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EISKUNSTLAUFEN »Das Teufelchen in mir«

Die ehemalige Deutsche Meisterin Eva-Maria Fitze über ihre Bulimie-Therapie und Nöte von Leistungssportlern
aus DER SPIEGEL 11/2000

Fitze, 17, gewann 1997 und 1999 die Deutsche Meisterschaft im Eiskunstlaufen. Seit fast drei Jahren leidet die Schülerin an Bulimie. Im letzten Oktober unterbrach sie ihre sportliche Laufbahn. Seither lebt sie in der Münchner Wohngemeinschaft »Pathways«, in der Patientinnen mit krankhaften Essstörungen therapiert werden. -------------------------------------------------------------------

SPIEGEL: Frau Fitze, wissen Sie noch, warum Sie als Kind Eiskunstläuferin werden wollten?

Fitze: Was mich an diesem Sport immer gereizt hat, war die Möglichkeit, das, was in mir drin ist, aufs Eis zu bringen. Ich bin fürs Publikum gelaufen, weil es mir Spaß gemacht hat zu zeigen, was ich kann.

SPIEGEL: Spaß hatten Sie vermutlich nur bis zu dem Tag, an dem Ihre damalige Trainerin sagte: »Ich weiß nicht mehr, was ich mit dieser blöden, fetten Sau noch machen soll.«

Fitze: Schon bevor dieser Satz fiel, hat sie mir öfters gesagt, dass ich abnehmen soll, wenn ich Erfolg haben will. Das sei nötig, weil Eiskunstlaufen nun mal eine ästhetische Sportart sei. Ich habe deshalb innerhalb kürzester Zeit zehn Kilo Gewicht verloren und war äußerlich am Rande der Magersucht. Aber in Wirklichkeit hatte ich Bulimie. Es gab Leute, die es toll fanden, dass ich so schnell so viel abgenommen habe.

SPIEGEL: Ihre frühere Trainerin hat demnach Schuld an Ihrer Krankheit?

Fitze: Sagen wir so: Sie hat mit Schuld daran. Es gab aber noch andere traumatische Erlebnisse. 1997 etwa war ich bei der Sportgala der ARD, und während der Übertragung sagte die Moderatorin über mich: Man sieht, sie hat ein paar Pfündchen zu viel, aber das wird sie schnell wieder in den Griff bekommen. Das hat mir eigentlich am meisten zugesetzt. Das Videoband davon habe ich mir zigmal angesehen, aber was es für mich wirklich bedeutete, habe ich erst gemerkt, als ich es meinen heutigen Therapeuten vorgespielt habe.

SPIEGEL: Sie waren zu Beginn Ihrer Krankheit 15 Jahre alt und wogen bei 158 Zentimetern Körpergröße 55 Kilogramm. Fanden Sie selber auch, dass Sie abnehmen mussten?

Fitze: Ich selber habe mich wohl gefühlt, aber manche Leute aus meinem Umkreis haben mir das Gefühl gegeben, dass es einfach ekelhaft ist, so auszusehen wie ich. Wenn man immer wieder Sprüche hört wie »Fitze, fett, faul«, dann fühlt man sich irgendwann wirklich so. Ich war nicht stark genug zu sagen: Ich bin nicht dick, ich bin, wie ich bin.

SPIEGEL: Wie wollten Sie denn damals werden?

Fitze: Ich wollte plötzlich so aussehen wie die Supermodels. Denn die waren »in«, und ich war »out«.

SPIEGEL: Wie sind Sie auf den Gedanken gekommen, das, was Sie gerade zu sich genommen hatten, einfach wieder zu erbrechen?

Fitze: Ich habe einmal eine Fotostory in »Bravo« gelesen. Da hat ein molliges Mädchen alles Mögliche in sich reingestopft und später wieder erbrochen. Man hat alles genau sehen können. Am Ende der Story war sie dünner als vorher. Da dachte ich mir: Schau her, so geht es doch.

SPIEGEL: Haben Sie nie versucht, auf andere Weise abzunehmen?

