IOC Der deutsche Ring
In der Nacht, als die Welt erfährt, dass Marion Jones' Ehemann gedopt war, befinden sich die drei deutschen IOC-Mitglieder an Bord der »MS Deutschland« und sehen einem dicken, gepuderten Aborigine zu, der ein Känguru imitiert.
Walther Tröger sitzt ganz vorn neben seiner Frau Almuth. Dr. Thomas Bach und Burghard Graf Vitzthum von Eckstädt, der bei DaimlerChrysler die Abteilung Alternative Kommunikation leitet, tauschen weiter hinten ihre australischen Handynummern aus. Dr. Roland Baar steht neben dem ehemaligen Zehnkämpfer Christian Schenk an der Bar. Er hat später noch den Empfang des Deutschen Ruderverbands durchzustehen, dies hier ist erst mal der Empfang des deutschen Botschafters in Australien.
Der Saal ist voll. Der dicke Aborigine holt drei weitere bemalte Ureinwohner auf die Bühne. Sie tanzen den Steintanz. Dann kommt der Bumerangtanz. Und dann der Dingotanz. Es ist bestimmt nicht die erste Aborigine-Vorstellung, die die drei IOC-Mitglieder in diesem Jahr erleben.
Aber was sollen sie denn sonst machen? Draußen fängt es jetzt auch noch an zu regnen. Sie bleiben an Bord. Sie können gar nicht weg.
Auf der Eröffnungspressekonferenz der Olympischen Spiele fragte eine »Washington Post«-Reporterin Juan Antonio Samaranch, was er tun wolle, um den Ruf des IOC zu retten.
»Ich weiß gar nicht, was Sie meinen«, sagte Samaranch. »Die IOC-Session war ein großer Erfolg. Die Olympischen Spiele werden ein großer Erfolg werden. Ich bin sehr zufrieden. Ich verstehe Ihre Frage nicht.«
Als die Reporterin ihre Frage erklären wollte, rief Kevan Gosper vom Präsidium: »Jeder darf nur eine Frage stellen, bitte.«
Samaranch hatte gehofft, dass der Druck nachlassen würde. Aber die australische Presse war mit den Reformen nicht zufrieden, es gab neue Korruptionsvorwürfe, es war nicht vorbei. Samaranch rettete sich in die Spiele, in die Eröffnungsveranstaltung, in den Sport. Das Motto war: Wir schließen die Augen. Wir sind gar nicht da. Alles wird gut.
Es gab den Plan, das IOC-Hotel während der Olympia-Tage für die Öffentlichkeit zu sperren. Aber die aufmüpfigen Journalisten protestierten, und so musste es offen bleiben. Alles war offen. Als Samaranch zu seiner kranken Frau flog, dachten viele, er fliehe. Aber dann starb seine Frau, und er lebte weiter. Er kehrte zurück, die Spiele liefen, das IOC war vor Ort.
Vorm Hintereingang des IOC-Hotels warten die beiden Mitarbeiter, die Walther Tröger bei seinem olympischen Einsatz begleiten. Herr König ist der persönliche Assistent, Herr Herzog ist der Fahrer.
»Herr Herzog ist Österreicher«, sagt Walther Tröger, kurz nachdem der Wagen rollt. »Schweizer«, sagt Herr Herzog. »Fahren Sie den Jogger nicht um, Herr Herzog«, sagt Tröger, und dann: »Ich habe ja lange Erfahrungen mit dem Linksverkehr. Ich bin in Kenia komplette Safaris gefahren. Und auch Japan kenne ich, England und Israel.«
Hat Israel Linksverkehr?
»Zu meiner Zeit schon«, sagt Tröger. Er war vor 20 Jahren das letzte Mal da, damals muss seine Uhr stehen geblieben sein.
Walther Tröger rattert seine Funktionen herunter, es sind verwirrend viele. In einer von ihnen hat er den Willi-Daume-Platz in München eingeweiht, in einer anderen organisierte er einen Fackellauf auf der Expo in Hannover. Im IOC ist er Vorsitzender der Kommission »Sport für alle«. Er versucht den Eindruck zu zerstreuen, er habe nichts mehr zu sagen. Seine wenigen grauen Haare stehen fürwitzig in die Höhe, er trägt eine derbe graue Weste, als fahre er auf die Jagd. Aber es geht nur ins Deutsche Haus, einen Bungalow am Rande des Olympiaparks.
