»Der Bub ist ganz anders«
Einmal geschieht es tatsächlich, daß er sich aus seiner Fischhaut heraustraut. Michael Groß, Superstar zumindest der ersten Woche bei den Olympischen Spielen in Los Angeles, verhält sich da endlich so, wie sich die Fernsehwelt wohl einen Goldmedaillengewinner wünscht.
In Tarzan-Manier pumpt er den Brustkorb auf und breitet die langen Arme aus. Arme, deren phänomenale Spannweite - 2,27 Meter angeblich - nicht nur in den USA mittlerweile wie ein Naturwunder beschrieben wird.
Näher am Beckenrand, erzählen später Funkreporter, die mit Richtmikrophonen arbeiten, sei sogar so etwas wie ein Urschrei zu hören gewesen; ein bißchen gequetscht noch und zaghaft, aber immerhin: ein Lebenszeichen.
Daß er sich nach seinem offenkundig von ihm selbst nicht erwarteten Triumph über den amerikanischen 100-Meter-Delphin-Spezialisten Pablo Morales endlich einmal kameragerecht gebärdet, erfreut nicht nur die Fernsehregisseure von ABC, die nach Drama und Gestik suchen.
Auch auf den Stahlrohrtribünen des vom Buletten-Konzern McDonald''s finanzierten Stadions, zumal unter den deutschen Zuschauern und Sportfunktionären, ist Erleichterung spürbar. »So locker, so gelöst«, jubelt der Trainer des nun schon zweifachen Olympiasiegers, der Studienrat Hartmut Oeleker, habe er den »Micha« noch nie erlebt. »Zum ersten Male«, bestätigt auch Vater Groß, sei sein Sohn »gerührt« gewesen.
Hat sich der Micha nun wirklich befreit, hat er sich tatsächlich geschuppt? Es hat Mißstimmungen gegeben am Vortage nach seinem ersten Sieg, als er der internationalen Pressekonferenz fernblieb. Bissige Kommentare folgten: Der störrische Mensch aus Germany ist danach für den »Los Angeles Herald-Examiner« nicht mehr der bewunderte »Albatros«, sondern der komische »Big Bird« aus der Sesamstraße. Der Rekordschwimmer, vermutet ein Kommentator im Fernsehen, habe sich nur gesperrt, weil er sich selbst für häßlich halte.
Das ist zwar ziemlich gemein, aber doch ein Urteil, das sich im Kern mit den landläufigen Empfindungen decken könnte. Schwimmer in den USA sind strahlende Beach-Boys, keine Pickelgesichter. Sie trainieren in Sichtweite von Hollywood, und so sehen sie auch aus: braungebrannt, die Haare von Wasser und Sonne gebleicht, die Zähne stets zu einem Cheese-Lächeln gebleckt. Lauter junge Johnny Weissmullers.
An Michael Groß dagegen hätten die Talentsucher von Warner Brothers Inc. so wenig Spaß, wie nun Amerikas Reporter an ihm haben. In dem 20jährigen Abiturienten aus Frankfurt erlebt eine irritierte Sport-Großmacht den Antitypen ihrer eigenen feschen Goldjungen. Ein Held dieser Art ist den Amerikanern fremd und suspekt: introvertiert, schüchtern vielleicht und, was noch schlimmer wäre, unter Umständen gar bescheiden. Vor allem aber: Wer in den USA triumphieren will, muß reden können.
Als sich Groß zwei Tage später dann doch noch vor die Presse bequemt, erlebt die fassungslos, daß der Mann, der fast so gut schwimmt wie ein Fisch, auch fast so stumm ist. Nach einer halbstündigen gegenseitigen Quälerei blättern die Journalisten entnervt durch ihre Blöcke, entdecken aber kaum einen Satz, der sich verwerten ließe. Im Grunde sei ihm alles »egal«, und das hält er für normal.
