noch gesperrte Leichtathletin trainiert wieder täglich und trägt Optimismus zur Schau: »Ich rechne mit einem Freispruch.«
Katrin Krabbes Zuversicht ist nicht unbegründet. Der Rechtsausschuß des Deutschen Leichtathletik-Verbandes (DLV) wird wohl innerhalb der nächsten zwei Wochen die Sperre aufheben. Denn zwei von drei wissenschaftlichen Gutachten, die das Sportgericht in Auftrag gegeben hat, entsprechen der Verteidigungslinie des Krabbe-Clans: Sie ziehen die anabole, also die muskelbildende Wirkung von Clenbuterol beim Menschen in Zweifel, und sie bestreiten, daß der Kraftstoff zu den anabolen Steroiden gerechnet werden kann.
Und da sich der Rechtsausschuß-Vorsitzende Wolfgang Schoeppe, ein Anwalt aus dem fränkischen Ansbach, bereits öffentlich auf ein Zählverfahren der Gutachten ("Ein 3:0 wäre schön gewesen") festgelegt hat, reicht wohl auch das knappe 2:1 für einen Freispruch.
Wie schon beim ersten Dopingfall, als die Läuferinnen während des Trainingslagers in Südafrika identischen Urin abgaben, kann Katrin Krabbe auch diesmal wieder auf das schlichte, an absoluter Beweissicherheit ausgerichtete Verständnis des ehrenamtlichen Sportgerichts bauen.
Im letzten Jahr mochten sich die Herren einfach nicht vorstellen, daß Frauen Fremd-Urin im Körper deponieren können - sie verzichteten deshalb sogar auf angebotene Beweismittel (siehe Kasten). Auf der Suche nach juristischen Schlupflöchern, darauf weist die tendenziöse Fragestellung an die drei Gutachter hin, verlangen sie jetzt für die anabole Wirkung von Clenbuterol beim Menschen einen Nachweis, den die Medizin bei kaum einem Medikament bietet: »wissenschaftliche Sicherheit«.
Der Gutachter-Streit entbrannte, weil Clenbuterol nicht ausdrücklich als Dopingmittel durch die Liste der verbotenen anabolen Substanzen erfaßt wird. Der Internationale und der Deutsche Leichtathletik-Verband sehen dies jedoch durch den Zusatz geregelt, der auch verwandte Verbindungen verbietet. Hätte Clenbuterol aber keine anabole Wirkung beim Menschen und würde auch keine pharmakologische Verwandtschaft zu den Steroiden bestehen, müßte Krabbe freigesprochen werden.
Nur für den Bremer Professor Peter Schönhöfer ist der Fall eindeutig. Da die anabolen Effekte bei zahlreichen Tierarten nachgewiesen seien, gebe es »keine begründeten Hinweise, daß diese biochemischen Mechanismen und pharmakologischen Wirkungen nicht auch für den menschlichen Organismus zutreffen«. Für die pharmakologische Verwandtschaft müsse im Sinne der internationalen Anti-Dopingbestimmungen »als Kriterium die erzielte Wirkung, der anabole Effekt« herangezogen werden - der sei auch in der von Krabbe zugegebenen Dosis unzweifelhaft gegeben.
Zu genau entgegengesetzten Schlußfolgerungen kommt der Frankfurter Pharmakologe Dieter Palm. Für ihn kommen Schönhöfers Erkenntnisse einem »intellectual jump« gleich, bei dem sich »einem Pharmakologen die Haare sträuben«. Er kann den anabolen Effekt zwar nicht grundsätzlich ausschließen, beim Menschen sei er aber nicht eindeutig wissenschaftlich nachgewiesen. Weil nicht das »gesamte Spektrum von Wirkungen und Wirkungsmechanismen« identisch sei, bestreitet er zudem auch eine Verwandtschaft mit den Steroiden.
