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Olympia DEN MYTHOS VERKAUFT

Die Vergabe der Olympischen Spiele 1996 nach Atlanta sollte der Gewinnmaximierung dienen. Doch jetzt plagt die amerikanischen Olympiaplaner finanzielle Not. Um Kosten zu sparen, werden für die Stadien Armenviertel plattgemacht. Die Slumbewohner drohen mit einer Blockade der Bauarbeiten.
aus DER SPIEGEL 35/1993

Vorfreude auf die Olympischen Spiele will bei Every Bess nicht aufkommen. Er wohnt in Summerhill, wo vernagelte Fensterhöhlen und verrottete Straßenkreuzer nicht Kulisse für ein Rap-Video sind, sondern Realität. Die wenigen Geschäfte im Viertel sind vergittert, sie verkaufen Schnaps.

Bess sitzt mit ein paar Freunden an der Kreuzung Fraser Street/Georgia Avenue und bettelt Passanten an. Die Ausbeute ist gering, »hier haben nur die Dealer Geld«. 300 Meter entfernt wird das Olympiastadion gebaut, ein Prachtbau für 209 Millionen Dollar, mitten in Atlantas Armenviertel. Wenn die Eröffnungsfeier beginnt, ahnt Bess, »werde ich wohl nicht mehr hier sein«.

Als am 18. September 1990 in Tokio verkündet wurde, wer die Olympischen Spiele 1996 ausrichten darf, hegte Bess die Hoffnung auf ein besseres Leben, auf eine Wohnung ohne Wasserflecken an der Wand, einen Job. Mit ihm hoffte die ganze Stadt: Organisationschef Billy Payne spekulierte auf einen satten Gewinn; Reverend Timothy McDonald glaubte, daß in seiner Gemeinde fortan mehr Optimismus als Crack herrschen würde; Gewerkschaftschef Stewart Acuff wünschte sich faire Löhne für die Arbeiter, damit Atlantas Kluft zwischen Arm und Reich etwas schmaler würde.

Doch drei Jahre später ist die Begeisterung verschwunden. Von Gewinn ist kaum noch die Rede, die Arbeitslosigkeit liegt stabil bei neun Prozent, das Olympiastadion errichten vornehmlich auswärtige Leichtlohnkräfte, die Slums werden zum Teil planiert. »Es wäre so viel möglich gewesen«, sagt Acuff, »aber die Spiele werden kommen und gehen, und wir haben nichts davon.«

Was sich in Barcelona andeutete, setzt sich in Atlanta fort. Die große Hoffnung auf Olympia als Katalysator für Wirtschaft, Wohnungsbau und Arbeitsmarkt erweist sich als Illusion. Statt dessen zeigt Atlanta, wie das Mammutunternehmen die Stadt und das Organisationskomitee zwingt, ihren Zeit- und _(* Nach der Vergabe der Olympiade 1996. ) Kostenplan auf dem billigsten und brutalsten Weg durchzupeitschen. Olympia, sagt Acuff, »wird die sozialen Gegensätze noch verschärfen«.

Nirgendwo in den Staaten prallen Boom und Elend härter aufeinander als in der Heimatstadt des Bürgerrechtlers Martin Luther King. Das US-Magazin Fortune wählte die Hauptstadt des Bundesstaates Georgia zum attraktivsten Firmenstandort des Landes, hier lebt der Wirtschaftswundertraum, hier siedeln 400 der 500 größten US-Unternehmen: Ted Turners Medienmaschine mit dem Fernsehsender CNN, Delta Airlines und Coca-Cola.

Gleichzeitig ist Atlanta die viertärmste Stadt der USA. In der City leben 27,3 Prozent der Bürger unterhalb der Armutsgrenze, gemessen an der Einwohnerzahl passieren doppelt soviel Morde wie in Los Angeles und zweieinhalbmal soviel Raubüberfälle wie in New York. Wer lesen kann, gilt als privilegiert, zwei Drittel der Erwachsenen in Summerhill sind ohne Arbeit.

