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SCHWIMMEN »Das ist gut für die Zähne«

Bei den Europameisterschaften in Sevilla sind Trainer in der deutschen Delegation, die schon bald wegen Körperverletzung angeklagt werden. Auch drei Betreuer von Franziska van Almsick müssen sich wegen ihrer Doping-Machenschaften zu DDR-Zeiten verantworten.
Von Jan Ludwig und Georg Mascolo
aus DER SPIEGEL 34/1997

Die Geschichte, die der Kraulspezialist Steffen Zesner, 29, den Kripo-Beamten aus Berlin vortrug, klang erstaunlich. Klar habe er von seinem damaligen Betreuer Gerd Eßer diese blauen Pillen bekommen. Aber statt sie zu schlucken, habe er sie gesammelt und »dem Trainer später zurückgegeben«.

Die Anekdote, die die Brustschwimmerin Sylvia Gerasch, 28, zu Protokoll gab, klang lustig. Ihr Trainer Dieter Lindemann habe ihr rosafarbene Tabletten gegeben, doch sie habe sie nicht eingenommen. Erinnern konnte sie sich, daß viele Sportler die männlichen Hormonpräparate im Trainerzimmer in ein Aquarium geworfen hätten. Darauf seien die Fischweibchen bunter geworden - die Guppys hatten sich ihren männlichen Artgenossen angeglichen.

Die Kraulschwimmerin Kerstin Kielgaß, 27, hat gar nicht erst eine Geschichte erzählen wollen. Sie ließ über ihren Anwalt mitteilen, daß sie nicht aussagen werde.

Die über 60 Ermittlungsbeamten, die angetreten sind, den Dopingsumpf der DDR trockenzulegen, tun sich schwer. Obwohl sie den Sportlern klargemacht hätten, so Kriminaldirektor Matthias Graichen, »daß wir gar nicht an ihre Medaillen wollen«, geben sich die meisten Opfer verschlossen.

Die Sprachlosigkeit und die zuweilen abenteuerlich anmutenden Aussagen werten die Kripo-Leute als reinen Selbstschutz der Athleten. Denn deren Lage ist verzwickt: Zesner, Gerasch und Kielgaß müssen mit den Verteilern der Dopingmittel weiter zusammenarbeiten. In diesen Tagen bilden sie sogar eine Mannschaft bei den Europameisterschaften in Sevilla - friedlich vereint als Medaillensammler und Symbole der Leistungskraft des neuen Deutschland.

Die Haltung der Schwimmer erschwerte die Arbeit der Ermittler, stoppen konnte sie die kriminalistische Aufarbeitung eines großen Betrugssystems letztlich nicht. Seit sechs Jahren forscht ein Großaufgebot von Kripo und Staatsanwaltschaft im Dopingbereich, jetzt befinden sich die ersten zwei Anklageschriften wegen Körperverletzung in der Endbearbeitung, eine Prozeßwelle rollt an.

Nach den Prozessen gegen Rechtsbeuger und Todesschützen an der innerdeutschen Grenze sollen die Dopingprozesse die letzten großen Verfahren (Aktenzeichen 28 Js 1014/93) gegen DDR-Funktionäre und ihre Handlanger sein. Gleichzeitig werden die Enthüllungen der Justizbehörde die deutschen Sportverbände bloßstellen, die sich jahrelang in einer Koalition des Schweigens, Vertuschens und Beschwichtigens vor der Aufarbeitung des ostdeutschen Erbes gedrückt haben.

Die ersten Anklagen stützen sich im wesentlichen auf den Abschlußbericht der Zentralen Ermittlungsstelle Regierungs- und Vereinigungskriminalität (Zerv) in Berlin. Auf 177 Seiten haben Kripo-Beamte detailliert die Brachialmethoden von Ärzten aufgedeckt, die Athleten wie Kristin Otto zu Olympiasiegern und Weltmeistern hochgespritzt haben. Drei Trainer und ein Arzt des Schwimmstars Franziska van Almsick werden ebenso als Beschuldigte geführt wie ein früherer Arzt des Tour-de-France-Helden Jan Ullrich.

Zunächst sollen zehn Schwimmtrainer - jeweils fünf aus dem Frauen- und Männerbereich - sowie drei Mediziner des ehemaligen Stasi-Clubs SC Dynamo Berlin zur Verantwortung gezogen werden. Parallel dazu bereitet die Zerv Berichte über elf weitere Schwimmclubs vor, allein in dieser Sportart haben die Ermittler inzwischen über hundert Beschuldigte ausgemacht. Anschließend sollen Sportarten wie Leichtathletik, Rudern, Kanu aufgearbeitet werden.

Daß nun der Deutsche Schwimm-Verband (DSV) ausgerechnet zur Europameisterschaft mit den Ermittlungen gegen Ärzte und Trainer konfrontiert wird, haben sich die Verbandsherren selbst zuzuschreiben.