Doch der von Krabbe bestellte Gutachter schoß bei seinen Ausführungen ein fulminantes Eigentor. Um den Nachweis zu führen, daß ein Arzt bis zum letzten Jahr den anabolen Effekt von Clenbuterol nicht habe kennen können, berichtet der Frankfurter Professor von eigenen Erkenntnissen. Schon im Frühjahr 1990 habe er der »kleinen Arbeitsgruppe Dopingfragen« am Bundesinstitut für Sportwissenschaften die muskelbildende Wirkung des Clenbuterols gemeldet - Doping, das er jetzt in letzter Konsequenz verneint.
Noch vehementer bestreitet der Homburger Privatdozent Dieter Ukena die wissenschaftliche Beweiskraft der Tierexperimente. Sie gälten »für die Wirksamkeit beim Menschen naturgemäß nicht«. Mit so leichtgewichtigen Formulierungen stellt sich der Saarländer, anders als seine erfahrenen Kollegen Palm und Schönhöfer, gegen weltweit gesicherte Erkenntnisse der Wissenschaftselite.
In den Gutachten von Palm und Ukena fällt die gedankliche Nähe zu höherrangigen Kollegen auf. Der Homburger Ukena, als unabhängiger Experte berufen, sah sich offenbar seinem weitaus bekannteren Kollegen Professor Wilfried Kindermann verpflichtet, der Chefarzt der Leichtathleten ist. Kindermann hatte gleich nach Bekanntwerden den Fall als »Medikamentenmißbrauch« heruntergespielt - der nach den Regeln nur mit einer geringen Strafe geahndet wird.
In Frankfurt war Palms Ordinarius, Professor Norbert Rietbrock, durch erstaunliche Aktivitäten im Fall Krabbe aufgefallen. Der Pharmakologe hatte sich nicht nur eilends pro Krabbe geäußert. Er traf sich auch mit anderen Kollegen, um Abwehrstrategien gegen allzu forsche Dopingjäger zu entwickeln.
Wieweit sich der fixe Forscher in die Verbandsinterna einmischt, beweist ein Vermerk über ein Telefonat Rietbrocks mit der DLV-Zentrale am 4. März. Er verlangte, daß sich der Anti-Dopingbeauftragte des DLV von seinen Beratern trennen solle. Gleichzeitig kündigte er für das Krabbe-Urteil »ein Nachspiel« an. Das, so wurden seine kryptischen Drohungen interpretiert, werde vor allem jene treffen, die sich für eine saubere Leichtathletik engagieren.
Ein wichtiger Aspekt ging im deutschen Gutachterkrieg bisher völlig unter. International ist die Einstufung von Clenbuterol längst unstrittig. In den USA wird sein Mißbrauch wie der von Anabolika und Wachstumshormonen gesetzlich verfolgt. Und auch der Internationale Leichtathletik-Verband (IAAF) wird, so das deutsche Mitglied des IAAF-Sportgerichts, Christoph Vedder, die kleinkarierte deutsche Wissenschaftskrämerei »nicht als gottgegeben hinnehmen«. Bei einem Freispruch durch den DLV-Rechtsausschuß werde in der Londoner IAAF-Zentrale neu verhandelt. Clenbuterol sei eindeutig ein Dopingmittel.
Ausgerechnet Ukena bestreitet das auch nicht. Er verweist darauf, daß das, was er als Wissenschaftler nicht gelten lassen mag, »jeder ins soziale Leben integrierte Bürger« wissen konnte. Und dieses Wissen schließe dann »natürlicherweise eine intentionell mißbräuchliche Anwendung von Clenbuterol nicht aus«. Was nichts anderes heißt als: Alle Lebenserfahrung spricht dafür, daß sich Katrin Krabbe dopen wollte.
Die Sprint-Weltmeisterin muß deshalb darauf bauen, daß ihrem Richter Schoeppe, der im schriftlichen Verfahren entscheidet, der gesunde Menschenverstand abhanden gekommen ist.