Von seinem Platz vor dem Schnapsladen kann Every Bess die Skyline sehen, die nur durch einen Highway von Summerhill getrennt ist. Bis vor ein paar Monaten hat er in einer Kantine bei Coca-Cola geputzt. Das Brause-Imperium (Werbeslogan: »Wir haben alle Kulturen bereichert!") zahlt dem Internationalen Olympischen Komitee (IOC) 40 Millionen Dollar für die Reklame mit den fünf Ringen. Bess bekam fünf Dollar die Stunde. »Ich habe den Job gut gemacht«, sagt er, »eigentlich hätte ich sieben verdient.« Statt dessen wurde er gefeuert. _(* Vor dem Baseballstadion in Summerhill. )

Nun klammert sich Bess an die Versprechen von Douglas Dean, dem Chef der Nachbarschaftshilfe Summerhill. Aus seinem Büro sieht Dean das Baseballstadion der Atlanta Braves, das wie ein gestrandetes Raumschiff inmitten riesiger Parkplätze liegt. Gleich nebenan entsteht das neue Stadion. Allein die verrotteten Häuser ringsum stören die olympische Optik noch.

Auf Deans Plänen sieht die Gegend ganz anders aus. Stapelweise zieht er bunte Zeichnungen aus einer Mappe: Reihenhäuser mit Garten, Einkaufspassagen, in denen Brunnen plätschern, Kinder spielen und Eltern Einkaufstüten schleppen - ganze Straßenzüge voll heiler Welt. »Das Atlanta der Zukunft«, schwärmt er und klatscht sich Beifall.

Mit Olympia, versichert Dean und poliert seinen Goldring am Revers, kommt der Wohlstand. Die Obdachlosen würden morgens zur Arbeit gehen, abends über Alleen rund ums Stadion flanieren und nachts im Eigenheim schlafen. Deans Plan bis zur Eröffnungsfeier ist simpel: Zuerst werden die Bewohner ausgebildet, dann bauen sie das Stadion, schließlich ihr eigenes Glück.

»Eine tolle Show«, spottet Acuff. Zwar werde nie gebaut, was die Bilder versprechen, aber als »Marionette« des Organisationskomitees (ACOG) funktioniere Dean perfekt. Der ehemalige Immobilienmakler ist das gute Gewissen von ACOG, mit Optimismus auf Knopfdruck soll er die Zweifel an der Sozialverträglichkeit Olympias zerstreuen. ACOG hat der Initiative aus seinem 1,6-Milliarden-Budget 150 000 Dollar spendiert, wovon zwei Drittel sofort an Berater flossen.

Daß mit dem Rest nun bis zu 300 Menschen aus Summerhill, Peopletown und Mechanicville zu qualifiziertem Personal umgeschult werden, mag Acuff nicht glauben. Eine fundierte Fortbildung dauert Jahre, der Schnellkurs von ACOG ist in wenigen Wochen absolviert. »So ziehen sie sich Leute heran, die nicht mal eine Bauzeichnung lesen können.«

Die Probleme in den Slums werden mit Deans Arbeitsbeschaffungsprogramm nicht gelöst. Von 150 Menschen, die sich für das erste Jobtraining bewarben, wurden nur 24 für tauglich befunden. Die anderen fielen durch den Eignungs- oder Drogentest. »So werden die, die wirklich Hilfe brauchen, weiter ausgegrenzt«, klagt Acuff.

Statt dessen werden billige Kräfte aus Alabama herangekarrt. So war es bisher fast immer, wenn in Atlanta gebaut wurde. Dean selbst hat sein Bürohaus von einer Firma renovieren lassen, die die von der Gewerkschaft geforderten Mindesttarife nicht zahlte.