Fitze: Nein. Es war nur noch ein einziger Gang vom Kühlschrank zur Toilette. Mein Körper konnte nichts mehr bei sich behalten. Der Magenschließmuskel hat nicht mehr funktioniert, alle normalen Essfunktionen waren zerstört. Anfangs hatte ich mir vorgenommen: Ich nehme fünf Kilo ab und dann ist Schluss damit. Als ich aber sah, wie rapide man an Gewicht verliert, habe ich immer weitergemacht. Ich konnte nicht mehr aufhören. Nach drei Monaten wog ich nur noch 36 Kilo. Vor dem Spiegel habe ich dann gedacht: So, jetzt bist du ja eigentlich nur noch ein Skelett.

SPIEGEL: Wussten Sie damals, dass Sie an Bulimie leiden?

Fitze: Nicht genau. Ich wollte zwar magersüchtig werden, nichts mehr essen können, keine Kalorien mehr aufnehmen. Aber ich hatte keine Ahnung davon, dass das in Essanfälle umschlagen würde.

SPIEGEL: Wie haben Sie die erlebt?

Fitze: Oft sind die Anfälle auf dem Weg vom Training nach Hause gekommen. Ich bin dann in Bäckereien und Supermärkte gegangen und hab mir geholt, was ich brauchte. Pizza, Süßigkeiten, alles, was fett ist. Dann bin ich nach Hause und hatte manchmal das Pech, dass ich keinen Schlüssel dabei hatte. In solchen Fällen bin ich über die Leiter in mein Zimmer geklettert - immer in der Angst, jemand könnte mich erwischen.

SPIEGEL: Was haben Sie bei solchen Essanfällen empfunden?

Fitze: Am Anfang merkt man nur, wie sich der Bauch aufbläht, man bekommt ein unbeschreibliches Gefühl von Völle. Ich habe immer gedacht: So muss es sein, wenn man schwanger ist. Und dann denkt man nur noch: Das muss jetzt alles raus. Ich bin damals total abgerutscht. Ich fühlte mich selbst wie der letzte Müll. Ich habe aufgehört, mich zu pflegen, ich habe mich vor mir selber geekelt.

SPIEGEL: Und das hat keiner gemerkt?

Fitze: Ich habe immer versucht, alles zu vertuschen. Bei gemeinsamen Wettkampfveranstaltungen habe ich mich zwar manchmal gefragt, ob keiner merkt, wie viel ich esse. Aber wahrscheinlich war das für die anderen gar nicht so leicht zu registrieren. Ich habe mich ja freiwillig in die hinterste Ecke verzogen, damit mich keiner beobachtet.

SPIEGEL: Nicht mal Ihre Eltern haben etwas gemerkt?

Fitze: Meine Eltern wussten natürlich irgendwann von dem Problem. Meine Mutter wollte zwar einen Platz in der Klinik für mich besorgen, aber ich wollte einfach nicht einsehen, dass ich krank bin.

SPIEGEL: War Ihnen nicht bewusst, dass diese Krankheit tödlich enden kann?

Fitze: Mir war zwar klar, dass man sich zu Tode hungern kann, aber ich sagte mir immer: Ich esse ja. Dass ich meinem Körper durch das ständige Erbrechen lebenswichtige Substanzen entziehe, habe ich nicht erkannt. Erst als ich schon total abgemagert war, wurde mir bewusst, dass ich mich irgendwie dem Tod nähere.

SPIEGEL: Zu einer Therapie haben Sie sich aber erst zweieinhalb Jahre nach Beginn Ihrer Krankheit entschlossen. Warum haben Sie dazu so lange gebraucht?

Fitze: Es war ja zunächst nicht so, dass mein Sport darunter gelitten hätte. Im Gegenteil: Ich konnte höher springen als sonst, plötzlich klappten sogar alle Dreifach-Kombinationen. Und Deutsche Meisterin bin ich schließlich auch geworden. Der Absturz kam erst bei den Weltmeisterschaften im vergangenen Jahr. Da bin ich 21. geworden, das war der Tiefpunkt.

SPIEGEL: Seit Oktober leben Sie nun mit fünf anderen Patientinnen in einer Wohngemeinschaft in München, in der Essstörungen therapiert werden.