Aus Angst, die Leistungsträger aus dem Osten zu verlieren, bauen die Funktionäre bis heute auf Betreuer, deren Doping- und Stasi-Verstrickungen längst aktenkundig sind. So treffen sich am Beckenrand von Sevilla gleich fünf Trainer im Kader, deren sportliche Vergangenheit in den Ermittlungsakten akribisch rekonstruiert ist.

Der Berliner Volker Frischke ist einer von ihnen: Drei Schwimmerinnen sagten aus, ab dem 13. Lebensjahr Oral-Turinabol-Tabletten vom heutigen Berliner Bundesstützpunkttrainer erhalten zu haben.

Zu den Beschuldigten zählt auch der Leipziger Uwe Neumann, den seine ehemalige Athletin Rica Reinisch schwer belastet, der selbst jedoch jede Dopingbeteiligung in Abrede stellt. Als Beweismaterial dient den Fahndern auch Neumanns IM-Akte »Holbert«, in der dieser unter anderem über erhöhte Leberwerte eines Schwimmers berichtet; penibel führt er aus, wie eine »U.M.-Konzeption«, die DDR-Bezeichnung für unterstützende (Doping-)Mittel, auszusehen hat.

Ermittelt wird zudem gegen Bernd Henneberg aus Magdeburg, der in Spanien die Olympiasiegerin Dagmar Hase betreut. Da die Zerv einen Sportclub nach dem anderen abarbeitet, wird der Potsdamer Harald Herberg erst zu einem späteren Zeitpunkt belangt werden.

Den Fall Henneberg umweht dabei besondere Brisanz. Früher trainierte der Sportlehrer in Magdeburg die Nachwuchsschwimmerin Kristin Otto. Die sechsfache Olympiasiegerin wird in den Zerv-Akten als Anabolikakonsumentin beschrieben. Auch Unterlagen aus der Gauck-Behörde bezeugen, daß sie gemäß der offiziellen Verbandskonzeption der DDR mit männlichen Hormonen hochgepuscht wurde.

Noch 1989 wurden ihr Injektionen von Testosteron bei den in der DDR üblichen Ausreisekontrollen nachgewiesen, ebenso wie bei Hennebergs prominenter Kraulschwimmerin Dagmar Hase. Otto selbst, die in Sevilla wieder als TV-Kommentatorin für das ZDF am Beckenrand steht, hat bisher bewußte Dopingeinnahme bestritten.

Wie Otto beteiligen sich viele Sportler an der Koalition des Vertuschens, weil sie Schwierigkeiten haben zu erklären, meint Staatsanwalt Rüdiger Hillebrand, »wie sie an die Medaillen gekommen sind«. Zerv-Beamte schlugen deshalb vor, einige Sportler »richterlich vernehmen zu lassen«. Für andere ehemalige Größen des DDR-Sports mußten sie dagegen spezielle Schutzmaßnahmen garantieren, weil die sich »bedroht« fühlten.

Unbeirrt von solchen Vorkommnissen akquirierte der vereinigte Schwimm-Verband munter weiter öffentliche Gelder für Trainer, die Gegenstand der Ermittlungen sind. Wie lasch es der DSV mit der Überprüfung seiner Vorzeigebetreuer hält, wurde letzte Woche mal wieder erkennbar, als die Stasi-Mitarbeit Hennebergs und Neumanns an die Öffentlichkeit drang.

Der Verband gab sich irritiert, er wolle die Vorwürfe umgehend prüfen, sagte DSV-Chef Rüdiger Tretow, und die Akten in Berlin einsehen. Dabei sind die Fälle längst bekannt: Der Zerv liegt die IM-Akte Neumann seit zwei Jahren vor, und das Land Sachsen-Anhalt ist als Arbeitgeber von Henneberg seit Monaten über dessen Stasi-Tätigkeit informiert.

In Wirklichkeit installierte der DSV stets eine Art Status der Unantastbarkeit, sobald Trainer oder deren Athleten erst einmal erfolgreich waren. So wundert es nicht weiter, daß die Staatsanwaltschaft nun auch im Umfeld von Franziska van Almsick ermittelt. Die Dopingvergangenheit ihrer drei bisherigen Trainer wird gleich im ersten Schub bearbeitet.

Van Almsicks Jugendcoach Norbert Warnatzsch, 50, wird von vier ehemaligen Schwimmern belastet. Gesondert untersucht die Zerv zudem den Fall des Warnatzsch-Schützlings Frank Pfütze. Der frühere Europameister über 1500 Meter starb 1991 im Alter von nur 32 Jahren an einem Herzinfarkt.

Dieter Lindemann, 46, der van Almsick in die Weltspitze führte und heute in Berlin als Bundesstützpunkttrainer angestellt ist, wird von einer Reihe Zeugen massiv als bisweilen zynischer Mädchen-Doper belastet - was Lindemann kategorisch bestreitet. Und Gerd Eßer, 44, seit neun Monaten Betreuer der Olympiazweiten, wird beschuldigt, jungen Schwimmern über Jahre Hormone verabreicht und diese zur Verschwiegenheit verpflichtet zu haben.

