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»Das muß man nehmen«

Was bisher nur im Osten Deutschlands denkbar schien, gab es auch im Westen: Sportler bekamen ohne ihr Wissen Anabolika. Andere Leichtathleten wurden offen zum Doping aufgefordert. Immer mehr Trainer und Ärzte werden belastet. Eine unabhängige Untersuchungskommission soll jetzt die Manipulationen aufklären.
aus DER SPIEGEL 50/1990

Die Einladung war unverfänglich und nicht ungewöhnlich. Der Wattenscheider Manager und Trainer Heinz Hüsselmann bat die Läuferin Ute Thimm in sein Büro beim TV Wattenscheid in der Lohrheidestraße. Der Mann, der Stars wie Zehnkämpfer Jürgen Hingsen und Sprinter Werner Bastians so erfolgreich trimmte, daß er zum Bundestrainer aufstieg, wollte mit seiner Athletin die Planung für die Saison 1987 besprechen.

Zwei Stunden blieb das Gespräch in dem kargen Dienstzimmer im ersten Stock eher unverbindlich. Dann kam Hüsselmann zur Sache: Er habe hier ein »ganz neues Mittel«, mit dessen Hilfe Ute Thimm im nächsten Jahr »11 Sekunden über 100 Meter, 22 Sekunden über 200 Meter und unter 49 Sekunden über 400 Meter laufen« könne.

Auf erste Nachfragen der Athletin reagierte Hüsselmann noch abwiegelnd: »Das ist nur ein Multi-Kombinationspräparat.« Als Ute Thimm insistierte, räumte der Trainer zunächst einen »leichten anabolen Gehalt« ein, um schließlich einzugestehen: »Das muß man nehmen, wenn man in die Weltspitze will.«

Um der erstaunten Läuferin das Mittel schmackhaft zu machen, wartete der Coach auch noch mit den Namen der Teamkollegen und genauen Dosierungen auf. Den Einwand, das seien doch alles »nur Männer«, konterte Hüsselmann lässig. Er habe »auch schon Erfahrung mit Frauen«.

Ute Thimm lehnte ab und berichtete zu Hause ihrem Ehemann Ulrich von Hüsselmanns Angebot. Das Paar wunderte sich über die Unverfrorenheit des Trainers, schwieg aber.

Die Verwunderung wäre noch größer gewesen, hätten die Thimms gewußt, was eine Akte bei der Staatsanwaltschaft Bochum ausweist: Als Hüsselmann im Herbst 1986 Ute Thimm die Anabolika anbot, wußte er, daß gegen ihn wegen Körperverletzung ermittelt wurde. Er war von der Hürdensprinterin Brigitte Gerstenmaier angezeigt worden, ihr ohne ihr Wissen Steroide gegeben zu haben (siehe Seite 260). Und nur Tage vorher war der amtliche Beschluß, in Hüsselmanns Privatwohnung und seinem Büro »sämtliche Behältnisse« nach Anabolika zu durchsuchen, auf Intervention des Trainers ausgesetzt worden.

So blieb, wieder einmal, die Dopingpraxis in der Bundesrepublik im Verborgenen. Selbst im vielgelobten Mäzenatenreich des Wattenscheider Textilfabrikanten Klaus Steilmann, der im Bochumer Vorort Wattenscheid mit jährlich mehreren Millionen Mark Fußballer, Leichtathleten und Gymnastinnen unterstützt, herrschte jene Doping-Connection, die über Jahre ungestört wirken konnte. Der »Flächenbrand Doping«, so der Karlsruher Philosoph Hans Lenk, hat offenbar in jedem Winkel der Republik jegliches Gefühl für Fairneß zerstört.

Auch der für den Sport zuständige Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble mag nicht mehr an die von den Funktionären immer wieder bemühte »Selbstreinigungskraft des Sportes« glauben. Auf Schäubles Druck hin wurde der Präsident des Bundessozialgerichtes, Heinrich Reiter, an die Spitze einer unabhängigen Untersuchungskommission berufen, die den deutschen Dopingsumpf untersuchen soll.

