FUSSBALL-NATIONALMANNSCHAFT Der Filou und die Hoffnung
Einmal noch. Dieses eine Mal, bevor es ernst werden würde, bevor die anstrengenden Fragen kommen oder womöglich mal wieder der Jähzorn in ihm hochsteigen wird, ein letztes Mal gab sich Rudi Völler am vergangenen Donnerstag fast feierlich seiner Passion hin.
Gerade hatte der Teamchef den ihm anvertrauten Angreifern der Nation Nachhilfeunterricht in der korrekten Schusshaltung erteilt, da rannte er - beim zweiten Training im deutschen Lager in Vale do Garrão - selbst los. Den Ball am Fuß, die Ellbogen ausgefahren und leicht den Kopf eingezogen - ganz der alte »Ruuudi« auf der Jagd nach seinen geliebten »Törchen«.
Eins gegen eins, wie die Fußballer sagen: Mann gegen Mann, der Stürmer allein gegen den Torwart, so mag er es am liebsten. »Da kribbelt''s in den Beinen«, wenn er die Bemühungen von Kevin Kurányi und dessen Kameraden sieht, jetzt ist er selbst an der Reihe, er gegen Ersatztorwart Jens Lehmann. Völler, 44, täuscht einen Haken nach rechts an, fährt mit der Sohle - beim »Übersteiger« - listig über die Kugel, ohne sie wirklich zu berühren, will stattdessen links vorbei. Bleibt aber hängen und stürzt auf den Rasenteppich. Lehmann ist Sieger, der Ball rollt ins Aus.
Der Spaß ist vorbei. Völler, silbergrau geworden, ist kein Angreifer mehr, er muss in Portugal verteidigen: sich, sein Amt, die Mannschaft. Als Trainer musste er die Nationalelf in den ersten Tagen vor dem Argwohn beschützen, der die Delegation seit der Abreise an die Algarve umflorte. Denn das Urvertrauen in die notorische Steigerungsfähigkeit deutscher Fußballer im Ernstfall war plötzlich verloren gegangen.
Ernüchternde Darbietungen der letzten Zeit etwa beim 1:5 gegen Rumänien oder beim 0:2 gegen Ungarn ließen selbst die Erinnerungen an den Einzug ins letzte WM-Finale verblassen. »Es schwankt immer wieder«, sagt Völlers labiler Abwehrchef Jens Nowotny zum Leistungsstand der ganzen Mannschaft. Sie wollen in Portugal »nicht sang- und klanglos untergehen«, formulierte Torwarttrainer Sepp Maier bescheiden.
Und der Teamchef - angeblich »felsenfest überzeugt«, dass sich die deutsche Elf nicht blamieren wird - war mit Begründungen für die Zuversicht sparsam. Denn manchmal ist es für ihn wie bei der Nominierung der Spieler: »Es gibt Fälle, wo es schwierig ist, es so zu erklären, dass es logisch rüberkommt.«
Logisch. Es gibt ja zwei Rudi Völler. Den einen, der im Affekt selbst im Fernsehen »Scheißdreck« ruft, vor der Trainerbank gegen Werbebanden tritt und zum Zeichen der bevorstehenden Eruption diese Zornesfalten auf der Nase bekommt, wenn Kurányi das Tor nicht wie im Training trifft. Oder der verächtlich den Kopf in den Nacken wirft und mit den Augen rollt, wenn Angreifer Miroslav Klose eine Chance verschenkt.
Und dann gibt es den charmanten dauergewellten Rudi, der in einem Gassenhauer ("Es gibt nur ein'' Rudi Völler") besungen wird. Der, wenn er Kloses vermasselte Szene noch mal auf dem Monitor sieht, vor der TV-Kamera milde den Kopf wiegt und sagt: »Kann passieren«. Und der, ganz die fürsorgliche »Tante Käthe«, nach den Kapriolen seiner Schützlinge erst »eine Teilschuld« und Minuten später sogar »die Hauptschuld« am Debakel auf sich lädt. Dann können die Spieler ja nicht mehr so viel falsch gemacht haben.
Jetzt will er den Seinen »ohne Hektik« trotz diverser Rückfälle ins Peinliche ein Gefühl der Sicherheit geben. Wenn er »nicht dramatisieren«, wahlweise auch »kein Drama draus machen« will, hat der Hanauer Filou, der schon zu aktiver Zeit
als Schlitzohr galt, in Wahrheit zur gezielten Beschwichtigung keine Alternative. Er muss die Lage frisieren, denn bei Verlust der letzten Reste an Selbstvertrauen bliebe Völlers Riege außer Fitness, Disziplin und Willen nur wenig.
Nicht mal die Taktik ist klar. Um zu verhindern, dass der eigene Abwehrriegel mit schlichten Pässen ausgehebelt werde, müssten die Verteidiger »tiefer stehen«, schlug Nowotny vor dem Start gegen die Niederlande an diesem Dienstag in Porto vor. Doch sobald sich die Abwehr derart ängstlich zurückziehe, klafften »große Löcher in der Mannschaft«, hielt der Stratege Dietmar Hamann dagegen.