Egal und normal sind in L. A. die Schlüsselworte, um die sich seine kargen Sätze ranken. Nichts wird belobigt, aber auch nichts beklagt. Insbesondere nichts, was sinnlich wahrnehmbar wäre, wird von Groß je ausgesprochen.
Groß bleibt Groß, da helfen auch keine Goldmedaillen. Der kurze Emotionsschub am Schwimmbecken gewinnt nachträglich den Charakter eines Ausrutschers. Maulfaul bleibt er wie eh und je. Wie schon zuvor in Deutschland, als der zweimalige »Sportler des Jahres« seiner ersten Ehrung ganz einfach nicht folgte und auch Kanzler Kohl einen Korb gab, hält er in Kalifornien eisern auf Abstand. Ihm ist Nähe ein Horror.
Natürlich wäre den bundesdeutschen Funktionären ein etwas verbindlicherer Michael Groß lieber.
Aber was will man machen? Michael Groß, Weltrekordhalter, Weltmeister, Europameister und nun Olympiasieger en gros, ist ihnen über die Köpfe gewachsen. So bedeutend ist das (für den Ersten Offenbacher Schwimmclub (EOSC) startende) Schwimmwunder mittlerweile geworden, daß der Bundestrainer Horst Planert nach Klagen von Journalisten zwar bedenklich im eisgrauen Bart wühlt, aber, wie er sagt, sich »hüten« würde, seinem Star ein anderes Verhalten anzuempfehlen.
Nein, die Herren wissen genau, was sie an ihm haben, auch wenn er nicht nur schwimmt, sondern gelegentlich bockt. Auch wenn der Mannschaftsleiter Schwimmen, Jürgen Kozel, von der Bundeswehr-Sportschule in Warendorf mitunter bis »an den Rand seiner Selbstachtung« gehen muß, um mit ihm zurechtzukommen. Michael Groß ist und bleibt ihm dennoch ein »Geschenk«. Das will Kozel nicht vergessen, wenn ihm mal manches an seinem besten Mann mißfällt.
In Wahrheit, erfährt man in diesen Kreisen, sei Michael Groß ja auch gar nicht so, wie er sich gibt. »Der trägt nur Maske«, sagt sein Heimtrainer Hartmut
Oeleker, ein ebenso beleibter wie gemütlicher Hesse, der sich in seiner Rolle offenkundig nicht unwohl fühlt.
Oeleker dient seinem Star als Punchingball. »Sportlich«, gesteht er, »kann ich ihm nichts mehr beibringen.« Doch als Vertrauensperson ist er unersetzlich - sowohl für Groß, der bei ihm ablädt, als auch für die von Groß Verprellten, die ihm ihr Leid klagen. Nie wird der Trainer dann müde zu beteuern, »daß der Bub ganz anders ist«.
Wie? Nichts begehren die Groß-Fans und Groß-Forscher in diesen Tagen von Los Angeles mehr, als ihm einen Halbsatz, einen einzigen wenigstens ohne die Vokabeln »egal« und »normal«, über sein Gefühlsleben zu entlocken. Über seine Träume, Wünsche und Sehnsüchte möchten sie ihn sprechen hören. Aber nichts verweigert der Olympiasieger hartnäckiger als eben dies. Alles redet die Schwimm-Koryphäe zur Banalität herunter. Goldmedaillen zu gewinnen ist für ihn ein Vorgang, der »am darauffolgenden Sonntag schon wieder vergessen ist«.
Warum? Es mag sein, daß er so mit sich umgehen muß, daß er anders nicht hätte gewinnen können. Ein wesentlicher Teil seines psychischen Erfolgsgeheimnisses scheint in seiner unerhörten Kompensationsfähigkeit zu liegen. Ausgeblendet wird, was ihn stört - und selbst Wünsche stören nur.