»Ich hoffe, wir kommen schnell durch, ich muss noch arbeiten.«
Was denn?
»Die Post«, sagt Tröger. »Ich lasse mir die Post aus Deutschland nachschicken. Damit sich das nicht so ansammelt. Und ich habe auch meine Akten mit.«
In den Pressezentren wird die Nachricht verbreitet, dass der amerikanische Kugelstoßer C. J. Hunter bei einer Dopingkontrolle in Oslo aufgefallen ist. Das IOC sieht in der Sache nicht gut aus. Hunter wurde für Sydney akkreditiert, obwohl die positiven A- und B-Proben schon vorlagen. Wollten sie ungestörte Spiele? Den Star Marion Jones nicht beschädigen?
Ein IOC-Mann aus Norwegen hat das Schweigen gebrochen. Es gibt erste Pressekonferenzen. Tröger weiß es nicht oder hat keine Lust, darüber zu reden. Er studiert seinen Terminplan.
»Wo ist Grosvenor Place, Herr König?«, fragt er.
»Das ist hundert Meter von Ihrem Hotel entfernt.«
»Gut. Da habe ich morgen einen Termin. Sehr früh. 8.30 Uhr. Ein Breakfast Briefing. Da kommt möglicherweise das schwedische Königspaar. Da wollten sie mich gerne dabeihaben.«
Und worum geht es?
»Das steht hier nicht«, sagt Tröger, »aber ich bleibe auch nicht lang. Wenn das Königspaar nicht da ist, geh ich gleich wieder.«
Tröger erzählt Anekdoten aus den sechziger und siebziger Jahren, als weder Dr. Bach noch Beachvolleyball olympisch waren. Weder von dem einen noch von dem anderen hält Tröger allzu viel. Bach ist für ihn »ein typischer Fechter, der fintiert und dann zusticht, wenn niemand damit rechnet«. Und beim Beachvolleyball stimme das System nicht. »Da passiert nichts, außer Aufschlägen.«
Zwölf Uhr mittags rollt der Wagen vors Deutsche Haus, Tröger erinnert Herrn Herzog daran, Punkt 14.30 Uhr seine Frau Almuth vorm Hotel abzuholen, sie wollen noch zum Volleyball.
Im Vorraum zu seinem Büro warten weitere Mitarbeiter. Herr Arnold und Frau Jacobus. »Wie sieht's aus, Herr Arnold?«, ruft Tröger. Arnold hat einen Plan vor sich ausgebreitet, auf dem er mit Leuchtstift die Ergebnisse der deutschen Sportler markiert hat. Er weiß sogar den Satzstand von Tommy Haas, der gerade Tennis spielt. Er umreißt die Medaillenchancen für den Tag.
»Gemischt«, sagt Tröger. »Gemischt wie immer.« Die Kollegen nicken. Was kommt jetzt? Tröger verharrt einen Augenblick, selbst seine Frisur scheint die Orientierung verloren zu haben. Er hat nichts mehr zu tun, aber noch viel guten Willen. Walther Tröger räuspert sich und geht ins Büro, um noch ein bisschen was zu arbeiten vorm Volleyball.
In der Nacht übergibt Roland Baar seine letzten Medaillen. Er hat sich das Diskuswerfen ausgesucht, weil dort Lars Riedel mitmacht und Lars Riedels Sohn am selben Tag Geburtstag hat wie seiner.
Baar sitzt mit seiner Frau auf der Tribüne. Gerade ist Cathy Freeman Olympiasiegerin geworden. Baar sagt, »dass es manchmal wehtut, nicht mehr dabei zu sein«. Baar ist seit neun Monaten IOC-Mitglied. Er ist einer der gewählten Athletenvertreter im Komitee. Er ist so was wie eine lebende Reform. Er will die Nähe zu den Athleten nicht verlieren. Er nimmt Urlaub für die Tagungen, er will es höchstens ein paar Jahre machen, mindestens vier, am Donnerstag wurde er wieder gewählt. Er ist am Ende der Spiele zurück an seinem Arbeitsplatz bei VW in Wolfsburg.