Mit technischem Talent ist die neulich als »größte Wurst-Truppe aller Zeiten« ("Bild") verhöhnte Auswahl auch nicht gesegnet. Als sich im Vorbereitungscamp im Elztal sechs Akteure einmal zum so genannten Fußballtennis trafen, einer Übung, bei der es auf das Ballgefühl ankommt, da erkannten die Zaungäste in beiden Kleinteams kein großes Gefälle. Dabei spielten auch Zeugwart Thomas Mai und der Assistenzcoach Erich Rutemöller, einst Verteidiger beim SSV Köttingen, mit.
Die Ansprüche der Öffentlichkeit sind zu allem Überfluss nicht kleiner geworden. Nach der Bekanntgabe des vorläufigen Por-
tugal-Kaders titelte »Bild« schon wieder: »Diese 22 sollen die EM gewinnen«, als könnte dies der Auftrag sein. Andererseits ist nach den verkorksten Tests der vom Teamchef ersehnte »gesunde Optimismus in der Bevölkerung« wieder perdu, das »bisschen Ruhe« im Umfeld nicht zu erwarten. Als Törchenjäger war vieles leichter.
Erstmals in Völlers Amtszeit droht die Nationalmannschaft obendrein mit der Trainerfrage behelligt zu werden. Seitdem Ottmar Hitzfeld bei Bayern München seinen Job verlor, parkt eine denkbare Alternative auf dem Markt. »Bundestrainer«, wurde der Erfolgscoach zu seinen Karriereplänen zitiert, »wäre die logische Folge.« Hitzfeld rief zwar eilig den amtierenden Übungsleiter der Nation im Schwarzwald an, um klarzustellen: Er spekuliere nicht auf dessen Posten.
Aber die Nachfolgedebatte ist damit vorzeitig ausgelöst. Schon sieht das Fachblatt »Kicker« den Teamchef trotz der Vizeweltmeisterschaft 2002 in Asien »erneut auf dem Prüfstand«. Wird Deutschland für sein WM-Turnier 2006 am Ende doch eher einen Staatsmann auf der Trainerbank brauchen? Und mit dem überraschenden Rückzug seines Mentors und früheren Vorgesetzten Reiner Calmund bei Bayer Leverkusen ist für Völler sogar eine Auffanglösung für den Fall des Scheiterns in Portugal präpariert: Der Bundesliga-Club sucht einen versierten Sportchef.
Es ist also, als sei Fußballdeutschland bereits auf ein schnelles Revirement vorbereitet. Völler, bis 2006 beim Deutschen Fußball-Bund unter Vertrag, kann glaubhaft versichern, dass ihn das alles »nicht in tiefe Depressionen versetzt": Ein Hitzfeld im Nacken »kann mich nicht erschüttern, ich nehme das gelassen«, sagt er in entspannter Haltung und bestellt ungerührt noch einen Espresso ("mit so ''n bisschen normaler Milch, geht das?").
Der Mannschaft jedoch hat das Auftauchen eines Ersatzkandidaten eine moralische Last aufgebürdet. Mit einem EM-Versagen würde sie den Darling der Fans opfern, der - einst als Zwischenlösung engagiert - »trotz einiger Rückschläge Geschmack« an der Aufgabe gefunden hat. Das würde das Publikum den Spielern so schnell nicht verzeihen.
Völler ist nämlich immer noch Kult: Dank seines Outfits mit Schnauzbart und Frisur des Achtziger-Jahre-Fußballs erfüllt er das »In«-Kriterium, hinreichend »retro« zu sein. Und ähnlich wie beim Eurovisions-Barden Max Mutzke, einem Helden für wenigstens einen Tag, lässt sich um sein Schaffen auf den Marktplätzen der Republik ein Event mit Übertragungsleinwand inszenieren. Völler ist authentisch, sagt öffentlich »Scheiße«, und seit der EM 1988, als er - von Kritikern abgeschrieben - sich unter den Anfeuerungsrufen der Zuschauer ins Turnier hineinkämpfte, besitzt er die Aura des Schützenswerten. Vor allem die
Spieler wissen, was sie an ihm haben.
Völler, mehr Freund der Profis als ihr strenger Ausbilder, hat die in Lob gekleidete Ermahnung kultiviert: »Schön, Fredi, komm zurück«, rief er dem Torjäger Bobic beim 7:0 gegen Malta zu. Gemeint war: Wenn du schon vorn die klarsten Chancen versemmelst, kannst du wenigstens hinten ein bisschen helfen.
Dem Sturmtalent Kurányi eröffnete Völler, jener kenne sein eigenes Potenzial noch nicht, etwa die »enorme Schnelligkeit«. Wenn er sie häufiger einsetze, sei sie doch »eine Waffe«. Er hätte Kurányi auch gleich Faulheit vorwerfen können.
Mangels Trainerausbildung schöpft der Teamchef aus den Erfahrungen des häuslichen Lebens. Es sei »wie in der Familie«, sagt er, wenn es etwa um seine Fähigkeit zur Strenge geht: »Da muss man ja auch manchmal ein paar direkte Worte sprechen.« Nur ist es in der Familie Völler so, dass der Familienvater gern der Ehefrau Sabrina die Verantwortung überträgt, etwa dass »sie den Hausarrest ausspricht«.
