GESELLSCHAFT / EHRUNGEN Das Gute
Alle Jahre wieder führt im Kurhaus von Baden-Baden inmitten betreten schweigender Hünen und sittsam posierender Mädchen ein kleiner rundlicher Herr das Wort -- Kurt Dobbratz ehrt die Sportler des Jahres. Diesmal war er den Tränen nahe: Erstmals weigerte sich das Fernsehen, sein eintöniges Quiz zu übertragen.
»Auf Sie kann unser deutsches Volk stolz sein«, hatte vor Jahren noch bei der Kur-Kur -- dunkler Anzug erwünscht -- der geladene Innenminister Paul Lücke über die Gewählten geschwärmt. Darauf vertraut der Stuttgarter Sportjournalist Dobbratz bis heute. 1971 steht schon seine 25. Ehrung für die Athleten der Nation an. »Die Szene wird zum Märchen«, rezensierte die »Frankfurter Rundschau«. »Und das Gute beherrscht die Stunde.«
In dem Routinestück der Redlichkeit spielten diesmal Meisterschwimmer Hans Faßnacht, Weltrekordlerin Heide Rosendahl ("WamS": »Sie war schon zu früh zu gut"), Olympiasiegerin Ingrid Mickler und die Fußball-Nationalmannschaft die Rolle des Guten, das bei der Umfrage unter den bundesdeutschen Sportjournalisten gesiegt hatte. Denn neben Erfolgen im Wettkampf entscheiden Charakter und Haltung. »Das Vorbild ist es vor allem, das gesucht wird«, empfahl die Wahlleitung.
Freilich überforderte sie die Wähler in den Sportredaktionen. Auf der Stuttgarter Wahlliste standen neben Kickern und Leichtathleten auch der Weltmeister Im Kegeln auf Asphaltbahn und die nur wenigen Fans geläufigen Weltmeister im Kunstradfahren. Doch mittlerweile kürte fast jedes Land der Welt seine Besten, Sowjets ebenso wie Amerikaner, Jugoslawen wie Belgier.
Daß bei der Messung der heilen Welt noch viel Gutes übrigblieb, verrieten die Gewinner selbst. »Ich dachte, der Uwe macht es«, wertete Bundessieger Faßnacht Uwe Seeler auf, der Zweiter geworden war. Der Hersteller der Mars-Schokoladenriegel glich aus und kürte seinerseits Seeler zum Spitzensportler 1970. Die Fachjournalisten im Schwimmsport wählten 1969 statt des Bundeswahl-Siegers Faßnacht dessen Intimfeind Michael Holthaus zum besten Schwimmer des Jahres.
Jedes Jahr vor Weihnachten breitet sich das Wahlfieber aus. In England wurde Premierminister Edward Heath nach einem Regattasieg zum Segler des Jahres. Die DDR ermittelt außer dem zivilen auch den Armeesportler 1970. Zeitungen wie der »Münchner Merkur« stimmen eigene Wahlen an und wiegen die Siegerin in Schokolade auf.
Zum erstenmal hatte der Stuttgarter Dobbratz, Eigner der Internationalen Sport-Korrespondenz, 1947 den Wahlkampf eröffnet. Erster Gewinner: Tennisspieler Baron Gottfried von Cramm.
Bei Dobbratz wählten die Bundesjournalisten jahrelang auch »Brüder und Schwestern« aus dem Ulbricht-Staat. So siegte 1960 die Dresdner Olympiasiegerin im Kunst- und Turmspringen Ingrid Krämer. Während Dobbratz auf der Kurbühne, sich vor Eifer verhaspelnd, Wiedervereinigungs-Wünsche vortrug, sächselte die DDR-Athletin knapp und unverbindlich Dank. Nach dem Mauerbau gaben auch die Bundesschreiber ihre Einstaat-Theorie auf. Sie wählten nur noch. die Besten im Westen.
Auch ohne Oststars schwappte die Wahl-Welle längst über. Dobbratz hatte mittlerweile auch Mannschaften wählbar gemacht. Und immer siegte zu Lande und zu Wasser nationaler Ruhm. Neben den Fußballern gewannen schon fünfmal die medaillenträchtigen Ruderer. Nun griff sogar die Unesco in den Wahlkampf ein. Weil im Endspiel des olympischen Fußballturniers 1968 zwischen Ungarn und Bulgarien mehr die Fäuste als die Beine geschwungen und vier Feldverweise ausgesprochen worden waren, honorierte die Unesco den Dritten, Japan, mit dem Fair-Play-Preis. Eine Unesco-Ehrenurkunde erhielt der polnische Skiläufer Andrej Bachlede: Er hatte sich selbst eines Regelverstoßes bezichtigt und war deshalb disqualifiziert worden.
Doch im gleichen Jahr unterlief Europas Fußball-Fachjournalisten eine Fehlbesetzung. Zu Europas Kicker des Jahres wählten sie Nordirlands Rechtsaußen George Best (Jahreseinkommen: 220 000 Mark). Der Gute wandelte sich zum Bösen. In einer Diskothek zettelte er eine Schlägerei an. Die Polizei ertappte ihn als Verkehrssünder und entzog ihm den Führerschein. Im Fußball droht Best nun eine dreijährige Sperre. Viermal binnen einer Spielzeit stellten ihn Schiedsrichter vom Platz. Zuletzt brach er einem Gegner Schien- und Wadenbein.
Auch im Tierreich wird gewählt. Zum Galopprennpferd des Jahres kürten 1970 mehr als 200 000 Fans in einer von der ARD und dem Direktorium für Vollblutzucht und Rennen betriebenen Abstimmungskampagne Derbysieger Alpenkönig aus dem Gestüt Schlenderhan. Einige Einsender, die sich von Kapstadt bis Kalkutta meldeten, verwechselten freilich den Pferdenamen. Sie plädierten für Zaunkönig und Schlendrian.
Besitzerin Gabrielle Freifrau von Oppenheim entschuldigte den wegen einer Beinverletzung am TV-Auftritt verhinderten Vierbeiner: »Er hat mich gebeten, von hier aus all seinen Wählern zu danken.« In England kombinierten die Wähler sogar Roß und Reiter: Sie stimmten für Pferd Nijinski und Jockellester Piggott als Mannschaft des Jahres.
Dem wählerischen Dobbratz in Stuttgart, der mittlerweile wie auch die internationalen Nachrichtenagenturen ap und upi Weitwahlen organisierte und 1970 den brasilianischen Fußballstar Pelé und die Formosa-Sprinterin Chi Cheng proklamierte, wurde plötzlich vom Deutschen Fernsehen Undank zuteil.
Weil die TV-Redakteure den Sprachschatz des Wahlleiters gering schätzten, schlugen sie ihm vor, für die mehr als einstündige Übertragung der Preisverleihung einen professionellen Confériencier zu bestellen. Der sendungsbewußte Dobbratz lehnte ab: »Das ist .mein Werk.« So mühte er sich am vorletzten Freitag allein -- beide Anstalten brachten nur kurze Informations-Ausschnitte.
Inzwischen drängt auch die Industrie immer mehr in die Stimmbezirke des Sports. Die Binderbranche wählte nach Sportpräsident Willi Daume (1966) nun Bundestrainer Helmut Schön zum Krawattenmann des Jahres,