Wie eng geknüpft das Netz aus Förderern und Duldern hierzulande war, zeigt beispielhaft die Berufung des Dopingexperten Hartmut Riedel auf einen Professorenstuhl in Bayreuth (SPIEGEL 35/1990). Riedel, das bewies jetzt auch der Stern mit Auszügen aus dessen geheimer Habilitationsschrift, war der perfideste Manipulationsforscher in der früheren DDR. Die internen Protokolle der Berufungskommission in Bayreuth legen den Verdacht nahe, daß allen Beteiligten die Anabolika-Experimente Riedels bekannt gewesen sind. Lobend heißt es darin über den Spritzendoktor: »Mit originellen diagnostischen Verfahren erarbeitete er wesentliche Erkenntnisse auf dem Sektor der anabolen Hormone.«

Um den »anerkannten Fachmann auf diesem Gebiet« (Uni-Protokoll) - der 1987 aus der DDR gekommen war und im Deutschen Leichtathletik-Verband (DLV) schon segensreich gewirkt hatte - angemessen im bundesdeutschen Wissenschaftssystem unterzubringen, bot das Bayreuther Institut für Sportwissenschaften erstklassige Bedingungen. Institutsleiter Professor Rolf Andresen, ein Schwager des bayerischen Landesvaters Max Streibl, erreichte beim Kultusministerium die Genehmigung für eine zunächst »nicht eingeplante« (Institutsbroschüre) C3-Professorenstelle für Sportmedizin.

Daß mit Riedel auch der richtige Mann auf den Stuhl gesetzt wurde, dafür sorgten die Sportmediziner Professor Joseph Keul und Professor Wildor Hollmann mit positiven Gutachten über den Kandidaten. Die Berufungskommission vertraute auf diese beiden Namen, weil bei ihnen »davon ausgegangen werden kann, sich in Dr. Riedels auf den DDR-Sport bezogenen sportmedizinischen Qualifikation auszukennen«.

Riedel, der zu allen Vorwürfen immer wieder erklärt, er habe in der DDR nur Anabolikaforschung betrieben, aber nie deren praktische Anwendung veranlaßt, wird in Bayreuther Studentenkreisen nur noch »Edward Teller der Sportmedizin« genannt - in Anlehnung an den amerikanischen Physiker, der die Atombombe mitentwickelte.

Riedels Förderer Andresen dient dem deutschen Sport inzwischen als Leitender Direktor des Bundesausschusses Leistungsport (BAL). Dieses Bindeglied zwischen Deutschem Sportbund und dem Staat verlangte von den Athleten immer höhere Leistung, wenn sie in den Genuß von Sportförderung gelangen wollten. Und wenn in internen Papieren die Formulierung »Läßt letzte Leistungsbereitschaft vermissen« auftauchte, wußten Insider Bescheid: Dann weigerte sich der Athlet zu dopen. Daß Wendigkeit auch im Westen hilfreich ist, zeigte sich in der letzten Woche - da war Andresen einer der ersten, der für die Untersuchungskommission nach »unabhängigen Persönlichkeiten« rief.

Doch wie soll man die im anabolikaverseuchten Deutschland finden? Keiner kann inzwischen noch mit Sicherheit sagen, welcher Sportmediziner mitgedopt hat und wer nicht. Die Beschaffung der Medikamente war offensichtlich nie ein Problem.

Immer wieder war auch der langjährige DLV-Verbandsarzt Professor Armin Klümper in Verdacht geraten, die Sportler mit Anabolika versorgt zu haben. Der Arzt, dessen Spezialität der »Klümper-Cocktail« war, betreute auch die 1987 gestorbene Siebenkämpferin Birgit Dressel. Aber nicht einmal der Tod der Athletin konnte Deutschlands obersten Sportführer, den Olympier Willi Daume, von der Meinung abbringen, Klümpers Wirken sei unverzichtbar.