Um alles zu gewinnen, hat sich Groß, obschon er sich seiner Favoritenrolle durchaus bewußt war, vor den Olympischen Spielen zu sagen geleistet, daß er mitnichten enttäuscht sei, wenn er nichts gewänne. Selbstverleugnung als Methode, um im Sport alle Rekorde zu brechen.
Aber das ist Spekulation. Sozusagen sportwissenschaftlich gesichert ist dagegen wenigstens das Rätsel Groß, soweit es sich auf die Anatomie bezieht. Körperlich ist der 2,02 Meter lange Frankfurter mit der außergewöhnlichen Reichweite seiner Arme, die ihm erlaubt, mit nur 17 Schlägen durch ein 50-Meter-Becken zu kraulen, allen Konkurrenten weltweit überlegen. Kein Muskel ist an diesem Körper zu schwach, aber auch keiner zu aufgeschwollen, um im Wasser zu bremsen.
Daß ihn die US-»Sports Illustrated« als Fisch beschreibt - als »amphibisches Wesen« -, hat Michael Groß gefallen. Schon als Kind, erinnern sich seine Eltern, die ihn zu jedem größeren Wettbewerb begleiten, habe er sich zu »allen Pfützen« hingezogen gefühlt.
Wasser ist sein Elixier, da scheint er zu leben, ist er »mit Hingabe« (Oeleker) er selbst. Nie hat ihn sein Trainer anfeuern müssen, im Gegenteil: »Ich mußte ihn eher bremsen.« Der Coach sieht ihn als »Perfektionist, der jeden Schritt plant und sich durch nichts irritieren läßt«.
Schon gar nicht von den Vorstellungen anderer. In den Tagen vor Olympia hat sich Groß-Deutschland in seinem verbalen Trümmerstil so rüde über die USA geäußert, daß es wie eine Kriegserklärung empfunden wurde. Weder halte er etwas von den Trainingsmethoden seiner Konkurrenten, die sich dem Prinzip »Make it or break it« unterwerfen, noch könne ihn der American Way of Life locken. Angebote kalifornischer Universitäten hat Groß abgelehnt.
Sicher hat auch das dazu beigetragen, daß sich - wie die »New York Times« vermeldet - die Olympischen Spiele in der ersten Phase »zu einem Zweikampf zwischen Groß und den Vereinigten Staaten« entwickelt haben.
Einer gegen den Rest der Welt? Das hat er gewiß nicht so gewollt. Aber Olympische Spiele, zumal in Hollywood-Nähe, haben ihre eigene Dynamik. Siege an sich bedeuten ihm nichts, sagt Groß. Nicht siegen sei wichtig, nur schwimmen: »Schwimmen ist für mich eine Art Schule fürs Leben.«
So ritualisiert olympisch das klingt, er meint das wirklich so. Offenbar fühlt er: Er hat noch keinen festen Boden unter den Füßen.
Geht Groß an Land, gerät er ins Schwimmen. Sichtlich leidet er unter seiner Größe. »1,99 1/2 Meter« sei er, keinen Strich mehr. Daß er längst darüber hinausgeraten ist, mag er nicht wahrhaben, aber die Mutter weiß es. Ihr Sohn hat sich, um so der Wirklichkeit zu entgehen, seit vier Jahren nicht mehr gemessen.
An Land überfällt ihn Mißtrauen. Den Abstand zu anderen, im Wasser gesichert, stellt er hier her, indem er, wo er geht und steht, auf kindlich übersteigerte Weise seinen Kampf gegen einen vermeintlichen Konformismus vom Zaun bricht. Er sieht sich umstellt und bedroht von Menschen, vor allem Erwachsenen, die ihn verändern wollen.
Er ist aber einmalig. Schroff weist er alle Parallelen von sich. Selbst mit dem bisher Größten des Schwimmsports möchte er nicht verglichen werden: »Ich bin nicht Mark Spitz, noch irgendwer sonst, ich bin ich.« Gerade, weil er außerhalb des Schwimmbeckens noch keine erkennbare Identität hat, muß er sich diese Identität zwanghaft beweisen.