Das IOC greift nach ihm.
»Ich habe hier einen Fahrer und auch einen Assistenten, und ich merke schon wieder, wie ich mich verteidige, aber ich habe die wirklich gebraucht.« Es ist nicht das Geld oder die Macht, auch Walther Tröger ist da unbestechlich. Es ist das Spiel. Er ist kein Sportler mehr. Er sitzt hier oben. Roland Baar ist Niedersachse und Ruderer. Er ist groß, blond und ruhig. So sind auch die Gespräche mit ihm.
»Es wird lange dauern, das IOC zu reformieren. Die Strukturen sind verkrustet. Es liegt an den Personen. Es ist ein Prozess in Gang gekommen. Wir Athleten haben an Einfluss gewonnen«, sagt er, und er weiß, dass er das immer sagt. Wenn man ihn fragt, wie er Dr. Bach findet, überlegt er einen Moment, sein Blick wird leer. Dann sagt er: »Gut.«
Baar geht runter auf den Rasen. Er trägt einen schwarzen Anzug, und auf der großen Anzeigetafel leuchten sein Name und seine olympischen Erfolge. Er hat in Barcelona und Atlanta Bronze und Silber mit dem deutschen Achter geholt.
Bei Cathy Freemans Siegerehrung singt das Stadion die australische Nationalhymne. Es stimmt alles, es ist der schönste Abend der Olympischen Spiele, aber Baar muss ihn vorzeitig abbrechen. Als der 10 000-Meter-Lauf beginnt, verlässt er das Stadion' »weil der Dr. Digel 'ne Mitfahrgelegenheit ins Deutsche Haus braucht«.
Die IOC-Leute, die jeden Tag durchs »Regent«-Hotel laufen, sehen aus wie Komparsen in einem der alten Cary-Grant-Filme, die in Europa spielen. David Niven würde gut ins »Regent« passen. Dazwischen wandeln Menschen mit Fellmützen und schlecht sitzenden Anzügen, aber auch Ion Tiriac, der rumänische NOK-Präsident, der Stabhochspringer Sergej Bubka und der Schwimmer Alexander Popow.
Dr. Bach berät noch in einer Sitzung der IOC-Exekutive über die rumänische Turn-Olympiasiegerin Andrea Raducan, die durch die Dopingprobe fiel. Er hat Bernd Schiphorst geschickt. Schiphorst ist Präsident von Hertha BSC Berlin und war mal ein hohes Tier bei Bertelsmann. Er sei ein alter Freund von Bach, sagt er. Er berät ihn ein bisschen in Mediendingen, ist aber hier privat.
Es mischt sich alles. Schiphorst trägt zwar keine Strümpfe an diesem Morgen, aber am Ende bittet er darum, dass Bachs Zitate mit ihm abgestimmt werden. Er ist eine Art Pressesprecher auf Urlaub, aber mit Einfluss. Privates und Berufliches sind schwer zu trennen. Das IOC lebt davon, auch weil die Frauen oft dabei sind. Schiphorst erzählt aus seinem Leben und hält dabei Ausschau nach Bach. Offenbar ist auch er sich nicht sicher, ob er ihn fasst. Bach muss immer irgendwo hin. Er wird immer irgendwo erwartet. Manche Journalisten sagen, er laufe vor ihnen weg.
Auf jeden Fall flüchtet er vor Fragen.
Seine Antwort auf die Frage, was er als Vizepräsident machen werde, war: »Lassen Sie mich erst mal feiern.«
Seine Antwort auf das Abschneiden der deutschen Mannschaft ist: »Lassen Sie uns erst mal das Ende der Spiele abwarten.«
Seine Antwort auf die positive Dopingprobe von C. J. Hunter ist: »Jetzt müssen die Amerikaner mal vor der eigenen Haustür kehren, nachdem sie lange Jahre immer auf andere gezeigt haben. Aber der Fall hat ja nichts mit den Spielen zu tun. Er liegt vor den Spielen.«
Er hat scheinbar Zeit, er ist scheinbar offen, und jetzt, als er aus der Sitzung kommt, ist er auch nur scheinbar da. Das Erste, was er sagt, ist, dass er gleich zum Tennis muss.