Jetzt steht der Freiburger Athleten-Doktor wieder im Zwielicht. Er tat für seine Schäfchen offensichtlich alles. Einem Läufer, den er in elf Jahren mit rund 1000 Spritzen behandelt hatte, überließ er ein von ihm unterschriebenes Blankorezept zur Selbstbedienung: »Du weißt ja, was du nimmst.«

Bislang waren in diesem allumfassenden Dopingsystem nur die Athleten die Dummen. Wurden sie erwischt, drohten ihnen Regreßforderungen von Sponsoren und Sporthilfe - woher die Anabolika kamen, fragte niemand. So müssen die Sportler bis zuletzt leugnen - wie die Hammer Sprinterin Silke Knoll nach den SPIEGEL-Veröffentlichungen der letzten Woche. Während Bundestrainer Jochen Spilker sofort zurücktrat, behauptet Silke Knoll beharrlich, die verräterischen Quadrate in ihrem Trainingsprotokoll stünden nicht für eine Anabolikaeinnahme, sondern für »Vitamin-E-Tabletten«.

Andere, dem SPIEGEL ebenfalls vorliegende Dokumente zeigen, daß diese Darstellung nicht stimmt. In diesen Papieren hat Silke Knoll ("Ich nehme nur homöopathische Mittel") jedes unbedenkliche Präparat mit Abkürzungen aufgeführt, die Quadrate tauchen zusätzlich auf. Auf ihrer Medikamentenliste steht zudem auch das Mittel Hepagrisevit - es wird gegen Leberstörungen eingenommen, eine bekannte Folge bei Anabolikaeinnahme. Und eine Kollegin erinnert sich exakt an die Rückfahrt nach einem Billardspiel. Im Auto sprach Silke Knoll »kurz hinter der Eisenbahnbrücke« detalliert über ihre Dopingmethoden.

Die Dämme aus Schweigen und Lügen halten nicht mehr. Der Langstreckler Dieter Baumann schilderte bei einem Symposium, wie auch ihm von DLV-Offiziellen während eines Trainingslagers bei einem Gespräch am Kamin der Anabolikakonsum angetragen wurde. Und als das Gespräch auf Riedel kam, bekannte der Silbermedaillengewinner von Seoul: »Wenn ich diesen Namen nur höre, kommt mir das Kotzen.«

Denn viele Athleten haben schon mitbekommen, was in den letzten Jahren im DLV möglich war. So lud der Diskus-Bundestrainer Karlheinz Steinmetz während der Vorbereitung auf den Länderkampf gegen die DDR im Juni 1988 einige seiner Asse ins Auto und chauffierte sie zur »Ernährungsberatung« zu Riedel, der damals noch in Paderborn wirkte. Von der Beratung zurück, berichteten die starken Männer detailliert, was sie über Dosierungen und Wirkungen von Anabolika erfahren hatten. Da durfte sich DLV-Leistungssportdirektor Horst Blattgerste bestätigt fühlen, der nach der Verpflichtung Riedels frohlockt hatte: »Jetzt wissen wir endlich alles, was die drüben gemacht haben.«

Und bei der Europameisterschaft in Athen referierte der Frauentrainer Christian Gehrmann beim Frühstück im Athletenhotel ganz ungeniert über die Quelle seines Dopingwissens. Er packe mitunter sein Auto »voll Anabolika aus dem Westen« und karre sie zu Ostblocktrainern. Im Gegenzug werde er in deren Know-how eingeweiht.

Vor den Olympischen Spielen in Los Angeles teilte Bundestrainer Karlheinz Steinmetz noch in den USA Testosteron-Zäpfchen eigenhändig an seine Athleten aus. Unter den Empfängern waren auch die Diskuswerfer Alwin Wagner und Werner Hartmann. Als diese beiden später Probleme mit dem DLV bekamen, beschlossen sie, die Dopingbräuche öffentlich zu kritisieren.

Kurze Zeit später mochte Hartmann nicht mehr: Er fürchte, 70 000 Mark Sporthilfe zurückzahlen zu müssen. Schnell wurde der wichtigere Grund für die neue Verschwiegenheit klar.

Hartmann hatte in DLV-Kreisen angedeutet, auspacken zu wollen. Da wurde dem unsicheren Kantonisten in bewährter Weise der Mund geschlossen. Auch ohne im Besitz eines Trainerdiploms zu sein, avancierte der Wattenscheider zum Bundestrainer für den C-Kader. Gegen Wagner aber läuft beim DLV ein Verfahren wegen »verbandsschädigenden Verhaltens«.

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