Michael Groß, der just in Frankfurt sein Abitur hinter sich gebracht hat, wollte auch seinen künftigen Beruf nicht auf der Erde ansiedeln. Seinen Wunsch, _(Oben: nach dem Rennen über 200 Meter ) _(Freistil; ) _(Mitte: nach dem Rennen über 100 Meter ) _(Delphin mit dem Australier Buchanan ) _((l.). )
Pilot zu werden, mußte er wegen seiner Körperlänge begraben. Jetzt, nach einer Bundeswehrzeit, die ihm bevorsteht, setzt der wortkarge Athlet auf eine Journalisten-Karriere im privaten Fernsehen.
Bei allen Schrulligkeiten ist er kein Einzelgänger, obschon er oft so wirkt. Im Kreise seiner Freunde ist von harscher Art wenig zu spüren. Daheim beim EOSC, wie jetzt in Los Angeles, legt der Top-Star Wert darauf, als Gleicher unter Gleichen zu gelten.
Fürsorglich bringt er am Donnerstag letzter Woche seinem Team-Kollegen aus der 4x100-Meter-Freistil-Staffel ein Handtuch an die Treppe, als der nach einem Fehlstart noch einmal auf den Block zurück muß. Gemeinschaft hält der vermeintliche Eigenbrötler für unerläßlich. Der olympische Geist, schwört Groß, sei für ihn »das eigentliche Erlebnis«.
So gesehen, hat der Albatros, in Einzelrennen in Los Angeles die alles überragende Figur, eine Niederlage erlitten. Nichts hat er sich sehnlicher gewünscht, als die »Königsdisziplin«, die 4x200-Meter-Kraul, mit seiner Staffel zu gewinnen. Ein Sieg in diesem Wettbewerb wäre ihm sein »liebstes Gold« gewesen.
In einem Rennen, von dem Schwimmexperten im nachhinein schwärmen, sie hätten es so seit Jahren nicht mehr erlebt, wächst Groß über sich hinaus und kann dennoch den Gesamtsieg nicht sichern.
Zweieinhalb Meter holt er als Schlußmann gegen den führenden Amerikaner heraus, erreicht und überholt ihn zunächst auch und schlägt am Ende gleichwohl um 4/100 Sekunden später als sein Rivale an. Das Unglaubliche ist geschehen: Groß ist, so er selbst, »eingebrochen und am Ende ein bißchen gestorben«.
Gewiß gibt es ausreichend sportliche Gründe dafür, daß er nicht hat gewinnen können. Rein zeitlich ist er in 1:46,89 Minuten so schnell wie nie im Leben gewesen. »Ich bin drauflosgeschwommen, was soll''s«, sagt er lapidar. Aber seine Züge verraten, daß er sein Ungestüm jetzt nicht mehr versteht. Seine allzu rasche Aufholjagd, so atemberaubend wie taktisch verkehrt, hat ihn auf den letzten Metern zermürbt.
In seinem größten Rennen, trauert der Bundestrainer Manfred Thiesmann, habe sich der Olympiasieger »von Gefühlen hinreißen lassen«. Eine Art zu schwimmen, die Michael Groß fremd ist, sooft er zum eigenen Ruhm ins Wasser hechtet.
Er wollte gewinnen - mit anderen, für alle, »denn da hätten alle etwas davon gehabt«. Das mißlang ihm am Donnerstag erneut. Mit der 4x100-Meter-Freistil-Staffel wurde er gar nur Vierter, möglicherweise ein Schock mit Langzeitwirkung. Über 200 Meter Delphin, seine Paradedisziplin, langte es nur noch zu Silber.
Oben: nach dem Rennen über 200 Meter Freistil;Mitte: nach dem Rennen über 100 Meter Delphin mit dem AustralierBuchanan (l.).