Er erzählt von der Sitzung, zwischendurch ruft er »Alain« und »Victor« und noch ein paar andere Namen der Familienmitglieder, die seinen Tisch passieren. Sie haben der rumänischen Turnerin Raducan die Goldmedaille im Mehrkampf weggenommen, aber sie haben ihr zwei andere Medaillen gelassen, bei denen sie nicht unter Einfluss des verbotenen Medikaments stand. »Es ist ein 16-jähriges Mädchen, das von seinem Arzt dieses Erkältungsmittel bekommen hat. Wir haben den Arzt gesperrt. Aber das Mädchen wirkte doch sehr infantil, wir wollten sie nicht über die Maßen hart bestrafen«, sagt Bach.
Wie ist denn seine Position?
»Wir folgen in der Regel den Empfehlungen unserer medizinischen Kommission.«
Was fällt ihm zu den Zeiten von Florence Griffith Joyner ein?
»Da bin ich zu sehr Jurist«, sagt Bach.
Er ist auch Liberaldemokrat und Fechter und Schwabe. Er hat eine Karriere im Schatten starker Männer gemacht: Emil Beck, Willi Daume, Juan Antonio Samaranch. Er ist Olympiasieger in der Mannschaft geworden. Er hat immer Deckung gehabt. Er sagt, dass er 1988 als Aktivensprecher zurücktreten musste, weil ihn Samaranch sonst wieder überredet hätte, weiterzumachen.
Als er Aktivensprecher wurde, fragte man ihn, wofür er zuständig sein wolle. »Das war schwierig«, sagt Bach. »Denn mit jeder Definition von Zuständigkeit schränkt man seine Zuständigkeit ein.« Dies könnte als Motto über seinem Leben stehen. Man weiß nicht, wer er war, aber er hatte immer Einfluss.
Worüber hat eigentlich Burghard Graf Vitzthum von Eckstädt gerade mit ihm gesprochen?
»Darüber sage ich nichts«, sagt der DaimlerChrysler-Mann. »Aber ich kenne den Herrn Dr. Bach schon seit Jahren.«
Alles an Dr. Thomas Bach ist unscharf.
»Als Fechter müssen Sie sich immer mit dem Gegner beschäftigen. Sie können nicht einfach das durchziehen, was Sie sich vorgenommen haben. Sei müssen immer über den anderen nachdenken. Den Gegner. Das unterscheidet uns von Ruderern und Läufern«, sagt Bach.
Bis jetzt hat er noch Gegner zu schlagen, aber worüber denkt er nach, wenn er ganz oben angekommen ist? Womöglich verliert sein Leben dort seinen Sinn, und er löst er sich völlig auf.
Wenn man ihn fragt, warum er das alles macht, starrt er unsicher.
»Es hat nie irgendwo ein Fakt gegen mich gegeben«, sagte er kürzlich. Als er sich in Sydney für seine Wahl bedankte, sagte er: »Ich verspreche, auch die Leute, die heute nicht in der Lage waren, für mich zu stimmen, zu überzeugen.« Es klang wie eine Drohung. Am meisten bewundert Bach an Samaranch, »dass er immer nach vorn schaut«. Er wird Samaranch in dem Moment vergessen, in dem der zurücktritt. Im nächsten Jahr wird ein neuer Präsident gewählt. Bis dahin müssen sie noch überleben. Es herrscht eine Stimmung wie im Politbüro der KPdSU unter Konstantin Tschernenko oder im dritten Teil des »Paten«.
Vor ein paar Tagen wurde Samaranch gefragt, wer denn sein Nachfolger wird.
»Es gibt fünf Kandidaten«, sagte Samaranch. »Aber noch bin ich ja da. Ich werde noch die Reformen abschließen und Veränderungen durchsetzen.«
Das hätte auch Walter Ulbricht sagen können oder Don Corleone. Das IOC dümpelt im Halbschlaf. Solche Charaktere wie Baar, Tröger und Bach halten es am Leben. Die Ahnungslosen, die Loyalen, die Verschwiegenen. Sie repräsentieren die Werte der Familie und der Diktatur. Sie gehen nicht von Bord.
Sie sind alles, was dieses Komitee noch zusammenhält.