Fitze: Was früher für mich Schule und Training war, ist für mich heute Schule und Therapie. Montags habe ich Kunsttherapie, dienstags Psychotherapie, mittwochs gemeinsames Kochen und Essen, donnerstags komme ich gar nicht zur Ruhe: in der Frühe gleich Therapie, dann gemeinsames Frühstück, dann Schule, dann WG-Gruppe, dann Einzeltherapie, dann Gruppentherapie, und dann ist es halb neun abends. Am Wochenende mache ich immer etwas mit meinen Eltern zusammen, damit gar nicht erst eine große Lücke entsteht ...

SPIEGEL: ... die Sie zu einem Essanfall verleiten könnte?

Fitze: Wenn es einmal so weit ist, dass ich sagen kann: So, du hast jetzt Zeit für dich,

aber diese Zeit kann ich auch anders füllen als mit einem Essanfall, dann habe ich

schon eine Menge geschafft.

SPIEGEL: Wann hatten Sie Ihren letzten Rückfall?

Fitze: Das ist jetzt schon fast zwei Monate her. Wenn ich jetzt an früher denke, dann lässt mich das noch immer nicht los. Ich bin ja nicht geheilt, sondern ich muss nach wie vor gegen diesen Trieb ankämpfen.

SPIEGEL: Wie machen Sie das?

Fitze: Sie müssen sich vorstellen, dass da das kleine Teufelchen in mir sitzt, und das sagt: Dieses oder jenes Problem kannst du nicht anders lösen als durch einen Essanfall. Der größere Teil von mir sagt aber: Das brauchst du nicht, das bringt nichts, im Gegenteil: Danach fühlst du dich nur noch schlechter.

SPIEGEL: Fühlen Sie sich als Opfer eines Sportsystems?

Fitze: Der Druck, den ich verspürt habe, kam natürlich einerseits aus diesem System heraus. Aber ich hätte ja auch sagen können: Ihr könnt mich alle mal, ich mache jetzt das, was ich für richtig halte. Aber ich habe mich eben immer wieder beeinflussen lassen. Nicht der Sport hat mich krank gemacht, sondern die Beurteilung meiner Person durch Leute, die direkt oder indirekt mit diesem Sport zu tun haben.

SPIEGEL: Für Ihren Sport haben Sie auf alles verzichtet, was Gleichaltrige erlebt haben. Sie hatten noch nie einen Freund, und in der Discothek waren Sie auch noch nicht. Jetzt müssen Sie die Folgen Ihres Sports therapieren. Glauben Sie wirklich, dass Sie ein Einzelfall sind?

Fitze: Das bin ich sicher nicht. Durch die Therapie weiß ich, dass das Eislaufen der entscheidende Grund für meine Krankheit war. Ich habe in letzter Zeit so viele dünne Persönchen auf dem Eis gesehen, bei denen ich nur gedacht habe: Denen müsste doch eigentlich geholfen werden. Eiskunstlaufen ist so eine schöne Sportart - aber sie steht sich zunehmend selbst im Wege.

SPIEGEL: Dennoch wollen Sie demnächst wieder zurückkehren in Ihren Sport. Haben Sie keine Angst davor, dass der Kreislauf von vorn beginnen könnte?

Fitze: Ich erwarte von mir im Moment nur, dass ich diesen Sport gesund betreiben kann. Wenn einer zu mir sagen sollte: Du musst abnehmen, dann werde ich vielleicht ein Kilo abnehmen. Aber erstens nur dann, wenn ich selber dieser Meinung bin, und zweitens: Nach einem Kilo ist dann wirklich Schluss. Ich will mein Leben wieder genießen, ich will alles nachholen, was ich verloren habe. Ich will Training durch etwas anderes ersetzen: Freude am Leben.

SPIEGEL: Warum hören Sie dann nicht für immer mit dem Eislaufen auf?

Fitze: Ich will ganz einfach zurückkommen. Ich will zeigen, dass ich in einer Saison, in der ich nicht trainieren konnte, trotzdem etwas geleistet habe.

INTERVIEW: MATTHIAS GEYER, GERHARD PFEIL

* Am 10. Januar 1999 in Oberstdorf; mit derMeisterschaftszweiten Tanja Szewczenko.

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