Respekt erlangt »Liebling Völler« ("Express") nicht durch Distanz, sondern durch Nähe. Neulingen wie Lukas Podolski und Bastian Schweinsteiger erklärte er zur Begrüßung: »Ihr könnt mich nachts um drei wecken, wenn ihr nicht schlafen könnt. Dann komm ich runter, und wir spielen Karten oder gucken einen Film.« Selbst Wildfremden verpasst er schon mal einen freundschaftlichen Knuff auf den Arm, als gehörten sie zu seiner Mannschaft.
Gern und zu Recht vermittelt der einstige Italien- und Frankreich-Legionär den Eindruck, alle Sonnen- und Schattenseiten des Fußballgeschäfts aus der Nähe zu kennen. So riet er Klose davon ab, ins Ausland zu wechseln, wo er bestimmt hinzugelernt, aber angesichts stärkerer Konkurrenz auch ein Dasein auf der Ersatzbank riskiert hätte. Der Vorgang zeigt: So draufgängerisch der Stürmer Völler war, so vorsichtig und konservativ denkt der Trainer Völler.
Dass er in seinem typischen Singsang manchmal etwas kryptisch formuliert, weiß der Autodidakt natürlich selbst. »Ich verstehe Ihre Frage, aber ich verstehe auch meine Antwort«, ließ er einen verblüfften Reporter vorige Woche wissen. Oft redet er, als führte er einen kontroverses Gespräch mit sich selbst. Diese eigentümliche Dialektik des ständigen »Andererseits« mündet selten in eine Synthese, meistens in Nebelschwaden.
Doch wenn er scheinbar geheimnisvoll sagt, »der eine oder andere« müsse erst noch im Training »etwas anbieten«, bevor er sich eines Stammplatzes sicher sein könne, dann ist Insidern klar: Der mitunter vorlaute Torsten Frings darf sich angesprochen fühlen. Den Dortmunder Profi disziplinierte Völler kurz vor der EM mit der Zuteilung des Verteidiger-Postens. Auf diese Weise bestrafte einst Bundestrainer Berti Vogts den Problemschüler Stefan Effenberg.
Von Vogts lernte Völler, wie man durch die Nominierung von Integrationsfiguren den Teamgeist stärkt. Wenn dann Kritiker nach der Berufung des Altstars Christian Ziege nörgeln, dann stört ihn das nicht. Eher beschleicht ihn das Überlegenheitsgefühl des Experten: »Ich genieße es manchmal, Dinge zu tun, die nicht alle für richtig halten.«
Nur wirkt er dann nicht so herablassend wie sein Lehrmeister Otto Rehhagel, von dem er diese Nonchalance in Taktik-Fragen hat. Wenn Völler von seiner Hoffnung spricht, sein Team könnte die starken Gegner bei der EM überraschen, dann meint er nicht jene Winkelzüge, die moderne Tüftler-Trainer bei öden Manövern einstudieren lassen. Es ist mehr das Vertrauen in die Intuition, etwa in das Genie eines Bernd Schneider. »Bei dem hoffst du: Da kommt noch mal was extra, was nicht unbedingt vorher besprochen wurde.«
Oft spricht der Teamchef, in Herbergerscher Prägnanz, fatalistisch über die Unvorhersehbarkeit des Fußballspiels: »Es werden immer wieder Dinge passieren, die nicht in der Hausordnung stehen.« Und oft ist er selbst am meisten überrascht.
Nach Völlers Beobachtungen führen zuweilen nicht mühsam erlernte »Traumspielzüge« zum Erfolg, sondern die Ausdauer und die Zähigkeit, mit der »man den Gegner unter Druck setzt« und zu Fehlern verleitet. Schön ist diese Spielart nicht. Sie ist auf Gottvertrauen aufgebaut und auf fremde Hilfe angewiesen.
Rudi Völler ist für jede Unterstützung dankbar. Im Schwarzwald-Camp in Winden besuchten ihn 38 krebskranke Kinder aus der Reha-Klinik Katharinenhöhe in Schönwald. Sie drehten das Autogramm-Ritual um und überreichten ihm ein Trikot mit ihren eigenen Unterschriften. Dann gaben sie ihm ein gebasteltes Buch mit rotem Pappdeckel und Schleife. Darin stehen ihre Wünsche, für sich und die Nationalelf.
Völler hat es mitgenommen nach Portugal. Es soll Glück bringen. JÖRG KRAMER
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UMFRAGE: Rücktritt bei Niederlage Sollte Rudi Völler als Teamchef zurücktreten, wenn die deutsche Fußball-Nationalelf bei der Europameisterschaft in der Vorrunde ausscheidet, oder sollte er dennoch weiter im Amt bleiben?
* Fredi Bobic, Miroslav Klose, Thomas Brdaric, Torsten Frings,Lukas Podolski, Kevin Kurányi in Vale do Garrão am vergangenenDonnerstag.