Mehr als symbolische Akte können sich Atlantas Olympiamacher nicht leisten. Ihr Traum, wie Los Angeles viele Millionen Dollar Gewinn zu machen, ist bereits geplatzt. Im Gegensatz zu 1984, als das IOC froh war, überhaupt eine Stadt für die Spiele gefunden zu haben, leidet Atlanta unter Samaranchs Kommerzdiktat: Das Geld fließt nicht wie erhofft.

ACOG mußte, wie alle Olympiabewerber, einen Knebelvertrag unterzeichnen, der den IOC-Sponsoren großzügige Vorrechte garantiert, die Werbemöglichkeiten lokaler Geldgeber dagegen drastisch einschränkt. Statt, wie geplant, Ende 1992 zehn Großmäzene präsentieren zu können, die 40 Millionen Dollar einzahlen, hat ACOG daher erst fünf gefunden. Auch der Verkauf der US-Fernsehrechte brachte nur 456 Millionen Dollar, ein Viertel weniger als erwartet. Trost spenden allein die Gehälter: Der oberste Olympiaarbeiter Payne kassiert 530 000 Dollar im Jahr.

Mit dem unerwarteten Einnahmenknick des scheinbaren Selbstläufers Olympia wird ACOG zum eisernen Sparkurs gezwungen. Nahverkehrsprojekte sind ebenso gestrichen wie geplante Parks und Kulturprogramme. Nun sollen Straßen und Plätze an Sponsoren verscherbelt werden: McDonald''s-Boulevard statt Martin Luther King Drive.

Für die Unterprivilegierten haben die ACOG-Männer indessen kaum etwas getan. Nur Amber, die Stripperin aus der Elite-Bar, wurde auf das Spektakel vorbereitet. Ein Olympiamanager, im nahen ACOG-Hauptquartier für internationale Beziehungen zuständig, habe ihr Trinksprüche in acht Sprachen beigebracht. »Das ist gut fürs Geschäft, wenn die Fremden kommen.«

Die Erwartungen des IOC, daß Atlanta die einträglichsten Spiele aller Zeiten veranstalten werde, wird Paynes Mannschaft dagegen kaum erfüllen. Schon bei der Bewerbung, klagt Reverend Timothy McDonald, wurde die vermeintliche Boomtown »als Mythos verkauft, der mit der Realität nichts zu tun hat«.

Der Geistliche ist der Robin Hood von Atlanta. Vor neun Jahren gründete er in einem der ärmsten Viertel der Stadt eine Kirche, baute ein Gemeindezentrum mit Kindergarten, Drogenberatung und einer Anlaufstelle für alleinerziehende Mütter auf.

Schon bald hatte McDonald die Mogelpackungen der Olympiaplaner erkannt: »Diese Stadt hat eine große Tradition, Großbauten in die Elendsviertel zu setzen und die Armen zu verscheuchen. Dort erwarten sie den geringsten Widerstand.« Weil er das Mißverhältnis zwischen Versprechen und Realität anprangerte, wurde der Reverend zur Galionsfigur des olympischen Widerstands.

Kurz vor Weihnachten stürmten McDonald und Acuff gemeinsam mit knapp 100 Aktivisten das ACOG-Hauptquartier, um den Managern Zusagen zugunsten der Armen abzuringen. »Sie haben Angst vor mir«, sagt der Reverend milde, »und das ist gut so.«

Die Olympiakritiker drohen mit einem amerikanischen Wackersdorf. Eine Blockade der Bauarbeiten durch ein Zeltdorf, sagt Acuff, sei jederzeit zu verwirklichen. »Hier gärt eine hochexplosive Mischung«, weiß der Herr über 82 000 Gewerkschaftsmitglieder: »Die Leute haben wenig zu verlieren. Sie freuen sich darauf, extrem militant zu werden.« Y

* Nach der Vergabe der Olympiade 1996.* Vor dem Baseballstadion in Summerhill.

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