In einem späteren Verfahren muß zudem van Almsicks Berliner Sportarzt Hans-Joachim Wendler mit einer Anklage wegen Körperverletzung rechnen. Wendler, der heute Athleten des Berliner Olympiastützpunkts betreut, soll unter anderem die Anabolikagaben so hoch dosiert haben, daß eine Sportlerin wegen ihrer tiefen Stimme eine Ausbildung zur Dolmetscherin nicht beginnen konnte.

Die Chuzpe der deutschen Funktionäre, sich mit Dopingtrainern zu umgeben, wird nur übertroffen von ihren österreichischen Kollegen. Gleich nach der Wende hatten sich der Berliner Trainer Rolf Gläser und der Mediziner Bernd Pansold in die Alpenrepublik abgesetzt. Beide errechneten einst bei Dynamo Berlin die optimalen Dosierungen für Schwimmer.

Gerade bei diesen Mädchendopern sieht Staatsanwalt Hillebrand »keine Schwierigkeiten«, den Nachweis der Körperverletzung zu führen. So berichten einige Schwimmer, daß Kolleginnen in kurzer Zeit zu »Mannweibern« geworden seien. Andere Opfer erzählten den Zerv-Beamten, daß sie eine »tiefe, rauchige Stimme« bekommen hätten; einige klagten über extreme Körperbehaarung, die sich nicht oder nur teilweise nach Karriereende zurückgebildet hätte.

Erschwerend wird den Beschuldigten angelastet, daß sie Substanzen an Kinder und Jugendliche meist ohne deren Wissen verabreichten und die Eltern belogen ("Das sind Vitaminpräparate"). Lindemann soll einem Schützling gesagt haben, die Tabletten seien »gut für die Zähne«. Einer anderen Schwimmerin soll der besonders hartleibige Verbandsarzt Lothar Kipke die Hormongabe mit dem zynischen Satz begründet haben: »Ihr Mädels liebt zuwenig.«

Auch die Behauptung einiger Trainer, sie hätten stets in Befehlsnotstand gehandelt, wird von den Zerv-Leuten verworfen. So weigerte sich Winfried Leopold, der in Sevilla Teamchef der deutschen Mannschaft ist, einmal gegen die Aufforderung der Vorgesetzten, seine Athleten beim SC DHfK Leipzig mit Pharmaka vollzupumpen.

Mit Milde können allenfalls jene Dopingtrainer rechnen, die zu DDR-Zeiten Männer betreut haben. Die Verabreichung männlicher Hormone führt vor allem bei Frauen zu jenen schweren Gesundheitsschäden, die den Straftatbestand der Körperverletzung erfüllen.

Deshalb erwägt die Staatsanwaltschaft, die Männer-Trainer mit einer Einstellung gegen Zahlung einer Geldbuße oder Strafbefehlen davonkommen zu lassen. Damit würde die Justizbehörde einem »Gutachterkrieg« (Graichen) aus dem Weg gehen. Juristisch gesehen wäre damit auch van Almsicks Coach Eßer aus dem Schneider.

Im Grunde verfolgen die Ermittler mit den ersten Verfahren gegen die Trainer ohnedies primär ein übergeordnetes Ziel: Sie sollen das Fundament bilden, auf dem anschließend die politischen Verantwortungsträger des DDR-Sports wie der oberste Verbandschef Manfred Ewald und Staatssekretär Günter Erbach belangt werden können.

Strafrechtlich betrachtet, gibt Zerv-Direktor Graichen zu, »sind die gegenwärtigen Verfahren eigentlich Lullerei«. Doch sportpolitisch werden die Enthüllungen für ein Land, das sich selbst als internationaler Vorreiter im Dopingkampf sieht, schweren Imageschaden im Ausland zeitigen.

Dennoch tut Aufklärung not. Der alte Geist schwebt noch durch manche Schwimmhalle. Erst kürzlich machten die Eltern von Kindern aus dem Berliner Leistungszentrum öffentlich, daß sie sich durch »alte Machtstrukturen der DDR und deren Handlanger gegängelt fühlen«.

Als Bundesinnenminister Manfred Kanther nach den Olympischen Spielen in Atlanta Strategien für die deutschen Stützpunkte einforderte, hatten Berliner Trainer flugs »ein Regionalkonzept« zur Hand, das mit seiner strengen Medaillenfixierung fatal an DDR-Zeiten erinnert.

Federführend für das Papier waren ausgerechnet die Dopingtrainer Frischke und Lindemann sowie der ebenfalls beschuldigte Hans-Ulrich Lange, der jetzt als Trainer am Olympiastützpunkt in Berlin arbeitet.

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